15.06.2001

Eine Zementfabrik in Astrachan

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Eine Zementfabrik in Astrachan

* Soziologin und Dozentin an der Universität Paris VIII, Verfasserin von „Les Ouvriers russes dans la tourmente du marché 1989-1999“, Paris (Syllepse) 2000.

ASTRACHAN. Eine Stadt, wie es in Russland viele gibt, vielleicht ein wenig südlicher und auch ein bisschen bunter als andere. Und doch bietet sich derselbe apokalyptische Anblick wie überall: zerfallende Industriekomplexe und Straßen, die noch immer Leninprospekt oder Sowjetskaja heißen und wo sich, zu Füßen imposanter Bauten aus sowjetischen Zeiten, Verkaufsstände und Holzbuden aneinander reihen. Und dann ist da noch die Wolga, die etwas weiter südlich ins Kaspische Meer mündet. Einige Kilometer stromaufwärts liegen die Industriezentren der Gebietshauptstadt. Ein Ort namens Strelezki sticht von weitem ins Auge: Rauch steigt aus dem Kesselhaus auf, regelmäßig dröhnt das Stampfen der Ramme, Rufe und Flüche wehen zum Fluss hinüber, und aus den Fabriktoren rollen Lastkraftwagen mit Stahlbeton. SchBI ist im Umkreis von zig Kilometern der einzige Industriekomplex, der noch in Betrieb ist. Das Zellulosekombinat hat geschlossen, die Backsteinfabrik ist abbruchreif.

Noch hält sich SchBI ganz wacker, produziert, so gut es eben geht, weiter ihren Zement. Das liegt vor allem am Kampfgeist und der Hartnäckigkeit der Belegschaft, zumindest der 200 Leute, die von den 500 Beschäftigten im Jahre 1997 übrig geblieben sind. Im Herbst 1998 beschlossen sie, nicht länger tatenlos zuzusehen, wie ihr Unternehmen ins Aus manövriert und heruntergewirtschaftet wird. Schon damals wurde fast nichts mehr produziert, die Arbeiter hatten bereits seit einem Jahr keinen Lohn mehr bekommen. Nun forderten sie die Auszahlung der Lohnrückstände und verlangten von der Gebietsverwaltung, eine Kontrollkommission zu entsenden. Am 1. Oktober verkündeten sie einen unbefristeten Streik.

„Die Leitung glaubte einfach nicht, dass wir das wirklich wahr machen würden, sie waren vollkommen aus der Fassung. Erst nach einer Woche, als wir die Zugänge zur Fabrik blockierten, schlug der Direktor einen anderen Ton an“, erinnert sich Dima, ein junger Gewerkschaftsführer. Doch der Streik blieb wirkungslos. Zwar erschien die geforderte Kommission, überprüfte die Bücher und stellte auch eine ganze Reihe von Unregelmäßigkeiten fest. Der Direktor musste eine Strafe zahlen, sogar ein Strafverfahren wurde gegen ihn eingeleitet. Die Ermittlungen wurden jedoch binnen kürzester Zeit eingestellt und der Direktor nicht weiter behelligt. Er nahm seinen Hut und sitzt heute glücklich und zufrieden an der Spitze eines anderen Unternehmens der Region. Die Löhne aber wurden erst gezahlt, nachdem die Arbeiter die Autobahn von Astrachan blockiert und das Gebäude der Gebietsverwaltung besetzt hatten. Inzwischen läuft die Produktion wieder – fragt sich nur wie. Denn seit den Sechzigerjahren wurde hier nichts mehr erneuert. „Es ist wirklich hart, zu sehen, wie um uns herum alles zusammenfällt“, sagt Wolodja, der in der Wartungsbrigade arbeitet. Die Firmenleitung glänzt nicht gerade durch Ehrlichkeit oder Kompetenz. Die Organisation der Produktionsstruktur wird derart vernachlässigt, dass es fast schon nach absichtlicher Schikane von oben aussieht.

