15.06.2001

Die infame Geschichte der Infamie

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Die infame Geschichte der Infamie

IN Chile laufen die Verbrecher noch zwölf Jahre nach dem Ende von Pinochets Militärdiktatur straffrei herum. Ihre Straflosigkeit wurde, so scheint es, als Preis für den Wohlstand akzeptiert. In der Vergangenheit beherrschten die vierzig Familien, die im Lande die Wirtschaft in ihren Händen halten, auch den Ton der Geschichtsschreibung: ein Gutsherrenton, der über die zahllosen Morde der Streitkräfte ein weißes Tuch des Vergessens breiten wollte. Pinochets Verhaftung in London hat die Frage nach einer anderen Geschichtsschreibung neu auf die Tagesordnung gesetzt. Von LUIS SEPÚLVEDA *

* Chilenischer Schriftsteller, zuletzt erschienen „Der Alte, der Liebesromane las“ und „Tagebuch eines sentimentalen Killers“ (2000 bzw. 1999, beide München, Hanser). – Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe.

„Der redet wie ein Gutsherr“, heißt es in Chile, wenn jemand einen überheblichen Ton anschlägt oder seine Macht mit schamloser Selbstgefälligkeit zur Schau stellt. Die Gutsherren, weiße Großgrundbesitzer in einem Land, das Einwanderer stets mit offenen Armen aufgenommen hat, haben eine eigene Ausdrucksweise kreiert, bei der jedem Befehl mit der Pferdepeitsche Nachdruck verliehen wird. Einige Historiker, die in Gutsherrensprache reden, behaupten, in Chile habe es eine aufgeklärte, dialogbereite, fortschrittliche Bourgeoisie gegeben. Das ist falsch; es hat sie nie gegeben. Die Oligarchie der Land- und Bergwerkbesitzer, die gleichsam auf der Dampfmaschine in den Stand eines Bürgertums rollten, das im Wesentlichen den von den Arbeitern erwirtschafteten Mehrwert verprasste, war immer borniert, reaktionär und unterwürfig gegenüber den Herrschaftsinteressen des Auslands. Sie besaß niemals ein eigenes Staatsverständnis, vielmehr war sie beseelt von einer erbärmlichen Statthaltermentalität.

In demselben Gutsherrenton wird auch behauptet, die Zeitung El Mercurio und der Clan der Edwards seien repräsentative Vertreter dieser aufgeklärten Bourgeoisie, die es nie gegeben hat. Nichts könnte weiter entfernt von der Wahrheit sein. Seit seiner Gründung vor mehr als hundert Jahren ist El Mercurio das Sprachrohr der vierzig mächtigen Familien und ihrer ausländischen Partner. Sie haben jenen gewalttätigen Diskurs nach Gutsherrenart etabliert, der nicht unbedingt offene Lügen verbreitet, aber doch die Wirklichkeit systematisch auf die eigenen Klasseninteressen zuschneidet.

Die Geschichte Chiles ist in der Gutsherrensprache geschrieben. Sie ist eine infame Geschichte der Infamie, gekennzeichnet durch die permanente Beschönigung ihrer schwärzesten Seiten, die auf das Konto der chilenischen Streitkräfte, der Handlanger der Gutsherren gehen.

1903 beschlossen die Arbeiter der Salpeterbergwerke, dass sie nicht länger als Inventar der chilenischen und englischen Feudalherren angesehen werden wollten: sie streikten und verbarrikadierten sich in der Schule Santa Maria in Iquique, in der Atacamawüste. Eine ihrer Forderungen – die von den Herren allesamt zurückgewiesen wurden – war von naiver Originalität: sie verlangten, ihren (geringen) Lohn nicht länger in Marken, die sie nur in den bergwerkseigenen Läden einlösen konnten, sondern in Geld ausgezahlt zu bekommen.

Als Antwort kam ein Ultimatum der Regierung. Als ein Bergarbeiterführer namens Leiva mit einer weißen Fahne aus dem Schulgebäude trat, um freies Geleit für Frauen und Kinder zu erbitten, griffen die Soldaten an. Laut der infamen Geschichte der Infamie hat es bei jenem „bedauerlichen Zwischenfall“ einige Tote gegeben. Tatsächlich! Mehr als zweitausend Menschen wurden bestialisch ermordet. Wer nicht im Kugelhagel starb, wurde mit dem Bajonett niedergemacht. Wer das Pech hatte, nicht an den Schusswunden zu sterben, dem wurde die Kehle durchgeschnitten. Eine ganze Woche währte die blutige Orgie der Gewalt. Mein Großvater Gerardo, ein andalusischer Anarchist, der zwei Wochen nach dem Massaker nach Iquique kam, erzählt: „Es roch nach verwelkten Rosen, das ist der Geruch des Blutes.“

