12.01.2001

Eine alphabetische Liebeserklärung

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Eine alphabetische Liebeserklärung

* Schriftsteller. Seine jüngsten Werke sind die Romane „Komsomol“ und „Une fin d’après-midi dans les jardins du zoo“, Paris (Seuil) 2000.

ALMA-ATA: Erste Schritte in der Stadt von Jurij Dombrowskijs „Fakultät unnützer Dinge“, einem großartigen Roman, der vor über zwanzig Jahren erschienen ist (dt. 1990). Erste Begegnungen, eine Malerin, die uns ihre Bilder zeigt und von ihrer Unruhe spricht. Sie sagt, früher habe die Gewalt in den Tatsachen gesteckt, heute sei sie in der Seele. Man spürt sofort, dass ihre Rede (also ihr Denken) zwischen Gegenwart und Vergangenheit balanciert. Später erwähnt Rauchan die „genetische Angst“, die alles andere als verschwunden sei, vielmehr immer neue Ansatzpunkte finde, neue Ängste nähre. Man trinkt, was das Zeug hält. Die Kasachen meines Alters heben lachend ihr Glas Wodka und erklären: „Wo Stalin ist, da ist der Sieg.“ Dann fügen sie hinzu: „Die Russen haben uns das Trinken beigebracht, jetzt können sie es uns nicht mehr abgewöhnen.“

Viel gelaufen, Museen besucht. Erst das Kunstmuseum, das stolz eine Ausstellung zum 55. Jahrestag des 9. Mai 1945 präsentiert; dann das Museum für Volksmusik, geschlossen – etwas Schmiergeld, aber keine Eintrittskarte und auch kein Klang, kein Laut. Liebenswerte alte Schriftsteller getroffen, die Dombrowskij gekannt haben und bis heute wie gebannt wirken von seinem Mut und seiner offenen Verachtung der Obrigkeit. Im Kino den „Gladiator“ auf Russisch gesehen, sehr moderne Ausstattung, unerschwingliche Preise (knapp 10 Prozent vom Monatsgehalt der Universitätsdekanin), massenhaft Handys im Saal und vor dem Ausgang ein Mercedes neben dem anderen. Auf dem Basar von Bischkek finden wir den „Gladiator“ wieder, diesmal auf DVD, für umgerechnet 30 Pfennig.

BISCHKEK: Die Hauptstadt von Kirgistan, ehemals Frunse, in Bischkek umgetauft, weil Frunse der Name des lokalen Bolschewikenführers ist, der die Region im Kampf gegen Wrangels Weißarmisten zurückerobert hat (er starb 1925, vermutlich auf Befehl Stalins im Zuge einer Militäroperation ermordet). Immerhin haben die Kirgisen zu seinem Gedenken das Frunse-Museum eingerichtet, sein Geburtshaus mit zwei Stockwerken, auf denen man lauter Revolutionsgemälde in einem Halbdunkel bewundern kann, das nichts Bösartiges an sich hat, nur ist eben die Hälfte der Glühbirnen durchgebrannt.

Beim Spazierengehen stößt man auf Überreste des Sowjetreichs, etwa Schachspiele mit Chronometer oder Tischtennisplatten, aber jetzt sitzt einer daneben, der die Gerätschaften stundenweise vermietet. Man sieht auch attraktive Schaufenster und viele schöne Mädchen. Aber Vorsicht: die meisten Kanaldeckel sind verschwunden. Anfang der Neunzigerjahre wurden sie gestohlen und nach Schmelzgewicht von Privatleuten an chinesische Zwischenhändler verkauft.

Im Café fast eine Stunde lang mit zwei Unbekannten diskutiert, beide um die Dreißig, meine zweihundert Wörter Russisch gegen ihre zweihundert Wörter Englisch, gelegentliche Schweigepausen, die Bestätigung gesicherter französischer Werte: Mireille Mathieu, Joe Dassin. Auf meine Frage, was die Veränderung zwischen gestern und heute am besten symbolisiere, sagte eine Französisch sprechende Lehrerin ohne Zögern: „Die Freiheit“. Als Beispiel nannte sie die Freiheit, Kurse für kleinere Gruppen anzubieten, also mehr zu arbeiten und dadurch ihr normales Gehalt (20 Dollar im Monat) aufzubessern.

CHAOS DER KORRUPTION: Ein großes Problem, das nicht übergangen werden darf, und ein Schlüssel für die Zukunft dieser Länder. Die Korruption ist nicht (nur) eine Frage der Moral, sondern im Wesentlichen ein politisches Problem – und natürlich auch ein ökonomisches, allein schon wegen der offensichtlichen Bedeutung der Schattenwirtschaft und ihrer Vernetzung, ganz zu schweigen vom florierenden Drogen- und Waffenhandel und den vielfältigen Formen der Geldwäsche.

