15.12.2000

In Mexiko kommt der Aufbruch von rechts

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In Mexiko kommt der Aufbruch von rechts

Von CARLOS MONSIVAIS *

ZUM ersten Mal seit 71 Jahren hat die mexikanische Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) am 2. Juli 2000 die Präsidentschaftswahl verloren. Anfang Dezember hat der strahlende Sieger Vicente Fox von der Partei der Nationalen Aktion (PAN) sein Amt angetreten. Nun steht der rechtsgerichtete Politiker vor immensen und komplexen Herausforderungen: Das Land, das er regieren soll, ist fünfeinhalbmal so groß wie die Bundesrepublik, es hat etwa 100 Millionen Einwohner und stellt sich heutzutage dar als ein Sumpf von sozialer Ungleichheit, Korruption und Gewalt.

Eigentlich müsste Vicente Fox ein Denkmal für den Überdruss spendieren. Denn die Tatsache, dass Fox Anfang Juni 2000 zum neuen Präsidenten Mexikos gewählt wurde, verdankt er in erster Linie dem Überdruß am alten Regime. Die Mexikaner hatten die Nase voll von der PRI und ihrem 71 Jahre währenden Machtmissbrauch, von Korruption und Repression, und vor allem von der systematischen Straflosigkeit, die den politischen Alltag beherrschte. Der Sieg des Vicente Fox ist also hauptsächlich ein Resultat des Misskredits, in den seine beiden Vorgänger Carlos Salinas de Gortari und Ernesto Zedillo bei der Bevölkerung geraten waren.

Dabei hatte der selbst ernannte Modernisierer Carlos Salinas Anfang der Neunzigerjahre durchaus einige Regierungen in aller Welt für sich eingenommen. Doch dann kam das Debakel von 1994. Seine Ursachen waren zum einen der Aufstand der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (die den Präsidenten in Anspielung auf den Wahlbetrug, durch den er an die Macht gekommen war, zum „Usurpator“ ernannte). Hinzu kam, dass Salinas Korruption im großen Stil praktizierte und in mehrere Mordfälle verwickelt war. So wird ihm etwa die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten der PRI, Luis Donaldo Colosio, persönlich zur Last gelegt. Und sein Bruder Raúl wurde verhaftet und zu fünfzig Jahren Gefängnis verurteilt, weil er den Mord an PRI-Generalsekretär José Francisco Ruiz Massieu, dem ehemaligen Schwager von Salinas, in Auftrag gegeben haben soll. Zudem konnten sich im Laufe von Salinas Amtszeit eine Handvoll Kapitalisten hemmungslos bereichern.

Sein Nachfolger, Präsident Zedillo, hatte lange nicht Salinas’ Format. Er vermochte weder ausländische Regierungen für sich einzunehmen noch die Massen zu begeistern. Hingegen sorgte er dafür, dass die Bank Fobaproa auf höchst dubiose Weise vor dem Konkurs gerettet wurde – was den mexikanischen Staat insgesamt über 100 Milliarden Dollar kostete. Ansonsten gefiel sich Zedillo in der Rolle eines Vorbeters neoliberaler Wirtschaftsprinzipien, den die Entbehrungen der Unterschichten und der Niedergang der mexikanischen Mittelschicht völlig ungerührt ließen. All dies führte am Ende zu jenem Überdruss, gegen den auch der diesjährige PRI-Kandidat Francisco Labastida keine Chance mehr hatte.

Der uncharismatische, blasse Bürokrat hatte anfangs noch als sicherer Gewinner gegolten, doch schon nach wenigen Wochen hieß es fatalistisch: „Labastidas Wahlkampf zieht nicht.“ Da besann sich die PRI auf die Überreste ihrer einst unschlagbaren Massenorganisationen: die Mexikanische Arbeiterkonföderation CTM, die Bauerngewerkschaft CNC, die Nationale Konföderation der Volksorganisationen CNOP. Sie alle bildeten die bewährte Maschinerie, die bei früheren Wahlen die entscheidenden Stimmen zusammengebracht und notfalls auch einen Wahlbetrug organisiert hatte. Doch diesmal gab es neben dem Überdruss der Bevölkerung einen weiteren Faktor, der sich gegen die PRI auswirkte: Mit der Gründung des Bundeswahlinstituts IFE erlangten die Menschen den Glauben zurück, dass ein Sieg der Opposition auch wirklich anerkannt würde.