Diesen Verdacht hegen im Übrigen auch die Beschäftigten. Einmal müssen sie auf Zement warten, ein andermal fehlt der Sand. Die Waggons treffen nicht nur um Tage verspätet ein, sondern immer auch kurz vor Arbeitsschluss, sodass für das Entladen Überstunden gemacht werden müssen. Die Werkstatt, wo der Zement vorbereitet wird, bekommt unvollständige oder zumindest missverständliche Anweisungen, was zu fehlerhaften Mischungen führt. Auch kommt es vor, dass zwei Kunden je eine Lieferung Zement erhalten – aber leider die jeweils falsche. Dann wird plötzlich mitten in der Produktion das Wasser abgestellt. Anna, Brigadeführerin in der Zementvorbereitung, fragt überrascht bei ihren Kollegen nach und bekommt zu hören, dass „der Direktor die Schleusentore hat öffnen lassen, damit die Keramikfabrik mit Wasser versorgt wird. Mitten in der Arbeit! Die gesamte Produktion war lahm gelegt!“

Auch Unterschlagung von Geld und Waren, Schmiergeldzahlungen und andere fragwürdige Praktiken sind an der Tagesordnung. Eines Tages taucht in Annas Büro einer der höheren Firmenchefs auf und sagt, sie solle einen Laster mit Kies beladen lassen. Ein Auftragspapier hat er nicht, und sie soll auch keine Rechnung ausstellen. Angeblich hat vor ein paar Wochen irgendein Unternehmen SchBI mit einer Fuhre Kies aus der Patsche geholfen, die müsse nun zurückerstattet werden. Anna sucht in ihren Büchern, findet jedoch keinerlei Hinweis auf eine Vereinbarung zwischen den beiden Firmen. Sie streiten, der Ton wird schärfer, schließlich greift Anna zum Telefon. Doch es ist nichts zu machen: Der Laster verlässt die Fabrik, beladen mit dem bisschen Kies, der noch für den Rest der Woche hätte reichen sollen.

Solche Vorgänge bleiben den Arbeitern natürlich nicht verborgen. Sie empören sich hinter vorgehaltener Hand, reagieren jedoch selten mit offenem Protest. Ihr Widerstand besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Fabrik trotz allem arbeitet. Tagtäglich vollbringt die Wartungsbrigade wahre Wunder, um die kaputten oder schrottreifen Anlagen mehr schlecht als recht am Laufen zu halten. Dies passiert in ständiger Hast, mit dem, was gerade bei der Hand ist, und immer etappenweise, damit die Produktion nicht gestoppt werden muss. Manchmal werden sie bezahlt, manchmal auch nicht.

Fast täglich machen die Brigademitglieder zusätzliche Arbeiten, die sie nicht tun müssten: Sie klettern außen an dem Silo hoch, in dem der Zement gelagert wird, und „lösen das Polster ab“, wie sie es nennen. Das bedeutet konkret: Sie werfen eine Art Knüppel, der an einem Seil hängt, gegen die Silowände und lockern dadurch den Zement, der sich innen abgesetzt hat und dann wieder herunterfällt. So müssen sie sich ein paar Kubikmeter Zement zusammenklauben, weil der neue wieder mal nicht rechtzeitig eingetroffen ist.

Dennoch kann von einer Mobilisierung der Arbeiterschaft zu gemeinsamem Handeln kaum die Rede sein. Ihre Mentalität ist von Fatalismus und Defätismus geprägt. Das wird in den Äußerungen beinahe aller Männer der Wartungsbrigade deutlich. „Das sind doch alles Gauner da oben, der Direktor genauso wie die Politiker und diese ganze Riege. Es hat überhaupt keinen Zweck, gegen die etwas zu unternehmen“, sagt Leonid. Wassili drückt die allgemeine Resignation noch drastischer aus: „Ich werde mich an keiner Aktion beteiligen. Die Machthaber haben ja sowieso alles in der Hand. Sie können machen, was sie wollen, auch auf Demonstranten schießen oder sie ins Gefängnis stecken. Und dann gibt es ja auch noch die Firmenleitung. Wenn du was unternimmst, für deine Rechte kämpfst, dann setzen sie dich vor die Tür.“

