15.06.2001

Gemischte Bilanz

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Gemischte Bilanz

EINE „insgesamt positive“ Bilanz der ersten Amtszeit von Staatspräsident Chatami glauben die Führer der iranischen Reformbewegung ziehen zu können. Bei näherer Betrachtung zeigen sich allerdings Licht- und Schattenseiten. Einig ist man sich im konservativen und im reformistischen Lager, dass Chatamis Außenpolitik letztlich erfolgreich war. Als Verfechter des „Dialogs der Kulturen“ ist es ihm in knapp vier Jahren gelungen, die Terroranschläge im Ausland zu unterbinden und sich von der fatwa zu distanzieren, mit der Imam Chomeini den „Frevler“ Salman Rushdie zum Tode verurteilte. Zudem haben sich in seiner Amtszeit die Beziehungen zwischen dem Iran und fast allen Staaten der Welt normalisiert – von den Ländern der EU bis zu den Golfstaaten, von Saudi-Arabien bis Kuba. Sogar zwischen Washington und Teheran ist eine gewisse Entspannung eingetreten, auch wenn die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen noch aussteht. Zugleich konnte Chatami eine enge Zusammenarbeit mit Russland begründen, die dem Iran Rüstungslieferungen und technisches Know-how für die zivile Nutzung der Kernenergie einbringt.

Einig sind sich Konservative und Reformer aber auch in dem Vorwurf, die Wirtschaftspolitik des Präsidenten sei konzeptionslos. Chatami sei sich unschlüssig, ob er für den Staatskapitalismus oder die freie Marktwirtschaft optieren solle. Die fehlende Rechtssicherheit und die ebenso übereifrigen wie bestechlichen Bürokraten haben Interessenten aus dem In- und Ausland davon abgehalten, im privaten Sektor zu investieren. Weil es an kompetenten Fachleuten mangelt, konnte der an sich solide Fünfjahresplan nur unzureichend umgesetzt werden. Der Staatshaushalt scheint konsolidiert, wenn auch die zehn Milliarden Dollar, die im vergangenen Steuerjahr als Devisenrücklage ausgewiesen wurden, nur durch steigende Rohölpreise in die Kasse kamen. Und dieser unerwartete Geldsegen wurde weder für Entwicklungsprojekte noch für die Verbesserung der Lebensbedingungen eingesetzt. Chatami wird vorgeworfen, sich auch deshalb nur unzureichend um wirtschaftliche Fragen zu kümmern, weil er der Überzeugung sei, grundlegende Reformen könnten erst nach der Demokratisierung des Regimes angegangen werden.

DOCH gerade mit der Demokratisierung liegt es noch im Argen. Sämtliche liberalen Bestimmungen der Verfassung werden systematisch ignoriert oder verletzt, die Institutionen der Theokratie dagegen blieben unangetastet. Auch Präsident Chatami hat das beklagt: Im vergangenen Jahr zählte er in einer Rede vor dem Parlament 120 eklatante Verstöße gegen das Grundgesetz auf. Geholfen hat das natürlich nicht. Die Verfassung, deren Schutz dem Staatspräsidenten obliegt, bietet ihm keine Handhabe, im Falle von Verstößen einzugreifen. Überraschend wendet sich Chatami vehement gegen jede Änderung dieser Verfassung – obwohl er sie offensichtlich für ungerecht hält. Um die Ungeduld einiger seiner Anhänger zu zügeln, hat er sogar erklärt, jeder Versuch einer Verfassungsänderung sei „Verrat“. Das wäre nämlich kontraproduktiv, erläutert sein persönlicher Referent Mohammad Ali Abtahi, weil die Konservativen alle Hebel in der Hand haben, um Änderungen wieder rückgängig zu machen. Diese Einschätzung der Kräfteverhältnisse erklärt auch, warum der Präsident alle militanten Aktionen in der Öffentlichkeit ablehnt: Er glaubt, der Druck der Straße könne den Befürwortern des Wandels nur schaden. Aber bedeutet das nicht, dass er die Reformbewegung handlungsunfähig macht?

Ali Resa Chatami, der jüngste Bruder des Präsidenten, Generalsekretär der „Mitbestimmungsfront“ (Dachverband fast aller Organisationen der Reformbewegung), schätzt das anders ein: „Unsere Erfolge sind unübersehbar. Die Zivilgesellschaft formiert sich, zahlreiche politische Vereinigungen sind bereits zugelassen, etwa 4 000 Nichtregierungsorganisationen sind entstanden, unzählige unabhängige Publikationsorgane wurden gegründet – 700 in den Städten, etwa tausend in der Provinz. Zum ersten Mal in unserer Geschichte wurden Wahlen zu Kommunalparlamenten und Dorfräten abgehalten. Das ist der Beginn einer demokratischen Dezentralisierung. In gewisser Weise sind wir zu einer Gegenmacht geworden, und die Zeit arbeitet für uns.“

ÄHNLICH sieht es Said Hadscharian, Theoretiker und strategischer Kopf der Reformbewegung: „In allen Bereichen der Kultur – Kino, Theater, Literatur – hat es quantitative und qualitative Fortschritte gegeben. Wir haben einen Wandel des politischen Klimas herbeigeführt, der so weit geht, dass selbst die Gegner nicht umhin kommen, unsere Begriffe zu gebrauchen: Sie sprechen vom Vorrang des Rechts, von Pluralismus und Anerkennung der Menschenrechte und berufen sich nur im äußersten Notfall auf den Willen Gottes.“

Ähnlich wird Chatamis Politik auch von einem seiner Berater, Mohammad Ali Abtahi, bewertet: „Man sollte nicht vergessen, dass wir das Geheimdienstministerium übernommen und gesäubert haben, dass wir den Diensten untersagt haben, terroristische Aktionen im Ausland und politische Anschläge im Inland durchzuführen, ja dass wir sogar ihre Zusammenarbeit mit der Justiz und den so genannten Revolutionsgerichten unterbunden haben. In unseren Augen ist der Preis, den wir für diese Erfolge zahlen mussten – einige hundert Verhaftungen und die Schließung von rund dreißig Zeitungen – nicht zu hoch. Jedenfalls sind wir überzeugt, dass unsere Gegner die Hinwendung zur Moderne, die überall im Land im Gange ist, nicht mehr aufhalten können.“

Said Hadscharian sieht das etwas skeptischer: „Entscheidende Aufgaben liegen noch vor uns. Vor allem müssen wir unserer Bewegung eine einheitliche Richtung und eine Gesamtstrategie geben, damit sie die Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten zu verändern vermag. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass auch revolutionäre Errungenschaften rückgängig gemacht werden können.“

E. R.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von E. R.