Im Jahr 1987 war Cuauhtémoc Cárdenas, der Sohn des für seinen revolutionären Nationalismus gefeierten Helden Lázaro Cárdenas, aus der PRI ausgetreten, nachdem er sich innerhalb der Partei nicht als Präsidentschaftskandidat hatte durchsetzen können. Damit begann ein sehr ungleicher politischer Kampf. Dennoch gelang es Cárdenas, binnen weniger Monate die Linke im ganzen Lande zu mobilisieren, und aller Wahrscheinlichkeit nach hat er auch die Wahlen von 1988 gewonnen. Dieser mutmaßliche Wahlsieg wurde allerdings nicht anerkannt. Nach diesem Rückschlag gründete er die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die jedoch ihr politisches Kapital schnell verspielte, immer bürokratischer wurde und tatenlos hinnahm, dass über 400 ihrer Aktivisten von PRI-Mitgliedern ermordet wurden. Die meisten dieser Verbrechen sind bis heute ungesühnt.

Die PRD spaltete sich an Grundsatzfragen und konnte nicht verhindern, dass sich ein beträchtlicher Teil ihrer Parteikader von der Regierung korrumpieren ließ. Auch entwickelte sie weder einen überzeugenden politisch-sozialen Diskurs noch ein konkretes Regierungskonzept. Andererseits vermochte sie die Regierungspolitik stichhaltig zu kritisieren und konnte sich sowohl auf engagierte Aktivisten der Linken und linken Mitte stützen als auch auf die Sympathien weiter Teile der Bevölkerung. 1994 kandidierte Cárdenas dann erneut für die Präsidentschaft. Doch sein Wahlkampf entwickelte keine Dynamik und ließ sich seine Themen von der Strategie der PRI vorgeben, die ganz auf die Angst der Wähler vor politischen Unruhen setzte.

1997 wurde Cárdenas dann zum Regierenden Bürgermeister von Mexiko-Stadt gewählt – und durfte wieder Hoffnung schöpfen. Doch die Bundesregierung machte ihm das Leben schwer, gängelte ihn, legte ihm Steine in den Weg und verweigerte ihm jegliche Unterstützung. Cárdenas reagierte unentschlossen. Anstatt dringende Probleme anzugehen, kümmerte er sich lieber um die Vorbereitung seiner nächsten Präsidentschaftskandidatur. Damit verspielte er sich die Sympathien und hatte beim diesjährigen Wahlkampf von vornherein die notwendige Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Dies wusste die politische Rechte zu nutzen, indem sie bei den Wählern den Eindruck erweckte, nur eine für sie abgegebene Stimme könne tatsächlich die Abwahl der PRI bewirken. Und so unterstützte ein Teil der Linken Vicente Fox, der dafür eine parteiübergreifend zusammengesetzte Regierung versprach. Erst in den letzten Wochen vor der Wahl gelang es Cárdenas hier und da, noch einmal die Begeisterung von 1988 zu entfachen, Plätze zu füllen und die Linke im ganzen Land zu mobilisieren – doch da war es bereits zu spät.

Wahlsieger wurde Vicente Fox, der ehemalige Chef von Coca-Cola Mexiko. Der gelernte Betriebswirt begann seine politische Karriere im Jahr 1988 auf Drängen der PAN und ihres langjährigen Präsidentschaftskandidaten Manuel Clouthier. In den vergangenen zwölf Jahren hat Fox sich in seinem Auftreten und seiner Rhetorik zum Populisten entwickelt. Zunächst kandidierte er als Gouverneur im Bundesstaat Guanajuato, eroberte diese Position jedoch erst im zweiten Anlauf.

Zwischen Klerus und laizistischer Stimmung

DASS Vicente Fox für das Präsidentenamt kandidieren wollte, stand seit 1998 fest. Er ist ein maßloser, autoritärer Mensch, dessen auffälligste Eigenschaft sein unstillbarer Machthunger ist – eine Charaktereigenschaft, die ihm aber immerhin die breite Unterstützung von Kreisen der Mittelschicht sowie unter der weiblichen Bevölkerung und bei Jugendlichen verschafft. Fox strebt eine Führerrolle an und sieht sich selbst als von der Vorsehung auserkorener „Retter Mexikos“, wie er es selbst formuliert. Sein Auftreten und seine Statur wirken auch deshalb so imponierend, weil sie in einer Zeit des offensichtlichen politischen Verfalls sowohl Stärke als auch den Willen zur Macht symbolisieren.