Die chilenische Armee, die noch jeden Auftrag der Gutsherren gründlich erledigt hat, beseitigte in Iquique alle Spuren; Tausende von Leichen verschwanden. Diese Opfer ruhen zusammen mit getöteten Minenarbeitern späterer Massaker in der salzigen Erde der Atacamawüste, die alles aufbewahrt, sowohl die Erinnerung als auch die mumifizierten, vor Infamie und Bakterienbefall künftig geschützten Leichen. Es kommt vor, dass die verzweifelt im Wüstensand grabenden Hände von Angehörigen der unter Pinochets Terrorregime Verschwundenen auf die Leichenreste jener anderen stoßen, jener Brüder, die dasselbe Schicksal ereilte, die denselben Verbrechern zum Opfer fielen.

Generationen von Chilenen haben in der Schule gelernt, dass es bei dem „bedauerlichen Zwischenfall einige Tote gab“. Erst zwischen 1970 und 1973 begann man, die tatsächliche Geschichte zu lehren, die traurige, beschämende, wahre Geschichte. Das empörte die Gutsherren, und prompt tönten sie von den Titelseiten des El Mercurio, in Chile werde „die Geschichte nach marxistischer Sicht umgeschrieben“.

Doch die infame Geschichte der Infamie ist ungebrochen. 1967 hatte Eduardo Frei, der Vater, eine „Revolution in Freiheit“ versprochen und war mit Unterstützung der USA und deren „Allianz für den Fortschritt“ an die Macht gekommen, die ihrerseits nichts anderes war als ein von der CIA geschnürtes Paket populistischer Maßnahmen zur Eindämmung des wachsenden Einflusses der kubanischen Revolution unter der armen Bevölkerung. Unter Freis Präsidentschaft wurden die Bergarbeiter der ebenfalls in der Atacamawüste gelegenen Mine von El Salvador während eines Lohnstreiks zusammengeschossen. Acht Bergleute starben unter den Kugeln der Armee. El Mercurio druckte die Gutsherrenversion des Geschehens: „Armee schlug Angriff aufrührerischer Elemente nieder“. Ein Jahr später besetzte in der Nähe von Puerto Montt eine Gruppe landloser Familien die Pampa Irigoin – ein von den Großgrundbesitzern seit Jahren aufgegebenes Stück Weideland, auf dem sie armselige Holz- und Wellblechhütten errichteten. Die Antwort der Armee war prompt: elf Menschen starben.

Laut der infamen Geschichte der Infamie hatte die Armee in beiden Fällen „die Ordnung wiederhergestellt und das Recht auf Eigentum geschützt“. Nicht erwähnt wurde, dass der verantwortliche Befehlshaber beider Massaker ein Heeresoffizier namens Augusto Pinochet war. Obwohl Gewerkschafter und linke Parlamentarier eine Untersuchung wegen ungerechtfertigter Gewaltanwendung forderten, wurde nie ermittelt. Das Organ der Gutsherren übertönte die verzagten Stimmen derer, die Gerechtigkeit verlangten.

Sprösslinge der „School of the Americas“

ALS im September 1973 die chilenische Rechte und deren Handlanger, die Streitkräfte, in einem blutigen Putsch die verfassungsmäßige Regierung Salvador Allendes stürzten, konnten Richard Nixon, Henry Kissinger und die CIA zufrieden sein, denn die Anführer dieses faschistischen Staatsstreichs waren einst auf der „School of the Americas“ am Panama-Kanal hervorragende Schüler gewesen. Berüchtigte Mörder wurden dort ausgebildet – der guatemaltekische Präsident und General Ríos Montt, der berühmte Feigling des Falklandkrieges, Alfredo Astiz, und viele weitere Experten der „Doktrin der nationalen Sicherheit“.

Die chilenischen Streitkräfte, insbesondere das Heer, brauchen „heldenhafte Ruhmestaten“, die, im Gutsherrenton besungen, von der Nutzlosigkeit und dem parasitären Wesen dieser Prätorianergarde im Dienst der Landesfürsten ablenken sollen. Das Grauen, das über die Verlierer, das heißt über die gesamte chilenische Gesellschaft hereinbrach und weltweite Solidarität auslöste, ist nichts anderes als die praktische Anwendung dessen, was die Zerberusse in Panama gelernt hatten.