Bezüglich der Präsidenten stellt sich die Frage in aller Offenheit. Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew, früher Erster Sekretär der Kommunistischen Partei, ist der siebtreichste Mann der Welt. Der kirgisische Präsident Askar Akajew scheint nicht in der Lage, Ende Oktober 2000 als sein eigener Nachfolger zu kandidieren. (Er hat es schließlich doch geschafft: In einem Wahlgang am 29. Oktober, gegen den die OSZE Vorbehalte angemeldet hat, wurde er mit 75 Prozent der Stimmen gewählt.) Die geheimen Schätze stammen zum einen aus der Sowjetzeit, als Breschnews Schwiegersohn die immer mächtiger werdenden Mafiabanden förderte und deckte, und zum andern aus der postsowjetischen Ära, den Unregelmäßigkeiten bei der Privatisierung, dem wilden Verkauf sowjetischer Besitztümer.

Die Korruption betrifft nicht nur die Präsidenten, sondern auch deren Umgebung, diverse am Systemerhalt interessierte Personenkreise. Sie bringt kaskadenhaft immer neue Formen zwar nicht offizieller, aber doch weithin anerkannter Praktiken hervor. Bestimmte Ämter beispielsweise müssen erst erkauft werden – der Posten des obersten Zollbeamten kostet 35 000 Dollar, der des Polizeiinspektors zwischen 10 000 und 15 000 Dollar –, ehe man einen Monatslohn von 18 Dollar bezieht – und dann muss man einfach etwas unternehmen, damit sich die Investition auch lohnt.

Auf der Straße von Naryn sah ich einen Geldtransporter, dem zum Schutz gegen Überfälle durch chinesische oder tadschikische Schmugglerbanden ein Polizeiauto vorausfuhr. Ob das irgendjemanden beruhigt?

DESERT – WÜSTE: Ich bin hergekommen, um Wüsten zu durchqueren, möglichst im Hochsommer. Wenn schon, möchte ich die Elemente der Natur in ihren Extremen erleben.

Die größte Wüste ist die Karakum: 500 Kilometer im Sammeltaxi bei 45 Grad im Schatten, wenn es denn welchen gäbe – das schafft Nähe, aber es macht nicht gesprächiger. Erst an der Raststelle, wo wir Tee trinken und Zigaretten sowie die rituellen Fragen und Antworten austauschen, entspinnt sich ein Gespräch über den Wert der Dinge. Sie wollen wissen, wie hoch die Löhne bei uns sind (sie beneiden uns, obwohl wir die Zahlen eher nach unten rechnen), was ein Auto kostet, was eine Limousine, als wären Limousinen alltägliche Gebrauchsgüter, und angesichts dieser Art Warenmetamorphose inmitten einer gelb-grauen, bei aufkommendem Wind schwarz-beigen Wüste fragen wir unsererseits nach dem Preis für goldverkronte Zähne (umgerechnet 40 Mark pro Zahn – wir sagen ihnen, dass sie Glück haben). Das Gespräch verebbt, sobald die ersten Anzeichen von Grün auftauchen, wir nähern uns Aschgabad, und da, unglaublich, in einem letzten Aufflackern der Unterhaltung eröffnet der gegenübersitzende Bauer seinen kleinen Reigen französischer Persönlichkeiten mit dem Namen Michel Camdessus.

Eine andere Art Wüste: der Aralsee. Das Erstaunlichste ist (abstrakt gesehen), wie schnell er austrocknet. Offenbar haben die Usbeken und Turkmenen ihre Rechnung ohne den See gemacht: Sie brauchen das Wasser aus dem Pamir-Gebirge zur Bewässerung ihrer Baumwollfelder, der Felder überhaupt, und für die Rasenflächen der Turkmenenhauptstadt.

ERZIEHUNG UND GESUNDHEIT: Schulen, Krankenhäuser, religiöse Einrichtungen. Ich stand noch unter dem betörenden Eindruck, den Andrej Michalkow-Kontschalowskis Film „Der erste Lehrer“ von der kirgisischen Schule zeichnet. Seit 1923 (historisch, nicht der Film) hat sich natürlich einiges getan. Außerdem ist Sommer, und die Kinder haben Ferien. Man trifft sie auf der Straße, freundlich, lebhaft, ordentlich gekleidet, noch nicht an Touristen gewöhnt. Trotzdem sieht man Schulen, in Dschalalabad beispielsweise ein kirgisisch-türkisches College, mit Schwerpunkt Informatik und Englisch, 1993 gegründet; 2 000 Dollar im Jahr, die Eltern lassen es sich etwas kosten. Viele Universitäten sind arm, und die Gewalt (und mit ihr Drogen) hat längst ihren Einzug gehalten.

