12.04.2001

Ungesühnte Verbrechen

zurück

Ungesühnte Verbrechen

SEIT 1992 wurden mehr als 100 000 Algerier getötet. Tausende wurden gefoltert, weitere Tausende sind „verschwunden“. Kein Bereich der Gesellschaft, keine Altersgruppe oder Klasse blieb von der ungebrochenen Welle der Tötungen und Übergriffe verschont, in der Algerien seit fast einem Jahrzehnt versinkt. Selbst die schwächsten Glieder der Gesellschaft – Alte, Kranke, Kinder, Schwangere – wurden Opfer erbarmungsloser Gewalt. Die Zivilbevölkerung wurde von Bomben sowie von Granatangriffen auf Märkte, Cafés, Züge, Busse und andere öffentliche Plätze terrorisiert und hat Angst, sich auf der Straße fortzubewegen, da an Straßensperren bewaffnete Männer willkürlich Fahrzeuginsassen erschießen. Männer, Frauen, Kinder und Kleinkinder wurden bei individuellen oder kollektiven Tötungen durch so genannte islamische Gruppen erschossen, enthauptet, verstümmelt, verbrannt oder von Bomben zerfetzt. Frauen wurden entführt und vergewaltigt. Unbewaffnete Zivilisten wurden von Sicherheitskräften und paramilitärischen Milizen erschossen, manchmal in ihren Häusern, vor ihren Familien. Andere wurden zu Tode gefoltert. Sicherheitskräfte stellten auf öffentlichen Plätzen verstümmelte und entstellte Leichen zur Schau und behaupteten, sie hätten die Opfer bei bewaffneten Auseinandersetzungen getötet.

In den meisten dieser Fälle jedoch, ungeachtet dessen, ob die Menschenrechtsverletzungen von Sicherheitskräften, staatlich bewaffneten Milizen oder bewaffneten Gruppen begangen worden waren, wurde die Wahrheit über den Tathergang nie geklärt, und es wurde wenig unternommen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Trotz der Verpflichtungen Algeriens durch nationale Gesetzgebung und internationale Menschenrechtsstandards versäumte es die jeweilige Regierung, Maßnahmen zu ergreifen, um gründliche, unabhängige und unparteiische Untersuchungen vergangener und gegenwärtiger Verstöße durchzuführen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Der Deckmantel der Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen ermöglichte es der großen Zahl von Verantwortlichen für diese abscheulichen Verbrechen, der Gerechtigkeit zu entgehen, und verwehrte den Opfern und ihren Familien die Chance, Wiedergutmachung zu erlangen.

Die Krise, die Algerien während der vergangenen achteinhalb Jahre durchmachte, hat erschreckende Ausmaße. Allein schon die große Anzahl der Opfer stellt zweifellos ein Hindernis bei der Durchführung von Untersuchungen dar. Verständlich, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf viele Fragen keine Antworten gegeben werden können und dass nicht alle notwendigen Informationen verfügbar sind, um die Tatumstände jedes einzelnen Todesfalls aufzuklären oder alle Verantwortlichen für Mord und Übergriffe zu identifizieren. Jedoch ist die Tatsache, dass bei der Mehrzahl der Tötungen und Massaker die angeblichen Täter nicht vor Gericht gestellt werden und viele von Amnestien profitieren, ein eindeutiger Hinweis auf das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit. Die Behörden behaupten auf der anderen Seite, dass viele der Täter von Massakern und Attentaten von Sicherheitskräften umgebracht wurden, ohne dabei jedoch Details oder Beweise zu liefern.

Amnesty international konnte im Mai 2000 Algerien besuchen, nachdem die dortigen Behörden der Organisation vier Jahre lang die Einreise verweigert hatten. Die Delegierten trafen sich mit Vertretern der Regierung, Opfern und deren Angehörigen, Menschenrechtsanwälten und -aktivisten sowie mit Vereinen und Gruppen, die sich unter anderem mit Frauenrecht und der Rehabilitierung von Opfern von Menschenrechtsverletzungen und Übergriffen auseinander setzen. Während ihres Besuchs hörte die Delegation die Anliegen Hunderter Opfer und ihrer Angehörigen aus erster Hand, Anliegen, die im In- und Ausland zu oft auf taube Ohren gestoßen sind. Ein Teil der in diesem Bericht verarbeiteten Informationen wurde im Mai 2000 gesammelt. Das meiste beruht jedoch auf der kontinuierlichen Recherchetätigkeit, die die Organisation im letzten Jahrzehnt zu Algerien geleistet hat.

Der hier in Auszügen wiedergegebene Bericht von amnesty international ist im November 2000 unter dem Titel „Algerien. Wahrheit und Gerechtigkeit überschattet von Straflosigkeit“, in London erschienen.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2001