Pinochet schickte die Todeskarawane mit dem eindeutigen Auftrag los, „die Prozesse zu beschleunigen“. Dabei gab es gar keine Prozesse. Alles war nur eine Farce. Keinem Gefangenen wurde eine nachgewiesene, wirklich begangene Tat zur Last gelegt. Bei diesen Prozessen gab es weder eine Unschuldsvermutung noch einen Verteidiger; um die Farce der Prozesse noch zu unterstreichen und weil die vollkommen unbegründeten Anklagen auf so wackligen Beinen standen, waren fast alle von General Sergio Arellano Stark und den Obersten Sergio Morén und Pedro Espinoza Ermordeten vorher bereits von Militärgerichten kriegsrechtlich verurteilt worden . . . , aber: Nach welchem Kriegsrecht eigentlich? Und: Welcher Krieg soll das gewesen sein?

Tatsächlich hatte die Todeskarawane den Auftrag, unter der Bevölkerung und unter den verfassungstreuen Offizieren Terror zu verbreiten. Die Todeskarawane machte den Terror zur Herrschaftsmethode. Sie garantierte der herrschenden Klasse ein ruhig gestelltes, sozial zerschlagenes und der Militärgerichtsbarkeit ausgeliefertes Land – ein Land, in dem man wieder zu der guten alten Statthalter- und Gutsherrenmentalität zurückkehren konnte, nachdem diese sich durch den sozialen und kulturellen Fortschritt der tausend Tage währenden Allende-Regierung ernstlich gefährdet gesehen hatte.

In einem Land, in dem der Terror alle gesellschaftlichen Kräfte lahm gelegt und jedes Haus erobert hatte und wo Ausgangssperren für leer gefegte Straßen sorgten, war es ein Leichtes, das erste große neoliberale Wirtschaftsexperiment durchzusetzen und als Erfolg zu feiern. Und diesen Erfolg des aus propagandistischen Gründen mit der Gestalt Pinochets verbundenen „chilenischen Modells“ wusste die infame Geschichte der Infamie sogleich in einen bedeutenden Nutzen zu verwandeln: Die Gutsherrensprache war ansteckend bis in Bereiche der christdemokratischen und sozialistischen Opposition, deren Haltung sich ab 1986 etwa so zusammenfassen lässt: „Gerechtigkeit, ja, aber das Wirtschaftsmodell muss bleiben.“

Die chilenische Rechte, borniert und verblendet, wie sie ist, hatte nie die Absicht, ihre durch die Diktatur gesicherte Macht abzugeben, jemals wieder Wahlen zuzulassen und zu irgendeiner Art demokratischer Normalität zurückzukehren. Neben dem in den Streitkräften verbreiteten Vertrauen auf immer währende Straflosigkeit war es vor allem Pinochets Größenwahn, der ihn den Vorschlag zu einem Volksentscheid annehmen ließ – er glaubte ihn unter den von ihm geschaffenen Bedingungen von vornherein gewonnen.

Aber, und das wird eines der großen Themen derjenigen sein, die einmal die wahre Geschichte des Landes schreiben werden: Trotz des Terrors und der Morde, trotz der Verschwundenen, trotz Folter und Exil haben Tausende Chilenen mit allen Mitteln – vom zivilen Ungehorsam bis zur Waffengewalt – Widerstand geleistet. Und es waren diese tapferen Männer und Frauen, die dem Tyrannen die Niederlage beibrachten, so dass er zähneknirschend sein Scheitern eingestehen musste.

Die Opposition gewann den Volksentscheid, und so begann 1988 der merkwürdige chilenische „Übergang“. Die Rechten und das diktatorische Regime erließen unverzüglich Amnestiegesetze und eine Verfassungsreform, die der Rechten auf alle Zeit die Mehrheit im Parlament sicherte, die Ernennung Pinochets zum Senator auf Lebenszeit ermöglichte, vor allem aber den Fortbestand des herrschenden Wirtschaftsmodells garantierte und Straffreiheit zusicherte. Bei Scheinauseinandersetzungen zwischen Rechten, Militärs und demokratischer Mitte (Christdemokraten plus zum ökonomischen Neoliberalismus bekehrte Sozialisten) ging es doch nur um verschiedene Nuancen in der Umsetzung ein und desselben Wirtschaftsmodells. Niemand wollte die Forderung der Opfer nach Gerechtigkeit zur Kenntnis nehmen oder gar überprüfen, geschweige denn über eine Wiedergutmachung nachdenken. Die Straflosigkeit der Verbrecher wurde als „Preis für den Wohlstand“ akzeptiert.

Als etwa 1993 ein Sohn Pinochets wegen allgemein bekannter Korruptionsvergehen in Millionenhöhe angeklagt werden sollte, fand sich Santiago eines Morgens als besetzte Stadt wieder: überall patrouillierten Soldaten in Kampfanzügen. Da entschlossen sich der kühne Richter ebenso wie die Regierung, von weiteren Ermittlungen Abstand zu nehmen. Straflosigkeit wurde zu einer Form der Koexistenz der Mächtigen, und die Amnesie avancierte zur Staatsräson.