Obwohl weder Krüppel noch Kranke zu sehen sind, ist die Versorgungssituation im Gesundheitswesen offenbar sehr besorgniserregend. Nach Aussagen eines Chirurgen aus Taschkent ist sie sogar katastrophal. Seit der Schließung der Grenzen kann er seine kasachischen Patienten nicht weiter behandeln; der Vierzigjährige verdient 10 Dollar im Monat, die Medikamente für die Bedürftigsten muss er selbst bezahlen und die verrotteten Wände seiner Dienststelle auf eigene Kosten streichen lassen. Er fragt sich, ob er nicht ins Ausland gehen soll, eine Gewissensentscheidung: Lange hat er nein gesagt, aber hier sieht er keine Zukunft mehr, weder für sich noch für seine Kinder.

In Kirgistan, selbst im Norden, werden viele Moscheen gebaut. Habe die neue Moschee von Almaty gesehen und 100 Meter entfernt einen kleinen Markt, wo ein alter Mann islamische Schriften verkaufte, während neben ihm ein Junge nicht ganz druckfrische Playboy-Nummern feilbot. In sechs Wochen habe ich nur eine einzige verschleierte Frau gesehen, ein junges Mädchen in der Altstadt von Taschkent, wo die Koranschulen eher als Orte des Lebens erscheinen – jedenfalls habe ich Kinder ausgelassen Ball spielen sehen. Unter dem Druck der strikt laizistischen öffentlichen Hand zeigt sich der Islam tolerant. Es ist einer der erfreulichsten Aspekte hier, dass man auf der Straße und sogar in den Cafés viele Frauen sieht. Habe keinen einzigen Muezzin gehört, außer am westlichsten Punkt meiner Reise, in Krasnowodsk am Kaspischen Meer, wo er um neun Uhr abends gegen das Megafon der Hafenwache ankämpfte, die irgendwelchen Dockern oder der Mannschaft eines gewiss rostigen Kahns Befehle gab.

FEINDLICHE GRENZEN: In gewisser Weise ist es immer aufregend, eine Grenze zu passieren. An solcher Aufregung ist hier kein Mangel.

Im Fergana-Tal verschlingen sich die Grenzen, zehn Kilometer kirgisisch, zehn Kilometer usbekisch, dann wieder zehn Kilometer kirgisisch usw. Spannung liegt spürbar in der Luft, und das Gefühl, der geringste Anlass könnte genügen, um das Pulverfass (wieder) zu entzünden, zumal die tadschikische Grenze nicht fern ist. Es gibt Grenzen zwischen den neuen Staaten des alten Sowjetreichs, und sie scheinen mehr Probleme zu schaffen als zu lösen: Da ist zum Beispiel das Wasser der kirgisischen Flüsse, das ohne Gegenleistung in den usbekischen Baumwollfeldern oder den turkmenischen Grünflächen versickert. Es gibt auch innere Grenzen, Polizeikontrollen mit Wachhäuschen, Schranken und Betonpfosten.

Es gibt die chinesische Grenze, wo wir alle fünfzig Kilometer angehalten werden. Eine grandiose Szenerie: absolute Leere, kein Auto seit über hundert Kilometern, kirgisische Soldaten, die zurückkommen, um uns zu sagen, dass wir Fotos machen dürfen, und denen wir mit einer Zigarette danken. Es gibt die turkmenische Grenze, die wir zu Fuß überqueren, fünfhundert Meter Kahlschlag mitten im Schilf, kein Mensch weit und breit außer einem freundlichen Zöllner, der uns die Dollarkurse sagt, den offiziellen und den Schwarzmarktkurs. Es gibt die afghanische Grenze und gleich daneben die iranische, immer noch mit einem Streifen Niemandsland. Man spürt, dass man sich durchaus nicht „irgendwo“ befindet, und dass das „große Spiel“ noch nicht zu Ende ist.

GULAG: Gern sprechen die Leute nicht vom Gulag, aber sie tun es. Sogar diejenigen, die der Kommunistischen Partei nahe standen und behaupten, dass es früher besser war als heute, dass es vorher viel „Gutes“ und wenig „Schlechtes“ gab, während es heute natürlich genau umgekehrt ist – sogar sie geben mit Grabesstimme zu, dass der Gulag eine furchtbare Wirklichkeit war: Sehr schnell, mit einer Träne im Auge, lassen sie uns wissen, dass eine Großmutter oder ein Onkel ins Lager geschickt worden oder dort gestorben ist, dass es sich aber im Großen und Ganzen um ein abgeschlossenes Kapitel handelt.

