12.04.2001

Der Süden trägt die Last der Flüchtlinge

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Der Süden trägt die Last der Flüchtlinge

WER sind die Millionen Menschen, die aus ihren Wohnorten vertrieben werden, durch Kriege, Unruhen oder Massaker, durch Hunger, Armut oder Umweltkatastrophen? Flüchtlinge, Vertriebene, Zwangsmigranten: sie haben fast alles verloren, wenn sie in benachbarte Gebiete oder Länder fliehen, wo sie sich bessere Lebensbedingungen erhoffen, jedoch oft nicht willkommen sind. Von einem Tag auf den anderen finden sie sich an Orten wieder, wo sie keine Grundrechte genießen, wo sie nicht arbeiten und für sich selbst sorgen können, wo sie zum Überleben auf die Barmherzigkeit der Gastländer und der internationalen Gemeinschaft angewiesen sind.

Jede große Krise setzt den ganzen Apparat humanitärer Hilfsmaßnahmen in Gang: Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und die zuständigen internationalen Institutionen, in erster Linie die Einrichtungen des Hohen Kommissars für Flüchtlinge bei den Vereinten Nationen (UNHCR), beginnen ihre lange und mühsame Arbeit: Sie leisten medizinische Hilfe, organisieren die Versorgung mit Nahrungsmitteln, versuchen die Menschen zu schützen und zu beruhigen.

Das Flüchtlingshochkommissariat, das 1950 geschaffen wurde, um bei der Wiederansiedlung von mehr als einer Million Menschen zu helfen, die durch den Zweiten Weltkrieg entwurzelt worden waren, hatte zunächst nur ein Mandat von drei Jahren. Doch die zahlreichen Bevölkerungsbewegungen in der Nachkriegszeit – vor allem während der Ungarnkrise von 1956 – bewogen die Vereinten Nationen, das Mandat des UNHCR fortzuführen und immer wieder um fünf Jahre zu verlängern. Sein Aufgabenbereich wurde dann im Lauf der Zeit noch erweitert. UNHCR soll heute nicht nur Flüchtlingen Schutz und Hilfe bieten, sondern auch anderen gefährdeten Personengruppen wie Asylbewerbern, Ausgewiesenen und vertriebenen Bevölkerungsgruppen.

Die Genfer Konvention von 1951 definiert als Flüchtling jede Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, [...] und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“ Nach der Statistik für das Jahr 2000 hat UNHCR 21,3 Millionen Menschen unter seinen Schutz gestellt, darunter 1,2 Millionen Asylbewerber, 2,5 Millionen Ausgewiesene und 6,9 Millionen Vertriebene. Damit sind nur etwa 11,6 Millionen Menschen, also etwa die Hälfte, als Flüchtlinge im eigentlichen Sinne anerkannt. Doch diese häufig genannten Zahlen ergeben ein unvollständiges Bild der Wirklichkeit. Hinzurechnen muss man die 20 bis 25 Millionen Menschen, die im eigenen Land vertrieben wurden. Ihre Situation ist besonders schwierig, weil sie praktisch weder Schutz noch Hilfe erhalten. Von diesen internen Flüchtlingen gibt es zwei Millionen in Kongo-Kinshasa, vier Millionen im Sudan, mehr als eine Million in Indonesien, jeweils zwischen anderthalb und zwei Millionen in Kolumbien, im früheren Jugoslawien, in Burundi und in Ruanda, in Angola usw. - Zahlen, die nachgerade schwindlig machen. Nur um etwa ein Viertel dieser Menschen kümmert sich UNHCR (nach den Zahlen von 1999 sind dies nicht ganz sieben Millionen Menschen im Kaukasus, im früheren Jugoslawien, in Westafrika und in Sri Lanka), allerdings ohne dafür bislang ein offizielles Mandat zu haben.

