11.05.2001

Die Vermarktung der Freiheit

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Die Vermarktung der Freiheit

Von TOM FRANK *

ZU den hartnäckigsten Mythen der vermeintlichen „Kulturkriege“, die nun seit über dreißig Jahren in Amerika geführt werden, gehört die Auffassung, dass der jugendlichen Gegenkultur per se eine tabubrechende Macht innewohne, dass der ewige Kampf zwischen Hippies und Kleinbürgern, zwischen Discogehern und Kirchgängern, zwischen Individualisten und Konformisten mindestens ebenso bedeutend ist wie einst der Kampf zwischen den Klassen.

Dieser Glaube an die Bedeutung des Kampfes zwischen dem, was hip ist, und dem, was spießig ist, wird hingenommen wie das Wort Gottes – nicht nur von den Aposteln der akademischen Kulturwissenschaft, sondern auch von unserer Unterhaltungs- und Werbeindustrie. Wer in den Neunzigerjahren zur bevorzugten abendlichen Sendezeit den Fernseher anschaltete, bekam unvermeidlich zu sehen, wie die amerikanische Wirtschaft in ihrer Werbung die Trommeln für die „Revolution“ rührte. Sie rief kühn dazu auf, mit den Regeln zu brechen. Sie bestand vehement darauf, ohne Rücksicht auf Bosse, Anzüge und alte Frömmlerinnen „an die äußersten Grenzen zu gehen“.

Vom zwei Tonnen schweren Geländewagen bis zu Tennisschuhen und Zitronenlimonade – in der Werbung galt all das als willkommenes Attribut der jugendlichen Rebellion – als etwas, was man zusammen mit einem Gitarrensolo von Jimi Hendrix, einem Lieblingszitat von Jack Kerouac oder den würzigen, aufregenden Reimen aus der Straßenkultur der Neunziger konsumiert. Kabellose Bohrmaschinen, mit denen man endlich an keiner Strippe mehr hängt und ganz bei sich sein kann. Parfümverkäuferinnen, die aufgemacht sind, als wären sie einem exotischen Stamm entsprungen. Softwarehersteller, die entschlossen sind, das Volk an die Macht zu bringen. Alternative Börsenmakler. Alles so radikal. So knallrot. Und sooo lecker!

Die Firma Nike ist längst dafür berüchtigt, dass sie ihre Schuhe von Kindern in asiatischen Ausbeuterbetrieben herstellen lässt. Aber der amerikanischen Jugend gegenüber stellt sich Nike als Bannerträgerin der „Revolution“ dar. Apple Macintosh und die Gap-Boutiquen haben ihre Firmenfassaden mit Bildern verschiedener Avantgarde-Größen dekoriert. Geballte Fäuste recken sich allüberall gen Himmel. Der Getränkehersteller 7-up fabuliert von einer bösartigen weltweiten Verschwörung, die die Konsumenten davon abhalten soll, 7-up zu trinken.

Warum ist die amerikanische Kommerzkultur heute so wild entschlossen, cool zu sein? Da wäre zunächst die demografische Erklärung. Die Werbeleute studieren die Jugendkultur, um die Jugend anzusprechen. Sie benutzen die Statussymbole der amerikanischen Highschool, weil sie auf diese Weise mehr Sprite, mehr Reebok-Schuhe und mehr Levi’s-Jeans verkaufen können. Das erklärt aber noch nicht, warum das Hipsein von der Werbeindustrie in einem solchen Ausmaß zelebriert wird – warum die Agenturen selbst das Coolsein kultivieren, und warum so viel Trotz und jugendliches Aufbegehren bemüht wird, um Käufer zu finden, die doch deutlich über 18 Jahre alt sein müssen. Denn schließlich spielt man ja keine Jimi-Hendrix-Songs, um Geländewagen an Oberschüler zu verkaufen.