HISTORISCHES BEWUSSTSEIN: Die Geschichte wäre also gewissermaßen das, was hinter uns liegt. Lenin gehört der Geschichte an, will heißen: einem bestimmten historischen Zeitpunkt, im gleichen Sinne wie Iwan III. oder Peter der Große – also kann man von ihm sprechen. Die jungen Leute äußern sich am klarsten, jedenfalls sofern sie über zwanzig sind und noch wissen, wer Lenin war, weil sie in der Schule seine Gesammelten Werke eingetrichtert bekommen haben. Selbst diejenigen, die mehr oder weniger von einer Rückkehr zu den alten Zeiten träumen, sprechen dem Kommunismus keine besondere Dynamik zu.

Immer wieder taucht der Gedanke auf, dass sich diese Länder in einer instabilen Übergangsphase befinden. Was die Perestroika betrifft, so brauchen wir einige Zeit, um zu begreifen, dass das Wort hier nicht die 1985 von Gorbatschow auf den Weg gebrachte Politik bedeutet, sondern die spätere liberale Ära ab 1992. Jedenfalls waren sie allesamt, von Gorbatschow über Breschnew und Chruschtschow bis hin zu den Zaren nur Spielzeuge einer ihnen per definitionem überlegenen Geschichte.

IKONEN: Es stimmt, ich wollte sehen, was von den heiligen Bildern der Sowjetunion übrig geblieben ist. Ich wurde nicht enttäuscht.

Die Wirklichkeit ist von Land zu Land verschieden. In Kirgistan haben die Ikonen am besten überdauert. Auf dem großen Platz von Bischkek hält die Lenin-Statue immer noch Wacht. Auch wenn mein „Lonely Planet“-Reiseführer behauptet, ihre Tage seien wahrscheinlich gezählt, hat man durchaus den umgekehrten Eindruck, bestärkt durch weniger monumentale Statuen, die hier und dort zu sehen sind, durch das Lenin-Porträt über einem vier, fünf Meter hohen Metallgitter auf einem Hügel am Straßenrand, durch ein Flachrelief mit Lenin-Bildnis und ein Zitat, das die Verdienste der Elektrifizierung rühmt, an der Zufahrt zu einem Staudamm.

Am radikalsten wurde die Bilderstürmerei in Usbekistan betrieben. Aber paradoxerweise hat man hier das alte Heiligenbild durch ein neues ersetzt. Tamerlan hat den Platz von Lenin eingenommen – ein Tamerlan, der nicht als blutrünstiger Eroberer erscheint, sondern als Stifter der Zivilisation. Wie auch immer, ein Bereich hat die Bilderstürmerei allenthalben überstanden: die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Jede Stadt hat und pflegt ihre Gedenkstätte. In Nukus zeigt eine lange Tafel zwei Reihen mit je dreizehn Porträts von Soldaten, die das Ehrenzeichen tragen, Helden der Sowjetunion, von denen viele noch am Leben sind, zwei von ihnen starben 1999. Und noch etwas ganz anderes: Neuerdings tauchen Markierungsschilder an den Wänden oder an Museumsschaukästen in den Treppenhäusern auf.

JOINT-VENTURE: Ich sah das Wort (ohne Leuchtbuchstaben) auf dem Schild eines kleinen Ladens irgendwo am Straßenrand. Später habe ich es noch ein paar Mal entdeckt: ein französisches „Joint-Venture“ (Cognac), ein griechisches, ein pakistanisches, mehrere japanische, iranische, koreanische und viele türkische. In Aschgabad steht übrigens eine Renault-Fabrik mit türkischer Konzession.

Was das amerikanische Kapital betrifft, das hierzulande investiert wird: An seiner Präsenz lässt sich kaum zweifeln. Man denke nur an die aufgekaufte usbekische Baumwollindustrie, an die jungen Verwaltungsbeamten des Peace Corps und an den Besuch, zu dem Hillary Clinton kürzlich in jedem einzelnen dieser Länder mit dem Päsidentenflugzeug landete, um tonnenweise Computer und EDV-Ausrüstung für die Schulen auszuladen.

KOMSOMOLSKAJA PRAWDA: Den Titel gibt es immer noch, mit der Lenin-Vignette, der Abkürzung „CCCP“, der Sichel und dem Hammer, drei Sicheln und drei Hämmern, um das Maß voll zu machen. Am Donnerstag, den 13. Juli, sind der Aufmacher und die beiden wichtigsten Seiten einem Ufo gewidmet, das irgendwo in Russland gelandet sein soll, mit dürftigen Fotos und Kommentaren. An herausragender Stelle findet sich auch ein Artikel, der den Tschetschenien-Krieg rechtfertigt, und eine ganze Seite berichtet über Putins Frau und dass sie Schauspielerin werden wollte, als sie im Pionierlager war.

