15.06.2001

Ohne den Bildschirm sterben die Bilder

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Ohne den Bildschirm sterben die Bilder

* Professor für Ethnologie an der Ecole des hautes édudes en sciences sociales (EHESS) in Paris; Autor u. a. von „Fictions, fin de siècle“, Paris (Fayard) 2001.

VOR einigen Jahren kam ich nach New York in ein Hotel in Manhattan und schaltete den Fernseher ein, um meine Ohren auf die Herausforderungen der nächsten Tage vorzubereiten. Während ich duschte und mich umzog, verfolgte ich aus dem Augenwinkel die Sendung. Es handelte sich offenbar um eine dieser Serien, die den Zuschauer durch ihre Wirklichkeitsnähe fesseln – die Geschichte einer Anwaltskanzlei, deren verschiedene Vertreter (Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, in korrekter Verteilung) trotz ihrer Sorgen und Nöte der Aufgabe, ihre jeweiligen Klienten vor Gericht engagiert zu verteidigen, stets mit Bravour nachkamen; die jeweiligen gesundheitlichen, familiären, emotionalen oder pekunären Nöte der Anwälte waren sehr unterhaltsam in die Erzählung eingeflochten. Die Gerichtsszene, die ich da sah, schien mir aber etwas langatmig zu sein. Ich achtete verstärkt auf die Handlung und stellte fest, dass es sich diesmal nicht um eine Serie, sondern um einen echten Prozess handelte, der live ausgestrahlt wurde. Die ganze folgende Woche hatte ich Mühe, mich mit meinen Universitätskollegen zu verabreden, weil sie nach den Veranstaltungen immer gleich nach Hause wollten, um die Übertragung dieser Gerichtsserie weiterzuverfolgen.

In Gameshows wie „Glücksrad“ ist aller Ausgang Zufall. Trotzdem wird den Gewinnern heftig applaudiert, was mich immer schon gewundert hat. Man weiß ja, dass im Fernsehen der Applaus auf Kommando erfolgt und zum Spektakel dazugehört, doch die Freude des Publikums scheint einem beim Zuschauen genauso echt wie die des Siegers. Und auch die Verlierer, die Glückloseren, erhalten ihren Beifall, ihre Glückwünsche und ihr Händeschütteln. Sie haben keine andere Wahl, sie müssen mitspielen: man spürt förmlich, dass sie beim geringsten Anflug von schlechter Laune die Gunst des Publikums verlieren würden (sowohl die der Zuschauer „im Studio“ als auch die der Zuschauer zu Hause).

Wer mitspielt, muss sich an die Spielregeln halten: An das Ideal des Fairplay, das der aufmerksame Moderator ständig im Munde führt, an eine kleine Prise Sadismus, denn während miese Stimmung verboten ist, sind Trauer und ein paar verdrückte Tränchen durchaus geschätzt. Sie würzen das Spektakel, und außerdem ist es für einen Arbeitslosen oder Kleinverdiener ja wirklich hart, zuzusehen, wie ein anderer jene zigtausend Francs einkassiert, die um ein Haar ihm zugefallen wären.

In beiden Fällen geht es offensichtlich um die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Um sie geht es, seit in unserer Bilderwelt die Trennung zwischen echt und falsch verschwunden ist. In diesem Sinne ist die Wirklichkeit zur Fiktion geworden, wobei man der Präzision halber hinzufügen muss, dass diese Fiktion weder eine völlige Lüge ist (zum Beispiel haben wir mit der Zeit einige Tatsachen über den Golfkrieg erfahren) noch eine vollständige Erfindung (der Krieg jedenfalls hat stattgefunden), doch das Bild bleibt trügerisch: Da es nicht alles zeigt, sagt es nichts aus. Da es nicht alles sagt, zeigt es nichts. So rückt es den Golfkrieg in die Nähe eines Videospiels, in dem es angeblich keine echten Toten gab – wer sprach schließlich von den irakischen Toten?

Es gibt in unserer Gegenwart unzählige Szenarien, von denen wir nicht sagen können, ob sie in den Bereich des Realen oder des Fiktionalen gehören, auch wenn sie teilweise vor unseren Augen (auf dem Bildschirm) geschehen. Die Ereignisse oder Menschen (oder beides), aus denen ein Bild heute besteht, sind weder eindeutig real noch eindeutig fiktiv, und genau dies macht die Faszination aus. Ein Bild besitzt das Gewicht des Wirklichen und die Unwirklichkeit der Erzählung. Die größte Aufmerksamkeit weltweit erregte Bill Clinton, Staatschef der größten Nation der Welt, nicht wegen irgendeines Staatsgeschäftes, sondern als „der Mann von Monica“, als der Mann mit der vagabundierenden Zigarre, der Salonlöwe; begierig verfolgten wir seine Versuche, der Strafverfolgung zu entkommen.