Diese Kultur des Hipseins verrät offensichtlich etwas über die Konsumgesellschaft, was jenseits des Werberinteresses an jungen Leuten liegt. In Amerika steht der Konsumismus spätestens seit den Zwanzigerjahren für eine Revolte gegen ältere, an Arbeit und Produktion orientierte Wertvorstellungen. Er lehnt sich gegen die Selbstbeschränkung und Unterdrückung der puritanischen Tradition auf und betont stattdessen das Vergnügen und die Befriedigung. Er kann auf Sparsamkeit und Beständigkeit verzichten und hebt dafür Mode und Schnelllebigkeit hervor. Er zieht die Jugend dem Alter vor, den Wandel der Tradition, das Neue dem Alten, und seit den Sechzigerjahren auch das Angesagte dem Spießigen.

Dass die Werbeindustrie fast manisch dem Zeitgeist frönt, hat nicht zuletzt mit ihren besonderen Problemen zu tun. Agenturmanager haben seit den Sechzigerjahren immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ihr Zielpublikum rasch abstumpft und die Behauptungen der Werbung anzweifelt. Die Werbung unterbricht Fernsehsendungen. Die Werbung ruft uns beim Abendessen an. Werbung ist oft beleidigend und dumm. Und es gibt einfach viel zu viel davon. Derzeit ist der Durchschnittsamerikaner einer Million Werbebotschaften im Jahr ausgesetzt. Sich in diesem Gewirr überhaupt noch Gehör zu verschaffen und das Misstrauen des Publikums zu umgehen – das sind die beiden schwierigsten Aufgaben für die Branche. Um sie zu bewältigen, haben die Werber einen Kult der Kreativität geschaffen, nach dem Reklame nur dann ihr Geld wert ist, wenn sie schockiert und überrascht. Die Werbung vergöttert das Neue also nicht nur aus struktureller Notwendigkeit – das aktuelle Produkt ist immer besser als das Vorjahresmodell –, sondern vor allem deshalb, weil in der Neuheit die einzige Verkaufsbotschaft liegt, die wirklich rüberkommt. Und deswegen pflegen die Werbekreativen das Ideal des Hipseins auf so extreme Weise. Sie waren es, die auf der Madison Avenue das offene Büro eingeführt haben, sie waren es, die die Freizeitkleidung am Arbeitsplatz zum Standard machten.

Der französische Agenturmanager Jean-Marie Dru hat dieses inzwischen grundlegende kreative Verfahren in seinem Buch „Disruption. Regeln brechen und den Markt aufrütteln“ (Campus 1997) beschrieben. Um das Deo oder Allergiemittel zu verkaufen, das er an den Mann oder die Frau bringen will, muss ein Werbemacher zunächst irgendeine gesellschaftliche Konvention ausfindig machen (eine jener „vorgefertigten Ideen, die den Status quo aufrechterhalten“). Dann muss er diese Konvention in einem ekstatischen Befreiungsschlag zerschmettern, die Dru als „Disruption“ bezeichnet („Alles kräftig umrühren, neue Regeln aufstellen, den Konsumenten aufwecken und dann die Veränderung herbeiführen“). Schließlich muss der Werber einen Weg finden, die Marke, für die er schuftet, mit einer übergreifenden „Vision“ von der Befreiung des Menschen zu verbinden. Erfolgreiche Marken sind demnach solche, die von sich behaupten, gegen jedwede gesellschaftliche Konvention anzutreten. Mit Hingabe erzählt Dru von Werbespots, in denen prüde Rentner von vergnügungssüchtigen Jugendlichen gedemütigt werden, in denen Guinness-Bier von jungen Nonkonformisten als eine „neue Art, ihren ganz persönlichen Individualismus auszudrücken“, entdeckt wird und in denen Apple Macintosh das altmodische Management verspottet – eine Firma, die Dru als „Anti-Establishment-Unternehmen“ beschreibt. Dabei gibt es freilich eine Konvention, die für den Kreativen, den „Disruptor“, absolut tabu bleibt: die Markentreue. „Eigentlich besteht gar kein Widerspruch zwischen der irritierenden Disruption und verstärkter Markentreue“, befindet Dru. „Wenn Firmen und Marken niemanden irritieren, dann laufen sie Gefahr, dass die Konsumenten ihrer Produkte bald überdrüssig werden und das Interesse verlieren. Die Irritation dagegen bestärkt ihr Interesse und ihre Bindung an die Marke.“