Für eine kritische Sicht empfiehlt es sich, die unabhängige Tageszeitung Times of Central Asia zu lesen, eine Fundgrube an Nachrichten, die unsere Welt ein bisschen anders zentrieren. Über die Begegnung zwischen Nursultan Nasarbajew und Romano Prodi Ende Juni in Brüssel wird berichtet, eine Spalte nach der anderen widmet sich Finanzierungsstrategien, die Privatisierungen werden analysiert und der Niedergang des amerikanischen Imperialismus prognostiziert.

LITERATUR UND SPRACHE: Wir haben in allen Ländern einen starken Willen zur Unabhängigkeit gespürt, der sich auch durch das Verhältnis zur russischen Sprache und zur kyrillischen Schrift definiert. Kasachisch, kirgisisch, usbekisch, turkmenisch – lauter Turksprachen nähren einen linguistischen Stolz, der sich mit einem Nationalstolz verbindet. Dennoch hat man das Gefühl, dass die Kasachen und Kirgisen Russland näher stehen, während die Usbeken und Turkmenen eher der Türkei zuneigen.

Bücher haben mich zu dieser Reise angeregt. Vor allem Juri Tynjanow und Yves Bonnefoy, aber auch Konstantin Paustowskij, der einen unvergleichlichen Bericht geschrieben hat, beim zweiten Lesen in diesem Sommer etwas langatmig, doch manche Seiten so beeindruckend, dass sie mir nicht aus dem Sinn gehen. Kara-Bogas. Das ist der Name einer Bucht am Kaspischen Meer. Ich wollte hinfahren, mit eigenen Augen sehen, ob es dort so aussieht oder nicht, ob der Himmel über dem Schlund bei schlechtem Wetter wirklich schwarz ist, ob die Matrosen etwas von ihrer Seele dagelassen haben. Ich konnte nicht hin. Verboten. Weder ein militärischer noch ein industrieller oder ökologischer Grund, den die Behörden angegeben hätten. Einfach verboten. Die Macht der Literatur.

MÄRKTE: Sie heißen hier Basare, sind reich bestückt mit Obst und Gemüse, Milchprodukten und Fleisch, mit Heerscharen von Fliegen und haben ganz erstaunliche Gerüche zu bieten. Auf dem grünen Markt von Almaty verkaufen die Bäuerinnen Erdbeeren, Himbeeren und Aprikosen in 20-Liter-Eimern – eine für mich hoffnungslose Maßeinheit. In Bischkek, wo der Basar unüberschaubare Ausmaße hat, weil Zeug zum Basteln und Werkeln für mehrere Leben angeboten wird, findet man auch Elektroartikel, ganze Stände mit Medikamenten und zahllose Wechselstuben.

Am Hauptausgang hocken dicht an dicht die Schuster und die Schuhputzer – so ist von der sowjetischen Wirtschaftsrationalität doch immerhin etwas geblieben; Karten- und Steinelegerinnen, eine hat offenbar einen guten Ruf, mehrere Leute stehen bei ihr Schlange; ein Fotograf vor mediterranem Dekor (Blick aufs Schwarze Meer) wartet auf Kundschaft: ein Sonnenuntergang wie im Rückspiegel westlicher Autos, Farben zum Heulen und auf einer am Boden ausgebreiteten Plastikfolie eine Rokokoballustrade mit zwei künstlichen Palmen, eine rechts und eine links, um das Ganze zu halten. Das muss auch sein, weil just starker Wind aufkommt, der schwarze Himmel ein Unwetter ankündigt und – zum Leidwesen des Fotografen – die Menschen nach Hause eilen.

Es gibt andere Basare mit allen möglichen verschiedenartigen Objekten, aber alles ist wohlgeordnet, fein säuberlich sortiert: Nähgarn, Schrauben, Gurte, Fahrradreifen, Fahrradketten, Zähler, Spannungsmesser, Kräuter, saure Heringe und Armaturenteile, eins neben dem anderen. Und im hintersten Winkel der Basar für die Armen, fast nichts außer Fladenbrot und verkümmertem Gemüse, alte Frauen, die in Abfallhaufen wühlen.

NAMEN: Eine lange Liste von Namen, die zum Träumen einladen. Einer hat uns gleich bei den Reisevorbereitungen beflügelt: der Pik Kommunismus, der zu einem Ausflug einlädt, aber wohl nicht zum Aufstieg (er ist über 7 000 Meter hoch und liegt weit entfernt vom Dach der Welt).