Fox macht keinen Hehl daraus, dass er ein orthodoxer Rechter ist. Er ist streng katholisch, glaubt an den Bildungsauftrag des Klerus und wendet sich gegen die Legalisierung der Abtreibung in jeder Form. Zudem ist er ein erklärter Gegner der Homosexualität und ein Bewunderer der cristeros (einer erzkatholischen bewaffneten Bewegung, die zwischen 1926 und 1929 mit dem Schlachtruf „Es lebe Christus, der König!“ gegen den revolutionären Staat kämpfte). Doch jetzt ist Fox auf das Wohlwollen einer laizistischen Gesellschaft angewiesen, weshalb er im Wahlkampf mehrere Rückzieher machen musste. So hatte er beispielsweise bei einer Versammlung das Banner der Jungfrau von Guadalupe gehisst und sie als sein Wahrzeichen angekündigt. Daraufhin intervenierten die Regierung Zedillo, liberale Politiker und die katholische Kirche selbst und forderten ihn auf, die Verwendung religiöser Symbole zu unterlassen.

Dem Klerus sagte er zu, dass an staatlichen Schulen Religionsunterricht eingeführt werde und dass bestimmte Fernseh- und Radiokanäle der geistlichen Erbauung vorbehalten blieben. Ferner wollte er den Priestern jegliche Steuern erlassen (die sie ohnehin nicht bezahlen), die Diplome von Priesterseminaren mit Universitätsabschlüssen gleichsetzen und anderes mehr. Diese Versprechungen lösten so heftige Reaktionen aus, dass er öffentlich erklären musste, seine Vorschläge seien „leider falsch verstanden worden“.

Die Freude der Mexikaner über den Sturz der PRI ist auf die Dringlichkeit von Veränderungen und auf das Bedürfnis nach einem politischen Wechsel zurückzuführen. Schließlich konnte man schlecht mit der alten PRI an der Macht das 21. Jahrhundert beginnen. Die ehemalige Staatspartei verfügt zwar immer noch über zwanzig Gouverneure und eine große Anzahl Abgeordneter in beiden Kammern des Parlaments, doch den zentralen Hebel ihrer Macht hat sie verloren.

Für sich genommen ist dieser politische Wechsel höchst positiv zu bewerten. Er bringt Bewegung in festgefahrene Ideen- und Interessenkonstellationen, und er ermöglicht es gesellschaftlichen Gruppen und Personen, die bislang ausgeschlossen waren, am politischen Prozess teilzuhaben. Allerdings hat die Rechte bislang fast alles, was sich in Mexiko seit den liberalen Reformen des 19. Jahrhunderts ereignet hat, immer nur pauschal verurteilt. In den Augen von Vicente Fox war das gesamte 20. Jahrhundert für das Land „reine Zeitverschwendung“.

Insofern ist der Konservatismus der Sieger, den PRI und PRD jetzt anprangern, durchaus real. Zwar finden sich in der Regierungsmannschaft des neuen Präsidenten ein paar linke Überläufer, auch einzelne Vertreter der PRI, doch die Mehrzahl kommt aus dem Opus Dei, von den Legionären Christi oder aus äußerst reaktionären familienpolitischen Verbänden. Fox hat sich mit Ehrenwort verpflichtet, die laizistische Struktur des mexikanischen Staates nicht anzutasten. Doch seine bildungspolitischen Berater wollen dies nur unter einer Bedingung hinnehmen: der Begriff Laizismus müsse so umdefiniert werden, dass in Zukunft an staatlichen Schulen Religionsunterricht stattfinden kann.

Der Konservatismus ist ein Verbündeter des Neoliberalismus. Die Wirtschaftsexperten des neuen Präsidenten betrachten die Unternehmer als einzige produktive Kraft im Land, die Existenz von Arbeitern erwähnen sie dagegen mit keinem Wort. Die Privatisierungspolitik der Regierungen Salinas und Zedillo soll fortgesetzt werden. Dabei sollen zunächst die Stromerzeugung und einige Bereiche der Energiegewinnung privatisiert werden. Ein Projekt allerdings weckt derzeit heftigen Widerstand: die geplante Mehrwertsteuer auf Lebensmittel und Medikamente. Carlos Flores, der in der neuen Regierung für die Sozialpolitik zuständig ist, meinte dazu in El Universal vom 9. November: „Das Thema der Besteuerung von Medikamenten hat in der Tat sehr viel Wirbel ausgelöst. Aber unter uns gesagt sind die Leute, die Geld für Medikamente ausgeben, in Wahrheit kaufkräftige Menschen wie wir. Arme Leute dagegen geben fast nichts für Medikamente aus.“

Was die Situation der Armen angeht, hat auch Victor Lichtinzer, der umweltpolitische Berater von Vicente Fox, eine interessante Auffassung: Sie seien eben arm, weil sie es so wollten und weil ihnen die notwendige Willensstärke und Entschlusskraft abgehe. Die Welt darf gespannt sein, welchen sozialen und umweltpolitischen Kurs solche Politiker einschlagen werden.

dt. Miriam Lang

* Mexikanischer Schriftsteller.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von CARLOS MONSIVAIS