Tage des Zorns
Von ANTOINE D’AGATA
DIESE Bilder wurden in Jerusalem aufgenommen, in der Altstadt, nahe dem Löwentor, am 6. Oktober 2000, zwischen 14 Uhr und 18.30 Uhr. Die Einheit von Ort, Zeit und Handlung war gewahrt an jenem normalen Tag der Gewalt. Es traten die drei Hauptdarsteller der alltäglichen Tragödie auf: die Palästinenser, die israelische Polizei und die internationale Presse, die von solchen Situationen immer am meisten hat – sie eignet sich die Gesten an, unterschlägt die Handlungen und spuckt die Zeichen aus, die unser Verhältnis zum Bild „beschreiben“ und unsere Beziehung zu einer hypothetisch gewordenen Wirklichkeit bestimmen.
An diesem Freitag, dem Tag des Gebets, einem „Tag des Zorns“ für die Palästinenser, erlebte ich zum ersten Mal, was es bedeutet, eine Konfliktsituation zu fotografieren. Mich interessiert nicht der fotografische Blick auf die Welt, sondern die intime Beziehung, die der Fotograf mit ihr eingeht. Ich kann in meinen Fotografien, in meiner lügenhaften alltäglichen Praxis, nicht vorgeben, etwas anderes zu beschreiben als meine eigene Situation: meine innere Verfassung, meine geheimen Verstörungen.
Meiner Ansicht nach sind die einzigen Fotos, die Eigenständigkeit besitzen, die „unschuldigen“ Bilder. Sie bezeugen die Rolle des Fotografen, seine Beteiligung, die Authentizität seiner Position. Normalerweise versuche ich, vorab nicht festzulegen, was ich fotografieren will. Die Aufnahmen sind abhängig vom Zufall der Begegnungen und Situationen, ihre Auswahl bleibt unbewusst, auch wenn es um die immer gleichen Obsessionen geht: Angst, Finsternis, Tod ...
An jenem Tag ließ ich mich vom Lärm der Schüsse zum Ort des Geschehens leiten. Dann der Zwang zu fotografieren, keine bewusste Handlung, sondern eher das erneute Einlassen auf eine gewöhnliche und extreme Erfahrung. Ich wollte ein ebenso parteiisches wie unvollständiges Bild vom Ort des Geschehens geben, eine systematische und instinktive Bestandsaufnahme des physischen und emotionalen Raumes, in dem ich mich mit einem Mal als Beteiligter, als handelnde Person wiederfand. Häufig bedient sich der Fotojournalismus einer Sprache, die nichts von ihrem Gegenstand weiß: vom Schein, der Zweideutigkeit, dem Imaginären. Um die heute vorherrschende Bildsprache überzeugend zu kritisieren, muss man von einer Fotografie verlangen, dass sie die ungeklärten Umstände der Erfahrung erhellt, der sie entstammt, jenes Zusammenspiel zwischen Auge und Blick, Apparat und Unbewusstem, die grundsätzliche Verunreinigung ihres Verhältnisses zu Wirklichkeit und Fiktion.
Eine so kurze Erfahrung erlaubt mir nicht, den Bildern eine politische Analyse oder eine ideologische Haltung beizugeben. Ich kann nur von dem Gefühl äußerster Frustration sprechen, das ich in diesen wenigen Stunden erlebt habe. Es fehlte die Zeit, sich zu verständigen, die Ereignisse zu enträtseln, das Wesentliche zu erfassen oder auch nur die Bruchstücke einer chaotischen Wirklichkeit zu sammeln, die nicht zur unmittelbaren Analyse und Visualisierung des Ereignisses taugen, gleichwohl aber seine wesentlichen Bestandteile bilden.
Wie verleiht man den Bildern Kraft? Licht, Bildkomposition und -erzählung sind nicht wirklich das Problem. Mir geht es heute vor allem um eines: um die Sichtweise, die den Akt des Fotografierens gerechtfertigt hat, um die Interferenz zwischen Erfahrung und Inszenierung, die Struktur, den Gegenstand, die Funktion des Fotografen – als Drehbuchautor und Akteur –, und um die Bildfolgen, diese wirre und zwanghafte Rekonstruktion von Erfahrung (genau wie die Wörter fühlen sich auch die Bilder einsam, wenn sie allein stehen).
Und was die Inhalte angeht: Worin könnte ihr Sinn bestehen, in einem medial übersättigten Konflikt, in dem Soldaten, palästinensische Kinder und Journalisten offenbar alle ihre Rolle perfekt zu spielen wissen? Es ist nicht leicht zu erklären, was man empfindet, wenn wenige Meter vor einem ein Mensch zu Boden stürzt. Wie spricht man von der Wut, die einen erfasst, wenn ein Kind stirbt, dessen Vergehen, unabhängig von jeder politischen Erwägung, lediglich darin bestand, an diesem Nachmittag an diesem Ort gewesen zu sein und Steine geworfen zu haben? Die Rolle des Voyeurs war mir zuwider, in der Ausnahmesituation hatte ich mit den lächerlichsten Aspekten meiner Aufgabe als Fotograf zu tun, und am Ende kann ich nichts weiter bezeugen als meine eigene Erfahrung – und meinen Mangel an Erfahrung –, meine Ohnmacht vor dem Irrsinn der Waffengewalt des Starken gegen den Schwächsten, meine Position im Inneren des Chaos.
Heute sind mit nur noch die Scherzworte im Gedächtnis, die zwischen den israelischen Soldaten hin und her gingen, während sie von ihren Waffen Gebrauch machten, und die Ahnungslosigkeit dieser palästinensischen Kinder, die sich offenbar auf ein Spiel einließen, dessen Regeln sie nicht verstanden. Zuletzt bleibt nur ein Haufen reichlich chaotischer Bilder, in der Form gelungen, eindeutig, doch zugleich schrecklich vergänglich. Keine Titel oder Bildunterschriften, diese Bilder, die nur Fragmente sind, sollen für sich selbst sprechen, ihnen soll nicht willkürlich ein Sinn zugesprochen werden.
Ich versuche, mir klar zu werden über die inneren Widersprüche jener „Funktion“ des Fotografen als Dokumentarist, der angeblich die Wirklichkeit nachzeichnet, während er eigentlich nur eine Summe von Erfahrungen wiedergibt. Ich kann also die Welt für meine eigenen Zwecke benutzen und sie, im Rahmen meiner recht einsamen und vereinzelten Erfahrung, umgestalten und nach Belieben verwandeln, ich kann so tun, als gäbe es ohne die Bilder auch die Welt nicht mehr.
dt. Edgar Peinelt