Betrachtet man die Straßennamen, fällt auf, dass die Veränderungen durchaus einen Sinn ergeben: Weitgehend verschwunden sind die Namen der bolschewistischen Armada (Marx, Engels, Lenin, Gorki, Komsomol, Oktoberrevolution, Völkerfreundschaft); neu aufgetaucht sind regionale Namen, nicht ganz frei von sowjetischen Glanzlichtern. Im Herzen von Taschkent musste Lenin Platz machen für den korrupten ehemaligen Ersten Sekretär Raschidow. In Aschgabad dagegen – aber ist das ein Grund zur Freude? – säumen die Prachtbauten der Ministerien noch immer die Karl-Marx-Allee. Und der Kasachen-Präsident hat sich zu seinem 60. Geburtstag am 6. Juli 2000 einen Nasarbajew-Berg gegönnt.

OBSERVATORIUM: Observatorium des Ulugbek, Enkelsohn des Tamerlan und Vizekönig von Samarkand, der hunderte seinerzeit unbekannter Sterne entdeckte, mit einem Astrolabium sehr präzise die Position der Planeten bestimmte, die Dauer eines Jahres auf fast eine Minute genau berechnete und 1449 von seinem eigenen Enkelsohn ermordet wurde, weil er die Allmacht Gottes in Frage gestellt hatte. Wenigstens blieb es ihm erspart, mit ansehen zu müssen, wie sein Observatorium von religiösen Eiferern in Schutt und Asche gelegt wurde.

Für uns ist der Ort eine Enttäuschung, nur der kleine Raum des Museums hat etwas Anrührendes, eine alte Frau, die ihrem Enkel die Lebensgeschichte des großen Gelehrten erzählt; an den Wänden Fotos, auf denen nicht viel zu sehen ist, russisch-usbekische Legenden, ein paar Landkarten und schließlich ein Bild aus dem Film „Ulugbek Star“ – ein Titel, wie er treffender nicht sein könnte, eine Produktion von 1953, ein Sowjetheld, gut verträglich mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Ideologie.

PLOW: Wohlschmeckende Regionalspeise, vor allem, wenn man noch nicht lange hier ist: ein paar Stücke Fleisch, Reis (viel Reis), Karotten und Zwiebeln, um die Schärfe zu mildern. Habe ein Stück Wassermelone am Ausgang der Sommerresidenz des letzten Emirs von Buchara gegessen, der in seinem Harem einst vierhundert Frauen hielt. Der Harem wurde aufgelöst, und die Frauen wurden auf Initiative eines Komintern-Delegierten, des jungen Inders Roy, durch Kollektivscheidung befreit.

Die Bevölkerung leidet keinen Hunger. In der Tat sind zahlreiche Sozialleistungen erhalten geblieben. In Turkmenistan zum Beispiel gibt es kostenlos Wasser, Strom und Gas, und für einen Pfennig kann man 8 Minuten (Ortsgespräch) telefonieren.

QITAI: So heißt China auf Russisch, ähnlich Kathai bei Marco Polo. Vereinzelte Anzeichen chinesischer Präsenz (offizielle Fotos von Li Peng, Botschaftsgebäude, Unternehmen), die aber sehr unauffällig bleiben. Undenkbar, dass China sich nicht für das exsowjetische Zentralasien interessiert. Xinjiang ist ganz in der Nähe, und die Seidenstraße, die das Gebiet durchquert, führt direkt nach Xian.

REISEWEGE UND STRASSEN: Auf den 6 000 Kilometern kreuz und quer durchs Landesinnere macht man sich ein gewisses Bild von den Straßen und Schlaglöchern – die Verkehrswege sind in miserablem Zustand, seit kein russisches Manna mehr für ihre Instandhaltung vom Himmel fällt – und natürlich auch von den Fahrzeugen: Klein- und Lastwagen aller Art, aber auch Handkarren, Schubkarren, Planwagen, lauter Worte, denen bei uns keine Wirklichkeit mehr entspricht. Ein paar zufällige Eindrücke: ein Beiwagen ohne Kabine, der unter der Last einer Heufuhre zusammenbricht; ein Militärlaster, der Honig transportiert, kleine Kinder auf Fahrrädern und zu Pferde. Ich habe auch eine Straße gesehen, die plötzlich breiter wird und als Piste für Flugzeuge dient, die Gott weiß was nach Afghanistan befördern.

Das kirgisische Straßengefälle beträgt unterschiedslos 12 Prozent. Die Verwaltung muss die Schilder mit Mengenrabatt gekauft haben. Auch die usbekischen Gefälle sind unveränderlich, liegen aber bei 10 Prozent (ob der Rabatt bei 10 Prozent noch günstiger war, werden wir nie erfahren).

SAPARAMURAD NIJASOW: Eine Art turkmenischer Superman. Schon bei den Präsidentschaftswahlen von 1992 mit 99,5 Prozent der Stimmen wiedergewählt, wurde er vom Parlament zum Helden des turkmenischen Volkes ernannt. Unter der Knute der Partei ergraut, will er angeblich durch den Willen Allahs eines Morgens mit schwarzem Haar aufgewacht sein. Nach dem berühmten Vorbild von Mustafa Kemal hat er den Namen Turkmenbaschi, Vater der Turkmenen, angenommen.