So eroberte die Gutsherrensprache erst die Regierung von Patricio Alwyn, später die von Eduardo Frei, die sich, als Pinochet in London verhaftet wurde, in verwundetem patriotistischem Stolz erging. Und heute (welch gutsherrliche Niedertracht) will die Regierung von Ricardo Lagos den Opfern der Diktatur einreden, sie sollten den Militärs dankbar sein, weil diese am runden Tisch den einen oder anderen „Übergriff“ zugegeben und gnädigerweise Angaben darüber gemacht haben, wo sie zweihundert der insgesamt weit über zweitausend Toten verscharrt haben.

Die infame Geschichte der Infamie verfolgt mit ihrer Gutsherrensprache die Opfer des Terrorregimes, dämonisiert und demütigt sie, weil es den Opfern nicht genügen kann, dass die Armee sich herablässt und den ein oder anderen Ort benennt, an dem sich dann die sterblichen Überreste von gefolterten, verstümmelten, ermordeten Männern und Frauen ausgraben lassen, deren Namen zufällig auch im Zusammenhang mit den zahlreichen gegen Pinochet anhängigen Prozessen auftauchen. Aber jeder einzelne Körper, der zutage gefördert wird – ungeachtet dessen, wie makaber sich die Berichte der Pathologen oder der Augenzeugen anhören, wenn sie beispielsweise zu Protokoll geben: „Bevor der Ingenieur Ruiz Tagle getötet wurde, stach man ihm die Augen aus, schnitt ihm den Bauch auf und schlug schließlich mit Säbeln auf ihn ein, bis er tot war. Ich musste die Körperteile aufsammeln und sie in einem versiegelten Kasten seiner Mutter übergeben“ –, ungeachtet all dessen ist jede dieser Leichen längst ein abgeschlossener Fall, denn wenn sie gefunden werden, ist die Tat schon kein Verbrechen mehr, weil sich Pinochet, Arellano, Morén, Espinoza, Contreras und andere Generäle längst selbst amnestiert haben.

In einer Bekenntniszeremonie, die an Zynismus kaum zu überbieten ist, haben Militärs zugegeben, dass viele Verschwundene niemals mehr aufzufinden sein werden, weil sie sie ins Meer, in unzugängliche Bergseen der Anden oder in reißende Flüsse geworfen haben.

Ermutigt durch das Beispiel des spanischen Richters Garzón und des chilenischen Richters Juan Guzmán, wagen es inzwischen immer mehr Angehörige der Opfer, schreckliche Fälle erlittenen Unrechts anzuzeigen. Was aber sagen die Gutsherren? Am deutlichsten ist der Aufruf von Verteidigungsminister José Miguel Insulza, der mit absoluter Verachtung für die Opfer fordert, Anzeigen gegen Angehörige der Streitkräfte generell nur dann zuzulassen, wenn es um Fälle mit tödlichem Ausgang geht.

Das ist ein Aufruf zur Omertá, eine Einladung zu strafloser Willkür, und eine weitere Verhöhnung der Opfer. Insulzas Gutsherrensprache heißt nichts anderes als: Wenn du, Frau, lediglich vergewaltigt worden bist, wenn man dir nur Elektroschocks versetzt, dir nur Ratten in die Vagina gesteckt, dich nur ein halbes Jahr lang in einem dreckigen Verlies der Villa Grimaldi gefangen gehalten hat, vergiss es, verzeihe, versöhne dich und versündige dich mit deiner Anzeige nicht am sozialen Frieden und wirtschaftlichen Wohlstand. Wenn du, Mann, lediglich in einen Wasserkübel gesteckt worden bist, bis dir die Lungen gerissen sind, wenn du nur impotent geworden bist, nachdem man dir die Hoden mit Elektroschocks weich gekocht hat, wenn du nur mit ansehen musstest, wie deine Mutter gefoltert wurde, wenn du nur zu fünfzehn oder zwanzig Jahren Exil verdammt gewesen bist und nur ein Haus, eine Stadt, ein Land, eine Vergangenheit verloren hast, vergiss es, verzeihe, und versöhne dich. Störe den Gutsherren-Frieden nicht; störe nicht die selige Straflosigkeit jener, denen ich mein Ministeramt verdanke (was auch immer du davon halten magst).

Die infame Geschichte der Infamie hält Chile in ihren Krallen. Doch es gibt jenes andere Chile, welches die Werte am Leben hält, die einst bessere Tage ermöglichten und dem heiligen Zorn der Gerechten Raum boten. Unsere Kinder und Kindeskinder werden es ihnen danken. Und mit ihnen rufe auch ich: KEINE VERGEBUNG! KEIN VERGESSEN!

dt. Willi Zurbrüggen

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von Von LUIS SEPÚLVEDA