Die Machthaber – die wlasti – geistern durch alle Köpfe, tauchen immer wieder in den Gesprächen auf. Sie, das sind die Reichen, die Politiker, die Chefs, die Polizei, die Mafia. Sie, gegen die man selbst mit vereinten Kräften nicht anzukommen scheint. Nur Jewgeni stößt nicht ins selbe Horn, vielleicht, weil er jünger und noch nicht so zynisch ist. Seit er beim Streik von 1998 mitgemacht hat, ist er anderer Meinung: „Ich habe gesehen, wie die Leute schuften und was in der Fabrik so läuft, die Mauscheleien der Direktion. Da habe ich mir gesagt, dass es sich lohnt, etwas zu tun. Sonst hätten wir ja überhaupt nichts erreicht.“ Und er fügt hinzu: „Was haben wir denn zu befürchten? Die Polizei? Wieso sollten wir vor der Angst haben? Es stimmt, es hat gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben. Ein Gewerkschafter ist in der Stadt ums Leben gekommen, und die Polizei hat bei Versammlungen einige von uns zusammengeknüppelt. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen! Aber wenn wir viele sind, dann halten sich die Polizisten zurück.“

Vor „denen da oben“ macht man sich am besten möglichst klein. Wenn es nicht anders geht, macht man mit ihnen gemeinsame Sache, oder genauer: man tut so, als ob. Wenn der Direktor in der Werkhalle vorbeischaut, drückt man ihm die Hand und wechselt ein paar Worte mit ihm. An seine Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit glaubt niemand auch nur einen Augenblick. Genauso misstrauisch zugeknöpft geben sich die Leute, wenn, wie am 22. August 2000, der Gebietsgouverneur aufkreuzt. Die Gewerkschaft hatte sein Erscheinen verlangt. Diskutiert werden sollte über die Zukunft des Unternehmens. Die aktivsten Mitglieder der Belegschaft – überwiegend Führungskader – hatten ihre Kollegen aufgefordert, sich dem bereits angemeldeten Konkurs des Unternehmens entschieden zu widersetzen – der allerdings im Plan des vom Staat eingesetzten Direktors vorgesehen war.

Und so schweigen die Arbeiter an diesem 22. August oder reden leise untereinander. Wie immer dominiert das Gefühl, sie seien nicht befugt, einen eigenen Standpunkt zu vertreten. Was sie besonders verärgert, ist die Art und Weise, in der die Versammlung abläuft: „Wir warten schon über eine Stunde, ein bisschen Respekt könnten sie doch an den Tag legen! Wir sind immer die Letzten, die informiert und gefragt werden!“

Als schließlich die Verhandlungspartner (Gouverneur, Direktion, Abgeordnete und Gewerkschafter) den Saal betreten, wird es still.

Der Gouverneur ergreift als Erster das Wort und bietet ein Bravourstück an Demagogie: „Konkurs anmelden kommt überhaupt nicht in Frage. Die Kreditgeber haben mir ihr Wort gegeben. Die Region übernimmt die Garantie dafür, dass das Unternehmen auch in Zukunft überlebensfähig bleibt.“ Applaus! Dann schaut er die Versammelten scharf an und fügt hinzu: „Aber eines müssen Sie wissen, ab jetzt heißt es: Arbeit, Disziplin, und Schluss mit der Klauerei.“ Hier die wohlwollende und großzügige Staatsmacht – dort die Arbeiter, die alle Faulenzer und Diebe sind. Die Methode ist alt, wird aber nach wie vor gern eingesetzt. Wenn Produktionsstätten schließen, Bomben explodieren, U-Boote versinken, sind nie die Politiker schuld, sondern die Arbeiter oder die Tschetschenen – oder die Amerikaner.

Und dennoch: Der Trick funktioniert. Die Beschäftigten von SchBI haben keinen Widerstand geleistet. Natürlich wissen sie selbst, dass sie mehr arbeiten und ihre kleinen Nebengeschäfte lassen könnten. Doch wer in Russland ist nicht am „Organisieren“, am Mauscheln und Durchwursteln beteiligt? Die Schattenwirtschaft wird ja gerade deshalb nicht in Frage gestellt, weil alle von ihr profitieren. Die Mächtigen des inoffiziellen Marktes – oftmals sind es dieselben wie die des offiziellen – können ruhig schlafen: Die Arbeiter bei SchBI können sich diesem System genauso wenig entziehen, wie man es sonstwo in der russischen Gesellschaft kann. Der eine pumpt für seinen alten Lada Benzin aus einem Lkw-Tank, der andere zweigt, gegen ein kleines Bakschisch, ein paar Kubikmeter Zement für einen Kunden ab.