Man muss die Hauptstadt gesehen haben: Aschgabad, eine moderne Stadt, die davon träumt, das Dubai Zentralasiens zu werden. Wo immer man hinsieht, alle fünfzig Meter ein Bild vom Präsidenten, und protzige Bauarbeiten, vor allem seit zwei Jahren. Der große Hit ist zweifellos ein marmorner Dreifuß der Neutralität mit einer Statue von Saparamurad, zwölf Meter hoch, vergoldet, die Arme immer in Richtung Sonne ausgestreckt, mit der er sich zeitgleich dreht. Zahlreiche offizielle Gebäude, brandneu oder noch im Bau (welch ein Glück für Bouygues); das Studentenheim, eine großartige optische Täuschung, über vier Stockwerke außen verspiegelt, aber innen jämmerlich. Man sieht alle möglichen Waren mit dem Bildnis des Präsidenten, Wodkaflaschen, Teppiche, Schulbücher, ja sogar Zahnpasta und Parfüm. Ich habe auch die (angeblich) erste Großleinwand gesehen, niemand geht hin, es werden nur die Reden des Präsidenten im Wechsel mit Zeichentrickfilmen von Tom und Jerry gezeigt.

Habe den Präsidenten im Fernsehen gesehen, nicht nur abends anlässlich einer Pressekonferenz, sondern auch am nächsten Tag in einer Sendung, die ich für eine Zusammenfassung der Ereignisse vom Vortag hielt, die aber in Wirklichkeit die tägliche Pressekonferenz des Präsidenten im ersten Fernsehprogramm war (das zweite strahlt, je nachdem, entweder die Pressekonferenz aus oder Volkslieder) – manchmal Schauplatz für die Entlassung eines Ministers vor den Augen der Öffentlichkeit. Vor allem aber fiel mir in der oberen rechten Ecke des Bildschirms das Gesicht eines Mannes auf, der, im Profil gezeigt, betrachtet (überwacht), was wir betrachten, und dieser Mann war Saparamurad. Das gleiche Gesicht fand ich auf den Türen der Herrentoiletten – außer in dem alten Hotel in Krasnowodsk, dort war es Sherlock Holmes.

TRANSPORT UND VERKEHR: Außer mit Sammeltaxis, bei denen unser Rekord 19 Personen in einer „Gazelle“ (10 Sitzpätze) war, sind wir viel Bus gefahren. Er ist nach wie vor das ideale Verkehrsmittel, und zwar einschließlich der Pannen, vorausgesetzt, man hat es nicht wirklich eilig. Wer Bus sagt, meint auch Panne. Wir waren vorgewarnt, und wir wurden nicht enttäuscht: ein Bus, der irgendwo in der Karakum-Wüste auf der Strecke blieb, wo nur geduldiges Warten half; ein Bus, der bei jeder Zollstelle zwischen Samarkand und Buchara (meiner Erinnerung nach waren es mindestens drei oder vier) angeschoben werden musste, weil der Anlasser kaputt war; ein wahrlich uralter Bus, der uns mit Tempo 60 zum Sonntagsmarkt nach Aschgabad befördern sollte und wunderbarerweise ein für alle Mal stehenblieb, so dass wir aussteigen und auf den nächsten warten mussten.

Im Zug, das bekamen wir immer wieder eingeschärft, ist Vorsicht angesagt, Gefahr im Verzuge, und vor allem: riegelt euer Abteil gut von innen ab – aber wenn schon, für mich hatte der Zug einen besonderen Reiz, schon wegen der Filme und der Namen, Turksib oder Transkaspische Eisenbahn. Also haben wir in Krasnowodsk Fahrkarten nach Aschgabad gekauft und am Abend die Tür des Abteils sperrangelweit aufgelassen, um etwas Luft zu bekommen, nicht zu verdorren, durch das Fenster, das nicht mehr richtig schloss, zu sehen, wie sich die Sonne rot und der Himmel lila verfärbte. Unsere Reisegefährten waren liebenswerte Leute, zum Abendessen haben wir gemeinsam zwei, drei Fladen und etwas Obst verspeist, und nachts habe ich geschlafen wie ein König. Die Metro in Taschkent ist sauber, schnell, kühl. Aschgabad verfügt über neue Busse, die sehr billig sind, und man wird von niemandem betrogen. Im Übrigen halten wir meistens Privatautos an, die für ein paar Groschen Taxidienste übernehmen.

