15.06.2001

Verdrängte Geschichte

zurück

Verdrängte Geschichte

IN Frankreich ist im letzten Jahr eine Debatte um ein dunkles Kapitel seiner jüngeren Geschichte entbrannt: Die Rolle der französischen Armee und ihrer Befehlshaber während des Algerienkrieges (1954–1962) – ausgelöst durch den Bericht von Louisette Ighilahriz, einer Algerierin, die 1957 drei Monate lang gefoltert wurde (Le Monde, 20. Juli 2000). Nachdem die damaligen Folterungen in Algerien jahrzehntelang als „Terroristenbekämpfung“ oder als „bedauerliche Ausnahme“ abgetan worden waren, tauchen nun immer mehr Stimmen auf, die die Gräueltaten als das beschreiben, was sie waren: übliche Praxis zur Sicherung der Kolonialherrschaft. Wer damals in Amt und Würden (sprich in Uniform) mordete und folterte, konnte sich dank der Generalamnestie von 1968 lange Jahre in Sicherheit wiegen. Das „organisierte Vergessen“ der Öffentlichkeit tat ein Übriges.

Am 31. Oktober 2000 erschien in der Zeitung Humanité der „Aufruf der zwölf“ in dem der Kommunist Alleg, zusammen mit einer Gaullistin, einer Generalswitwe, mit Pazifisten und Sozialisten forderte, Jospin und Chirac sollten endlich die Folterpraktiken des französischen Militärs öffentlich verurteilen.

Seither breiten alte Männer aus, was sie seit Kriegsende (1962) verdrängt haben: Einige der Täter (wie General Jacques Massu) reden nun über die Plünderungen, Folterungen und Hinrichtungen, die bislang als „Gräuelmärchen“ der Widerständler gebrandmarkt worden waren, und gestehen: „Wir hätten anders vorgehen müssen.“ Andere schweigen oder verteidigen sich.

Anfang Mai 2001 erschien in Frankreich der Bericht eines Generals im Ruhestand, Paul Aussaresses, der „ohne Reue“ von eigenhändigen Folterungen, Morden und inszenierten Selbstmorden spricht. Aussaresses, der in Algerien Kommandant an der Spitze des „militärischen Nachrichtendienstes“ war, erklärt in dem Buch auch, dass die Folter von der damaligen sozialistischen Regierung in Paris „toleriert, wenn nicht empfohlen“ wurde. Noch lange nicht im öffentlichen Bewusstsein ist die Tatsache, dass auch vor dem Unabhängigkeitskrieg, der 1954 begann, Folter Teil der „normalen“ französischen Kolonialpolitik war.

M. L. K.

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von M. L. K.