Die Organisationsstruktur des Unternehmens spiegelt sich hier bis ins Detail wieder: Die Arbeiter können darauf hoffen, mit kleinen Nebeneinkünften ihren Monatslohn um 100 bis 200 Rubel aufzubessern (das sind 4 bis 8 Euro). Die Vorarbeiter dürfen damit rechnen, ihren Monatslohn zu verdoppeln, indem sie zum Beispiel mit Drittfirmen eine Form der grauen Zusammenarbeit finden. Und die Firmenchefs tätigen mehr oder minder legale Geschäfte mit Industrie- und Finanzclans aus der weiteren Umgebung. Dabei bewegt sich, wer unter der Hand Geschäfte macht, durchaus nicht in einer wunderbaren Idealwelt ohne Ungleichheit oder Ausbeutung – ganz im Gegenteil.

Nur, wofür wir bezahlt werden

DAS Phänomen ist weder auf die Mafia beschränkt, noch wird es ausschließlich von Macht- und Gewinnsucht bestimmt. Wenn eine Firmenleitung auf halblegale Praktiken zurückgreift, kann dies auch dazu dienen, das Überleben des Betriebs zu sichern. Das „Organisieren“ aufseiten der Arbeiter reicht vom Bagatelldiebstahl bis zum Stückchen Land, das man irgendwie ergattert, um Gemüse anzupflanzen; vielleicht verkauft man auch nebenher etwas Material aus der Fabrik. So entsteht ein kaum entwirrbares Geflecht aus Begünstigung, selbstloser gegenseitiger Hilfe, so genannter Wiederverwertung und Abgeltung von Überstunden.

Wie haben die Arbeiter überhaupt ein Jahr lang ohne Lohn überleben können? „Wir haben Alteisen verkauft und da oder dort mal zehn, mal dreißig, höchstens fünfzig Rubel verdient. Das war’s dann auch“, erklärt Jewgeni. Die Jüngeren wohnen immer noch bei den Eltern und geben beinahe ihren gesamten Lohn zu Hause ab, „bis auf ein paar Rubel für Zigaretten oder um mal einen trinken zu gehen“. Die Älteren versuchen mit dem Erlös ihres Gemüsegartens über die Runden zu kommen; mehrmals pro Woche fahren sie nach der Arbeit in der Fabrik auf die Datscha und arbeiten dort noch ein paar Stunden. Und in der Wohnung sind sie ständig am Reparieren, Werkeln und Flicken. „Etwas Neues zu kaufen ist ausgeschlossen, also sehen wir zu, dass die Sachen so lang wie möglich halten.“ Auch die Arbeiter von SchBI haben keinen Zweitjob in einer anderen Firma: „Wir verdienen genug.“ Was mag wohl in diesem Fall mit „genug“ gemeint sein? Durchschnittlich verdienen sie tausend bis tausendzweihundert Rubel (40 bis 50 Euro), was ungefähr dem Existenzminimum in der Region entspricht. Da muss man eben seine Ausgaben auf ein Minimum beschränken. „Ich kaufe ganz einfach nichts mehr auf dem Markt. Man muss sich eben entscheiden: entweder Lebensmittel oder alles andere“, sagt Wolodja.

Durch die Überlebensstrategie des „Durchwurstelns“ entsteht ein komplexes Beziehungsnetz, in dem die Arbeiter häufig immer mehr von ihren Chefs abhängig werden, denn die drücken schon mal ein Auge zu, wenn ihre Untergebenen etwas „organisieren“, wenn sie nicht selbst die Drahtzieher der unsauberen Geschäfte sind. In manchen Fällen gehen „Beziehungen“ mit echter gegenseitiger Hilfe und Solidarität einher, manchmal führen sie aber auch zu Abkapselung, Rückzug von den Kollegen und Konkurrenzkämpfen. Zudem trägt dieses System dazu bei, die moralischen Maßstäbe zu verwischen. Das geht so weit, dass Zynismus und eigennützige Schläue als positive Werte dastehen können – nach dem Prinzip: Wenn du dich nicht übers Ohr hauen lassen willst, musst du die anderen übers Ohr hauen. Wie sollen diese Männer und Frauen ein menschenwürdiges Leben führen, wenn sie Tag für Tag ums Überleben kämpfen müssen? Die Grausamkeit und Unmenschlichkeit der Armut ist allgegenwärtig. Wassili erzählt, warum er seine Freunde nicht mehr trifft: „Wir laden uns nicht mehr gegenseitig ein, weil wir dafür kein Geld mehr haben. Ich lebe nur noch im engsten Familienkreis, mit meiner Frau und den Töchtern.“ Und wie ist es mit der Flucht in den Alkohol? „Wir können uns ja nicht einmal mehr eine Flasche Wodka leisten! Höchstens noch Samogon!“ Dieser „Selbstgebrannte“ wird aus allerlei zweifelhaften Substanzen (Zucker und chemische Stoffe) hergestellt und kostet 20 Rubel die Flasche (0,80 Euro), also halb so viel wie Wodka.