Ein ausgesprochen banaler Vorgang – der über kurz oder lang in die Apokalypse führt. Wer immer über das Thema Management Bücher und Artikel schreibt, bezeichnet sich selbst als „Revolutionär“. Aber Dru hat Größeres im Sinn. Er will, dass die Wirtschaft die verführerische Idee der sozialen Gerechtigkeit für sich entdeckt. Damit eine Marke erfolgreich sein kann, so Dru, muss sie „verwegen“ sein. Sie muss „aus Träumen gemacht“ werden – in einem Verfahren, zu dessen Illustration er verschiedene linke Klassiker zitiert. Und da sich die Linke endgültig auf dem Rückzug befindet, bietet sich eine ganze Palette ruhmreicher und subversiver kultureller Nischen dazu an, von Unternehmen besetzt zu werden. Benetton hat es geschafft, seine Marke mit dem Kampf gegen den Rassismus gleichzusetzen. Apple steht für den Kampf gegen die Technokratie, und Pepsi hat die Jugendrebellion in Beschlag genommen. The Body Shop hat das Mitgefühl für sich gepachtet, Reebok den Nonkonformismus, und MTV reklamiert die Glaubwürdigkeit beim Underground. Wir haben zwar keine Bewegung für soziale Gerechtigkeit, dafür aber eine schöne neue Markenwelt.

Die Vermarktung der Befreiung funktionierte in den Neunzigerjahren deshalb so gut, weil sie sich selbst als kritischen Diskurs, als Kritik der Konsumgesellschaft ausgab. Die Zeitgeistwerbung gibt zu, dass etwas nicht stimmt mit dem puren Kapitalismus. Sie erkennt an, dass uns die Konsumgesellschaft nicht gibt, was sie uns versprochen hat, und dass sie die Probleme nicht löst, die sie lösen sollte. Diese Werbung macht kein Hehl daraus, dass der Konsumismus in Wahrheit ein gigantischer Betrug ist: lauter sinnlose Arbeit, der dauernde Konkurrenzkampf, die Tretmühle, das Büro als Hölle. Und als Antwort bietet sie uns nicht nur Seifen, die Weißes noch weißer waschen, sondern Seifen, die uns befreien, Limonaden, die zu Inkarnationen des Individualismus werden, Radiosender, die sich die Rebellion auf die Fahne schreiben, Automobile, die ein karnevalistisches Lebensgefühl transportieren, und Hamburger, die sich jeglichem Hegemoniestreben widersetzen.

Bei all dem sollte man nicht übersehen, dass die Kapitalismuskritik der Werbung seltsam altmodisch anmutet. Sie erinnert an die Fünfzigerjahre und ihre Bücher über die „Massengesellschaft“. Wenn man der Werbung Glauben schenken darf, dann besteht das Problem des Lebens im Kapitalismus darin, dass er uns eine irgendwie seelenlose Zivilisation beschert hat. Schuld daran sind aber nicht etwa Ausbeutung, schlechte Gesundheitsversorgung oder Ähnliches, sondern Konformismus und Verlogenheit. Aus der Sicht der Madison Avenue sind unsere Probleme immer spiritueller Natur, denn als solche lassen sie sich recht einfach lösen. Die Vermarktung der Befreiung erfindet Konsumenten, die sich mit Hilfe einer Marke von den alten Ordnungshütern emanzipieren, die die Ketten der industriellen Ordnung sprengen, die der Routine der Bürokratien und Hierarchien entfliehen und schließlich zum Authentischen finden – dem Allerheiligsten des Konsumenten.