Diese Angaben beruhen auf Schätzungen. Wird man jemals erfahren, wie viele Osttimoresen aus Furcht vor den Massakern in den Westteil der Insel abgewandert sind? Wie viele Sudanesen vor Krieg und Hungersnot geflohen sind? Und wie viele Kongolesen in den tropischen Wäldern verschwunden sind? Täglich brechen irgendwo in der Welt Flüchtlinge auf, andere (weit weniger) kehren nach Hause zurück. Sind es zwanzig Millionen? Oder fünfzig? Niemand kann es mit Gewissheit sagen.

Über die Frage der (innerhalb des eigenen Landes) Vertriebenen gibt es bei den Vereinten Nationen erbitterte Diskussionen. Bislang ist UNHCR für ihren Schutz nur am Rande zuständig, denn als Flüchtling gilt nur, wer eine internationale Grenze überquert hat. Sollten, wie es der Sonderbeauftragte für Vertriebene des UN-Generalsekretärs empfiehlt, Flüchtlinge und Vertriebene juristisch den gleichen Status haben? Einige UNHCR-Vertreter lehnen diesen Vorschlag mit dem Argument ab, damit werde der Status der Flüchtlinge nur noch prekärer; zudem verfüge UNHCR weder über die nötigen Strukturen noch über das erforderliche Geld für eine solche neue Aufgabe.

UNHCR finanziert sich hauptsächlich aus freiwilligen Beiträgen der Regierungen. Im Jahr 2000 betrug das Budget für seine weltweiten Aufgaben eine Milliarde Dollar. „Um alles bezahlen zu können, was nach Einschätzung der Organisationen vor Ort gebraucht wird, müssten wir noch einmal ein Drittel mehr aufwenden“, klagt Ron Redmond von der Informationsabteilung des UNHCR. Aber die Staaten zeigen sich zunehmend unwillig, in die Tasche zu greifen. Dem Flüchtlingskommissariat fällt es von Jahr zu Jahr schwerer, sein Budget auszugleichen. 1980 konnte man noch 60 Dollar pro Flüchtling und Jahr ausgeben, 2001 nur noch 40 Dollar.

„Bestimmte Förderprogramme für Wohnen, Gesundheit und Bildung, die den Flüchtlingen zu mehr Selbständigkeit verhelfen sollten, können wir nicht weiterführen“, erklärt Michel Gabaudan von der UNHCR-Abteilung für die Abstimmung mit den Gebern. „Das bedeutet, dass Hunderttausende Kinder nicht eingeschult werden können und dass Ernährungsprogramme eingestellt werden müssen.“ Im Prinzip sollen die Gelder der Geberländer für Nothilfeprogramme und zur Förderung dringender Projekte eingesetzt werden. Manche Regierungen bestehen jedoch darauf, dass ihre Zuwendungen ganz bestimmten Regionen zugute kommen. Damit verliert UNHCR die Möglichkeit, Hilfsgelder dorthin zu lenken, wo sie am dringendsten gebraucht werden. 1999 kamen bei einem Flüchtling im Kosovo durchschnittlich 120 Dollar an, bei einem Flüchtling in Westafrika aber nur 35 Dollar.

Darüber hinaus zeigen die Statistiken, dass die reichen Länder, die sich gegen Zuwanderung immer mehr abschotten, keineswegs die Hauptlasten tragen. Kaum 5 Prozent der weltweit erfassten Flüchtlinge und Vertriebenen versuchen ihr Glück als Asylbewerber in Europa und Nordamerika. Und nur 0,2 Prozent von ihnen gelingt es, sich dort niederzulassen – wobei von diesen wenigen wiederum 95 Prozent in Nordamerika landen, das im Unterschied zu Europa nicht vergessen hat, was es der Einwanderung verdankt.

Nach Meinung von Ruud Lubbers, dem neu ernannten Hohen Flüchtlingskommissar, verhalten sich die Regierungen der reichen Länder widersinnig: „Einerseits stellen sie keine Mittel für Programme bereit, die den Flüchtlingen helfen könnten, in ihre Länder zurückzukehren oder sich dort, wohin es sie verschlagen hat, besser einzurichten, andererseits beschränken sie die Möglichkeiten für Angehörige bedrohter Bevölkerungsgruppen, in diesen Ländern selbst Asyl und Sicherheit zu erlangen.“

dt. Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 12.04.2001