Für viele liberale russische Intellektuelle ist das verarmte Volk eine nahezu animalische Masse von verlotterten und prinzipienlosen Menschen ohne Moral und Verantwortungsbewusstsein. Bei oberflächlicher Betrachtung mag man solche Beschreibungen – die letztlich intellektueller Arroganz und zugleich der Furcht vor dem Volk entspringen – für zutreffend halten. Wer die Moskauer U-Bahn nimmt, wird sich dabei ertappen, wie abscheulich ihm die verwilderten Horden vorkommen, die sich anrempeln, einander die Tasche ins Gesicht schlagen und auf die Füße treten, nur um beim Aussteigen möglichst schnell zu sein.

Was bleibt nach einem mehrstündigen Besuch bei SchBI in der Erinnerung haften? Ein allgemeines Klima von Brutalität, Schlendrian und Demoralisierung; die lauten Zurufe, die Flüche, der grobe Umgangston der Arbeiter untereinander. Und doch ist die tägliche Wirklichkeit hinter dieser Oberfläche sehr viel komplexer.

Ein Tag wie jeder andere in der Wartungsbrigade: Man begrüßt sich mit einem kumpelhaften Schlag auf den Rücken, es fallen spöttischen Bemerkungen. Wassja kommt bereits mit einer Alkoholfahne zur Arbeit. Die anderen sind daran gewöhnt und sagen schon nichts mehr. Trotzdem versuchen sie den ganzen Tag über, ihn zu „decken“, wie sie es nennen, damit er nicht allzu oft vor den Augen der Chefs torkelt und über seine Füße fällt. In der Mittagspause steuert jeder zum gemeinsamen Essen bei, was er mitgebracht hat: Obst, Suppe, Tomaten, Kartoffeln und Brot, nur ausnahmsweise Fleisch. Alle essen vom selben Teller, und auch die Gläser machen die Runde. Manchmal nutzen die Männer die Pause und gehen zum Angeln an die Wolga, die nur einen Katzensprung entfernt ist.

Geredet wird über alles. Obligatorisches Gesprächsthema sind selbstverständlich die Preise, aber auch der Wagen, den Wolodja zu reparieren versucht, die defekte Betonmischmaschine und die Mafia, Putin und Fußball und natürlich die Frauen (die Brigade besteht größtenteils aus Männern). Abends kurz vor Arbeitsschluss kommt die Mitteilung, dass die Waggons mit Sand eingetroffen sind. Aljoscha, der fürs Entladen zuständig ist, verzieht das Gesicht: „Ich wollte eigentlich einen Kumpel im Krankenhaus besuchen.“ An den Waggons soll es nicht scheitern, Ljonka bietet seinem Kollegen an, für ihn einzuspringen. Manchmal treffen sie sich abends zum Picknick an der Wolga. Und immer die ganze Brigade: „Das Kollektiv ist uns heilig. Wir treffen alle Entscheidungen gemeinsam, und an die hält sich dann auch jeder.“

Selbstverständlich halten nicht alle Kollektive so gut zusammen. Die Unsicherheit, der Kampf ums Überleben und die Konkurrenz um die besten Positionen in den inoffiziellen oder auch den offiziellen Netzen hat vielerorts dazu geführt, dass die Arbeiter einander misstrauen, dass der eine gegen den anderen agiert. Die kleineren Kollektive setzen der Auflösung der alten Solidarstrukturen mehr Widerstand entgegen als die großen, was allerdings aus der Wartungsbrigade noch keine revolutionäre Festung macht. Die Solidarität ist hier eher eine defensive denn eine offensive Kraft. Sie erleichtert das Leben, schafft eine freundschaftliche und entspannte Grundstimmung. Vor allem trägt die Solidarität unter den Arbeitern auch dazu bei, sich allzu krasser Ausbeutung zu widersetzen. Und jeder muss sich bewähren, muss einerseits einen unabhängigen Charakter beweisen und andererseits zeigen, dass er sich ins Kollektiv zu integrieren vermag. „Ich fühle mich in der Brigade wohl, weil ich mir hier eine gewisse Autorität erworben habe“, erklärt Ljonka.