Alle „Helden“ der Zeitgeschichte sind in gewissem Umfang „Bilder“ und können zu Hauptakteuren derartiger Histörchen werden. Und die Kinder des Fernsehzeitalters sind nur zu leicht zu dem Glauben verführt, man müsse bloß ein Bild werden (ins Fernsehen gelangen und um jeden Preis gesehen werden), damit man weiß, dass man existiert. Clintons Zigarre, Dumas’ Schuhe, Lady Di’s Mercedes – sie erregen den Voyeurismus aller. Die Moralvorstellungen, mit denen sie hantieren, sind genauso widersprüchlich wie austauschbar.

Was also sorgt dafür, dass wir von „Loft Story“ schockiert oder fasziniert sind? Alles und nichts, außer dass sich in dieser Unterhaltungssendung ein erhöhter Grad an Ambivalenz zeigt. Ein erhöhter Grad an Fiktion: Niemand glaubt schließlich, dass diese Insel real ist. Sie ist kein Gefängnis, denn man ist schneller wieder draußen, als man gewollt hat. Sie ist fast eine Utopie: ein „Club Mediterranée“ in der Vorstadt und – höchstes Stadium der Unwirklichkeit – ein Loft ohne Fernseher. Ein erhöhter Grad an Wirklichkeit: Jeder Sozialpsychologe kennt die Gesetzmäßigkeit, mit der sich kleine Gruppen im Laufe der Zeit zersetzen. Sprache, Verdächtigungen, Wut- und Tränenausbrüche sind real. Gerade die unschuldige, beharrliche und brutale Gegenwart einer anderen Generation sowie einer anderen Gesellschaftsschicht dürfte es sein, die uns am meisten schockiert. Ein erhöhter Grad an Auslassungen: Zwar gibt es überall Kameras, aber wir bekommen nur zu sehen, was wir gezeigt bekommen. Ferner ein erhöhter Grad an Sadismus: die Spieler eliminieren („nominieren“) sich gegenseitig. Die Angst vor dieser Nominierung schürt in der geschlossenen Loft-Gesellschaft einen Hass wahrhaft Racinescher Qualität. Und ein erhöhter Grad an Obszönität, wenn man so will: Inszenierung, Exhibitionismus und junges Fleisch.

Dieser „erhöhte Grad“ nun verfängt vor allem bei dem jungen Publikum, weil er jeden Teilnehmer in eine vollständige Bildwirklichkeit erhebt. Ob man Lady Di oder Aziz beweint, nimmt sich nichts. In den Augen derjenigen, die sich identifiziert haben, ist der Unterschied zwischen dem realen Tod der einen und dem symbolischen Tod des anderen gering. In beiden Fällen stirbt ein Bild. Dabei können und sollen Bilder nicht sterben. Denn sie werden geschaffen, damit wir besser leben können, damit wir besser daran glauben können, dass wir existieren. Und darin genau besteht das höchste Stadium des Sadismus. Dass wir sie sterben lassen, nachdem wir sie geschaffen haben.

Wir begnügen uns nicht mehr mit unserem Spiegelbild. Wir brauchen den Bildschirm und den Blick der anderen. Ohne den Bildschirm sterben die Bilder schnell, auch wenn die entsprechende Presse sie noch eine Weile mit Sauerstoff und Überlebensillusionen aufzupäppeln versucht.

„Loft Story“ kondensiert alle Wesenszüge der Ideologie, in der wir leben, die Ideologie einer Gegenwart, die Spiel ist und nicht mehr trennt zwischen Menschen, Handelnden und Darstellern. Wie jede Ideologie ist sie eine der Manipulierer wie der Manipulierten, der Ausbeuter wie der Ausgebeuteten. Insofern ist sie nichts Neues. Das Neue kann man vielmehr in der Trennung suchen, die Freud zwischen Kindheit und Adoleszenz gezogen hat. Das Kind, sagte er, kann seine Spielwelt und die Wirklichkeit klar auseinander halten, im Unterschied zu dem Heranwachsenden, der an seine Fantasmen glaubt. Man könnte daraus schließen, dass die Menschheit heutzutage aus der Adoleszenz nur schwer herauskommt, es sei denn, sie fällt in die Kindheit zurück.

dt. Marie Luise Knott

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von MARC AUGÉ