Dank des mit Milliarden gespeisten Sprachrohrs Werbung ist die Kritik der Massengesellschaft, nach der die Werbung ein grundlegendes Übel ist, zu einer Art amerikanischer Dauerkritik geworden. Sie lässt sich einfach nicht unterkriegen – wie oft sie auch widerlegt wird und wie überholt ihre Wertschätzung durch die Ökonomie auch sein mag. So lange nur ein einziger Teenager noch einen Dollar Taschengeld auszugeben hat, wird uns die Werbung weiter einreden, das Problem unserer Gesellschaft liege im Konformismus und der Karneval sei die einzige Lösung. Wenn es in unserer berühmt-berüchtigt fragmentierten Gesellschaft noch etwas gibt, was einer Rahmenerzählung gleichkommt, dann ist es eher ein Rahmenkonflikt: Wir führen einen ständigen Kampf, und zwar nicht gegen die Kommunisten, sondern gegen die puritanische, geisttötende, durch und durch verlogene Macht der Konsumgesellschaft selbst. Und wir leisten Widerstand, indem wir bei Bennigan’s essen gehen, Madonna-Videos anschauen, in unseren Jeeps und Geländewagen mit ziemlich authentischen Menschen zu tun haben – oder indem wir wenigstens jene Konsumenten bewundern, die genau das tun.

Daniel Bell hat einmal behauptet, der Konflikt zwischen dem Zwang zur Effizienz am Arbeitsplatz und dem überzogenen Hedonismus in der Freizeit sei der zerstörerischste „kulturelle Widerspruch“ des Kapitalismus. Inzwischen sind wir eines Besseren belehrt. Zumindest an der Oberfläche löst der Markt selbst die Probleme des Marktes, und die Kritik am Kapitalismus ist auf merkwürdige Art zum Lebenselixier des Kapitalismus geworden. Er ist ein geschlossenes ideologisches System, innerhalb dessen Kritik – wenn auch nur symbolische – aufgenommen und aufgehoben werden kann.

Im wirtschaftlichen Gesamtbild der Neunzigerjahre kommen Revolution, Regelbruch, radikaler Wandel, Ermächtigung des Einzelnen, Grenzgängertum oder Ähnliches nicht vor. Es war vielmehr das Jahrzehnt der großen Medienmonopole, des Aufstiegs von Microsoft und der explodierenden Fusionen bei Banken, Fernsehsendern, Werbeagenturen, Buch- und Zeitungsverlagen und in vielen anderen Branchen. Und es war die Zeit, in der die Arbeiterbewegung verkümmert und jeder Gedanke an einen mächtigen, umverteilenden Staat endgültig gestorben ist. Parallel zu diesem umfassenden Wandel erlangten die Unternehmen immer mehr Macht über immer mehr Bereiche des Alltags. In den Neunzigerjahren arbeiteten die Amerikaner härter und länger als in den vorangegangenen Jahrzehnten. Sie sahen mehr Werbung auf mehr Werbeträgern als je zuvor und haben sich fast schon daran gewöhnt, Familien in einem gesponserten Auto zu sehen, das von oben bis unten mit Firmenlogos beklebt ist. Sie unterzogen sich mehr Persönlichkeits- und Drogentests denn je. Sie häuften immer größere Haushaltsschulden an. Sie hatten weniger Einfluss auf die Bedingungen, unter denen sie lebten und arbeiteten, als in den fünfzig Jahren zuvor.

Diese Rahmenbedingungen haben unseren Zorn stetig genährt. Und von der ewig empörten populistischen Rechten bis zu den Vermarktern der Befreiung in der Madison Avenue haben sich im amerikanischen Alltag diejenigen durchgesetzt, die es verstanden haben, diesen Zorn für ihre eigenen Zwecke zu nützen.

Aus dem Engl. von Herwig Engelmann

* Autor von „The Conquest of Cool: Business Culture, Counter Culture and the Rise of Hip Consumerism“, University of Chicago Press 1997, und „One Market Under God: Extreme Capitalism, Market Populism and the End of Economic Democracy (Doubleday, New York, 2000).

Le Monde diplomatique vom 11.05.2001, von TOM FRANK