Unter derart unwürdigen Bedingungen einen solchen Zusammenhalt zu bewahren kommt an sich schon einem Akt des Widerstands gleich und einer Verteidigung der eigenen Würde. Den Arbeitern ist es wichtig, vor sich selbst zu bestehen, und zwar insbesondere im Verhältnis zu ihren Chefs. Sie wissen, wie mächtig und überlegen die Betriebsdirektion ist, und setzen ihr deshalb keinen offenen Widerstand entgegen. Aber andererseits machen sie auch keinen Hehl daraus, dass sie ihre Bosse wegen ihrer Inkompetenz und mutmaßlichen Verstrickung in die Machenschaften der Grauhandelszone verachten. Den Versprechungen und freundlichen Gesten der Firmenleitung begegnen sie grundsätzlich mit Misstrauen; hier Vertrauen zu schenken käme einem Verrat der eigenen Ziele gleich. „Sie sagen, dass sie einen Konkurs nicht hinnehmen werden, aber das sind bloß Worte!“, sagt Wowa.

Sobald jedoch ein Chef seine Arbeiter mit etwas Respekt behandelt, beurteilen diese ihn sofort ganz anders. So hat sich etwa die Brigadeführerin Anna allgemeine Achtung erworben. Zwar gibt sie den Arbeitern nicht die Hand, brüllt den ganzen Tag mit ihnen herum, redet sie mit allerlei Schimpfnamen an putzt den einen oder anderen auch mal herunter, aber wenn es Probleme gibt, berät sie sich mit ihnen. Und wenn vonseiten der Firmenleitung willkürliche Anweisungen kommen, stellt sie sich vor ihre Untergebenen. Zwar regt sie sich über die Alkoholiker in der Belegschaft auf, aber dennoch versucht sie, die so gut zu decken, wie sie kann, denn diese Kollegen sind wertvolle Fachkräfte. In den Augen der Arbeiter ist sie aufrichtig. Zwar haben auch die Männer kräftige Schimpfworte für sie übrig, doch das ändert nichts an ihrer Sympathie: „Sie strampelt sich ab wie eine Verrückte, damit in unserem Arbeitsbereich alles funktioniert und wir ordentlich bezahlt werden“, sagt Wolodja. „Sie denkt zuerst an uns und dann erst an sich selbst.“

Der Form halber wird also zunächst einmal protestiert, dann machen die Arbeiter, was Anna von ihnen verlangt. Das gilt auch für Arbeiten, die nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehören. Aber auch hier achten sie auf eine gewisse Distanz, die sie als eine Art Zuflucht für ihre Selbstachtung aufrechterhalten. So kommentiert Aljoscha: „Wir machen, was sie von uns verlangt, aber nicht mehr. Und wir lassen uns Zeit. Bei den Löhnen, die wir kriegen, brauchen wir uns wirklich nicht abzurackern! Sie ist noch nicht lange in der Fabrik und durchschaut den Produktionsprozess noch nicht in allen Einzelheiten. Wir können ihr leicht was vormachen, und dann glaubt sie eben, dass bestimmte Arbeiten besonders schwierig sind.“ Weder zu viel tun noch zu wenig. An diese Grundregel halten sie sich alle: „Wir machen genau das, wofür wir bezahlt werden!“

Offensichtlich lohnt es die Mühe, das Verhalten der Arbeiter einem genaueren, analytischen Blick zu unterziehen und richtig hinzuhören, wenn sie reden. Und auch die sprichwörtliche Apathie der Russen muss grundsätzlich hinterfragt werden. Viele Arbeiter erklären sich ausdrücklich für nicht engagiert und apolitisch und drücken damit doch in erster Linie ihre Weigerung aus, sich am System der Mauschelei zu beteiligen und so am Ende die Korruption und Willkür zu rechtfertigen. Wenn es an gewerkschaftlichem und politischem Engagement fehlt, so hat das nicht nur mit Angst und Ohnmacht oder gar Gleichgültigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Belangen zu tun. Manchmal ist es auch ein Weg, die eigene Würde zu bewahren oder die Privatsphäre zu schützen.

dt. Passet/Petschner

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von Von KARINE CLEMENT