UNTERGANG DER FABRIK: „Zavod“, Fabrik, ist eines der Schlüsselwörter, die mir aus meinem Russischunterricht in der Schule in Erinnerung geblieben sind. Heute gibt es – trotz sicherlich bemerkenswerter Ausnahmen, auf die in Fachzeitschriften hingewiesen wird – wohl kaum irgendwo sonst einen derartigen Verfall: Die Industriegebiete verfallen (vor allem in Kirgistan), ebenso die überirdischen Gasleitungen in Nukus (Usbekistan) oder in Krasnowodsk (Turkmenistan), die Fabriken sind geschlossen, aufgegeben von den russischen Genossen. Insbesondere alles, was mit der Rüstungsindustrie zu tun hatte, ist nichts als Rost ohne Verschleiß, die postindustrielle Welt in der gespenstischen „Stalker“-Version.

Ähnlich der Verfall im Hotelsektor. Das Hotel von Dscheti Ogus nahe dem Issyk-Kul-See beispielsweise, ein ehemaliges Sanatorium, das der Nomenklatura und den Apparatschiks vorbehalten war, überlebt sich selbst mit einigen ordenbehangenen Greisen und ein paar nicht ganz so Alten, die aus unerfindlichen Gründen noch herkommen; man bezahlt für ein Elendsquartier, und die Sekretärin rechnet halb mit Abakus, halb mit der Maschine. Legionen von Lecks, alles läuft aus: das Gefühl, als sei dies die eigentliche Geschichte dieser Länder.

VORSTELLUNG EINER REISE: Schwer zu sagen, warum man eine solche Reise macht – weil man sehen will, wie es da unten aussieht, und weil die aufwendige Vorbereitung Sehnsüchte geweckt hat, aber sonst? Vielleicht spielt auch die Lust eine Rolle, mit alten Bindungen zu brechen. Das Beste wäre, wenigstens einige Monate zu fahren. Und nicht wieder an dieselbe Stelle, sondern ein klein wenig weiter, um andere kleine Abenteuer zu erleben. Eine Tour zum Pic Kommunismus. Den Boden von Tadschikistan betreten.

WILTORD: Gleich nach Mireille Mathieu und Joe Dassin, nicht weit hinter Zinedine Zidane, Jacques Chirac und Pierre Richard gilt der Fußballer Sylvain Wiltord von Arsenal London als echter Star. Man erzählt uns, wie er bei der Europameisterschaft in der letzten Minute des Finales ein Tor geschossen habe. Mehrere Personen fragen uns nebenbei nach Neuigkeiten von Aimé Jacquet. Warum auch nicht? Schließlich hat man uns auch auf Guy Béart angesprochen.

XEROX: Man braucht kein langes Russischstudium, um das Wort xerox oder xerocopie zu verstehen, das erste Mal in Alma-Ata, an einem Gebäude mit Säulengang, korinthischen Kapitellen und dazugebastelten Sternen, die sicher einmal rot waren, darüber die Aufschrift „Almaty Business College“. Auf Russisch hat die Fotokopie hier also einen amerikanischen Eigennamen, den Namen eines Serienmodells, der für die Reproduktion, die Wiederholung steht, für die paar kleinen liberalen Republiken mit ihren leichten Abwandlungen, so wie bei den Figuren von Warhol.

YOURTE: Nein, keine Schwärmerei von Jurte-Zelten, auch wenn wir darin geschlafen haben, am Ufer des Sonk-Kol-Sees, auf einem Plateau, etwa 50 Kilometer lang und 50 Kilometer breit, in 3 000 Meter Höhe, wo das Herz schneller schlägt, weil wir eines der imaginären Gefilde betreten haben, die einen das Leben lang vorantreiben, in einer Landschaft, die uns sofort das Gefühl gibt, dass wir in Wirklichkeit Nomaden sind – aber nein, keine lyrischen Ergüsse, ich glaube, es ist genau der richtige Moment, an Saint-John Perse zu erinnern und an seine Begeisterung darüber, dass ein todkranker alter Mann aus dem Zelt geholt wurde, damit er im Angesicht der Sonne, unter dem endlos weiten Himmel der Mongolensteppe sterben konnte. Erst später begriff Perse den wahren Grund dieser Maßnahme: das Zelt sollte vom Gestank des Todes verschont bleiben.

ZERO: eine leere Ziffer, absurde Rechnung, Schwarzbuch, Gleichung der Identität von Kommunismus und Nazismus null und nichtig. Um auf diesen Gedanken zu kommen, hätte ich die Reise sicher nicht machen müssen. Aber es reicht, ein paar Tage dort unten gelebt zu haben, um die Erinnerung an eine sowjetische Zeit zu verstehen, die, obwohl hart, finster und schrecklich, doch nicht weniger menschlich war.

dt. Grete Osterwald

Le Monde diplomatique vom 12.01.2001, von BERNARD CHAMBAZ