15.12.2000

Ängste des Jahres

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Ängste des Jahres

Von IGNACIO RAMONET

IN der Geschichte der Gemeinwesen“, schreibt der Historiker Jean Delumeau, „verändern sich zwar die Ängste, die Angst aber bleibt.“ Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das Unglück für die Menschen zuallererst natürliche Ursachen: Unwetter, Verwüstungen, Missernten, Plagen wie Pest, Cholera, Tuberkulose oder Syphilis. Der Mensch von damals lebte in einer Umgebung ständiger Gefahr. Fast täglich lauerte das Unheil.

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war von den Schrecken der beiden Weltkriege geprägt: von der industriellen Dimension des Todes, von massiven Zerstörungen, von Deportationen und Massenmord in den Vernichtungslagern. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war Westeuropa von bewaffneten Konflikten so gut wie verschont geblieben, und allgemeiner Wohlstand breitete sich aus. Die Lebensbedingungen verbesserten sich. Die Lebenserwartung ist so hoch wie nie zuvor.

Eines Tages werden Kulturhistoriker die Ängste des Jahres 2000 erforschen und feststellen, dass nicht mehr politische und militärische Ängste (vor Konflikten, Kriegen und atomaren Schrecken), sondern ökologische Ängste im Vordergrund standen (vor Störungen im Naturhaushalt und Umweltveränderungen); und dass diese um Fragen der persönlichen Sphäre (Gesundheit und Ernährung) und der Identität (künstliche Befruchtung und Gentechnik) kreisten.

Diese neuen Ängste – insbesondere die den „Rinderwahn“ und die genetisch veränderten Organismen und Lebensmittel betreffenden – resultieren aus der Enttäuschung und Desillusionierung angesichts der technischen Entwicklungen. Der Nutzen des wissenschaftlichen Fortschritts liegt nicht mehr unbedingt auf der Hand, zumal er von der Wirtschaft vereinnahmt und von profitsüchtigen Unternehmen weitgehend instrumentalisiert wird.

Die Verquickung von Gemeinwohl und Industrieinteressen hat sich nur allzu oft zum Vorteil der Wirtschaft ausgewirkt. Die Mode des Neoliberalismus und die Anbetung des Marktes, die Wiederkehr und Verschärfung von Armut und einschneidender sozialer Ungleichheit nährten in den vergangenen zwanzig Jahren das Gefühl, der technische Fortschritt habe sein Versprechen verraten, bessere Lebensbedingungen für alle zu schaffen.

Zu verschiedenen Gelegenheiten konnte man die Erfahrung machen, dass die Institutionen – Parlament, Regierung und Expertenrunde – ihrem Auftrag, unsere Sicherheit zu garantieren, nicht gerecht werden. Sie haben unvorsichtig und nachlässig gehandelt. Doch damit nicht genug. Die „Entscheider“ verfügen heutzutage immer selbstverständlicher über das Schicksal der Allgemeinheit, ohne die Betroffenen, die Bürger, nach ihrer Meinung zu fragen. Das ist nicht ohne Auswirkung auf den demokratischen Grundkonsens geblieben.

In den Köpfen der Menschen macht sich zunehmend hartnäckiges Misstrauen breit, und mehr und mehr Bürger weigern sich, den „Verantwortlichen“ noch länger Machtbefugnisse zuzugestehen, angesichts der Tatsache, dass sie durch die Genehmigung risikobehafteter Technologien und unzureichend getesteter Innovationen die gemeinsame Zukunft belasten. Die Zauberlehrlinge des Neoszientismus stehen unter Generalverdacht.

DIE tragische Inkompetenz der Behörden und Experten zeigte sich vor allem an den spektakulären Enthüllungen über eine Reihe von „stillen Plagen“. Vom Aidsblutskandal einmal abgesehen, sterben in Frankreich alljährlich 10 000 Arbeiter an den Folgen von Vergiftungen durch Asbestfasern.

Die so genannten Nosokomialinfektionen, die man sich während eines Krankenhausaufenthaltes zuziehen kann, fordern Jahr für Jahr 10 000 Opfer (mehr als der Straßenverkehr: 8 487 Tote im Jahr 1999). Aufgrund der Luftverschmutzung, die zu 60 Prozent auf den Straßenverkehr zurückgeht, finden in Frankreich alljährlich 17 000 Menschen einen frühzeitigen Tod.

Noch unglaublicher ist die Anzahl derjenigen, die durch die „legalen Drogen“ Alkohol und Tabak sterben: beim Alkohol sind es 42 963 Tote, beim Tabak 41 777 Tote per anno (Zahlen von 1997). Und am Krebs erregenden Dioxin, das bei der Verbrennung von Haushaltsabfällen entsteht, sterben pro Jahr zwischen 1 800 und 5 200 Menschen. Zwischen 1975 und 1995, als immer mehr Müllverbrennungsanlagen gebaut wurden, stieg die Zahl der Krebserkrankungen bei Männern um 21 Prozent, bei Frauen um 17 Prozent an. Sieht man sich den jüngsten britischen Untersuchungsbericht über die Bovine Spongiforme Enzephalopathie (BSE) an, der am 26. Oktober dieses Jahres veröffentlicht wurde, so wird das Misstrauen der Europäer gegenüber Rindfleisch nur allzu verständlich (siehe den Beitrag von Denis Duclos auf Seite 11).

Aberwitzige Tierhaltungsmethoden, die von „Experten“ gedeckt wurden, führten dazu, dass man die Gesetze der Natur ebenso missachtete wie die elementarsten Vorsorgeprinzipien. Als dann offensichtlich wurde, dass die Krankheit sich ausbreitete und auf den Menschen übergriff, wurde nach allen Regeln der Kunst gelogen und verschleiert. Angesichts der Versäumnisse, Täuschungsmanöver, Dementis, angesichts des verantwortungslosen Handelns der Behörden fühlte sich die britische Öffentlichkeit unvermeidlich hintergangen. Und da sich die Behörden im übrigen Europa nicht grundsätzlich anders verhielten, nimmt es nicht wunder, dass die Bürger dort denselben Argwohn hegen wie ihre Mitmenschen jenseits des Ärmelkanals. Zumal wenn sie (wie in Frankreich) feststellen müssen, dass die Behörden die kommerzielle Nutzung transgener Maissorten genehmigen.

Von Sicherheitsfanatismus und Null-Risiko-Wahn kann hierbei keine Rede sein. Dass die Bürger mit Beunruhigung sehen, wie der Staat wirtschaftlichen Interessen und korporatistischen Gruppenegoismen nur allzu oft absolute Priorität einräumt und das gemeine Wohl und allgemeine Interesse hintanstellt, ist nur allzu legitim. Zu bestimmen, was ein akzeptables Risiko ist, muss immer von allgemeinem Interesse sein und darf nicht allein den Experten überlassen bleiben.

Le Monde diplomatique vom 15.12.2000, von IGNACIO RAMONET