Von Alaska bis Feuerland
BEIM dritten Gipfel der insgesamt 34 Staats- und Regierungschefs von Süd-, Mittel- und Nordamerika – nur Kuba wird vor der Tür bleiben – stehen Verhandlungen über eine gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA, Free Trade Area of the Americas) auf der Tagesordnung. Schon 1990 war ein solches Abkommen vom damaligen Präsidenten George Bush senior angeregt worden. Mit der Absicht, die ursprünglich auf 2005 befristeten Verhandlungen zu beschleunigen, will nun der neue Präsident George W. Bush zusammen mit seinem Handelsbeauftragten Robert Zoellick durchsetzen, dass die Normen der Nafta künftig für den gesamten Kontinent Gültigkeit haben. Vor allem die Prinzipien der Gleichbehandlung ausländischer und inländischer Waren und Unternehmen, die so genannte Inlandsbehandlung, sowie die Nichtdiskriminierungsklausel sollen künftig auf sämtliche Märkte, Dienstleistungen und Investitionen ausgedehnt werden. Dabei zählten diese Regelungen gerade in Bezug auf die Investitionen zu den umstrittensten des Multilateralen Abkommens über Investitionen (MAI), das im April 1998 aufgrund des weltweiten Protestbündnisses gegen die so genannte „Zwangsjacke für die Nationalstaaten“ erst einmal auf Eis gelegt wurde.
In der derzeitigen Fassung soll sich die Integration auf ein Dutzend Bereiche erstrecken, die in vier übergreifenden Themengruppen zusammengefasst sind: erstens Bildung und Erziehung, zweitens Demokratie und Menschenrechte, drittens Armut und erst viertens und ganz zum Schluss die ökonomische Integration. Obwohl die Verhandlungen also eigentlich ein ganzes Bündel von Themen umfassen, steht doch im Mittelpunkt der Diskussionen die Schaffung einer Freihandelszone für einen einzigen gigantischen Wirtschaftsraum. Und die wäre mit einem fürstlichen Geschenk für die internationalen Konzerne verbunden: eine Welle von Privatisierungen und Deregulierungen. Washington hat sich im Vorfeld sogar schon bereit erklärt, seine eigenen Antidumpinggesetze nicht anwenden zu wollen, um den nordamerikanischen Markt für Landwirtschaftsprodukte aus dem Süden zu öffnen.
Wenn alles im Sinne der Verhandlungspartner verläuft, wird am Ende ein System etabliert sein, bei dem die Wirtschaft mit den verschiedenen Regierungen intensiv und Hand in Hand zusammenarbeitet. Dieses System wird bei weitem parteiischer, selektiver und rigider sein als das auf der multilateralen Ebene geplante WTO-Modell.
Die Bedeutung dieser Verhandlungen und ihre Auswirkungen auf die Menschen lassen sich anhand einiger Zahlen ermessen: Nach zwei Jahrzehnten neoliberaler Politik, die Lateinamerika eigentlich aus der Unterentwicklung herausführen sollte, lebten Anfang 2000 über 36 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung in Armut (rund 220 Millionen Menschen). Diese Zahl entspricht der von 1994 und liegt leicht über der von 1980!
Mit gutem Grund also regt sich seit Jahren in den südamerikanischen Ländern der Widerstand gegen die gigantische Freihandelszone: In vielen Regionen des Doppelkontinents wurden – und zwar unter Einbezug Kubas – Organisationen gegründet, nationale Netzwerke aufgebaut, haben Wirtschaftssektoren ihre Verbindungen enger geknüpft, wurden Gegengipfel abgehalten, bei denen Oppositionelle aus unterschiedlichsten Richtungen zusammenfanden und ihren Protest in einem Entwurf für ein „Abkommen zwischen den Völkern Amerikas“ formulierten: „Handel und Investitionen sollen kein Selbstzweck sein, sondern geeignete Mittel, uns zu einer gerechten und nachhaltigen Entwicklung zu führen.“ Mit gutem Grund auch sind die FTAA-Verhandlungen bislang weitgehend diskret und hinter verschlossenen Türen geführt worden.
Dieser Gipfel zählt zweifellos zu den wichtigsten, die Kanada je organisiert hat. Von offizieller Seite erwartet man 9 000 Gäste, die sich in drei zahlenmäßig gleich starke Gruppen aufteilen: die offiziellen Delegationen, die Journalisten und die Polizisten. In Sachen Sicherheit wird alles aufgeboten, was Kanada hat. Die Polizeikräfte, die königliche Gendarmerie und die Sicherheitskräfte von Quebec haben alle Maßnahmen getroffen, um in der örtlichen Bevölkerung ein Gefühl der Belagerung entstehen zu lassen. Eine Palisade von drei Meter Höhe wurde errichtet, die die Bewohner der Altstadt von Quebec in ihrem Viertel einsperrt, sodass sie nur mit einem eigens dafür ausgestellten Ausweis hinaus und hinein kommen. Die Geschäftsleute in diesem Innenstadtbereich werden für ihre Verluste entschädigt, und die Schulen bleiben in der Woche des Gipfeltreffens geschlossen. Die Hotelzimmer und Versammlungsräume in der Oberstadt sind allesamt mit Beschlag belegt. Geschätzte Kosten für die Großveranstaltung: mindestens 70 Millionen Dollar.
Von offizieller Seite werden natürlich immer wieder Seattle, Prag, Nizza und Davos bemüht, um diese Maßnahmen zu rechtfertigen. Der Minister für Staatsschutz in Quebec, Serge Ménard, hat die Vorsorge gar so weit getrieben, das Gefängnis von Orsainville räumen und auf einen Schlag 600 Zellen frei machen zu lassen. Vonseiten der Regierung wird gehäuft an die demokratischen und zivilgesellschaftlichen Tugenden der Bürger appelliert und zu Informationsveranstaltungen geladen. So ließ bei einer Veranstaltung am 7. Februar in Ottawa im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten der offizielle Vertreter des Premierministers für den Gipfel der drei Amerikas, Marc Lortie, die Teilnehmer wissen, dass man daran denke, eine „Demokratieklausel“ sowohl in die Präambel als auch in den Text der Erklärung einzufügen, die auf dem Gipfel von Quebec zur Verabschiedung ansteht.
Unterdessen hat man aufseiten der Bürgerinitiativen und Gruppen reichlich zu tun, um den Regierenden in Erinnerung zu rufen, dass die Vereinigungs- und Demonstrationsfreiheit zu den Grundrechten gehören. In Quebec hat sich an Ort und Stelle im Zusammenhang mit der Operation Québec Printemps (OQP 2001) eine breite Koalition gebildet, in der sich FTAA-Gegner aus Quebec und Umgebung, aber auch aus Montreal, Toronto und aus ganz Kanada zusammengeschlossen haben.
DORVAL BRUNELLE