15.06.2001

Lebendige Oralität

zurück

Lebendige Oralität

* Spanischer Schriftsteller, u.a. „Engel und Paria“, Frankfurt 1995; Der vorliegende (leicht gekürzte) Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe. © El País.

DIE Existenz des Homo sapiens und somit die Herausbildung der menschlichen Sprache dürften vierzig- bis fünfzigtausend Jahre zurückreichen. Dagegen stammen die ersten schriftlichen Zeugnisse, die sumerischen Keilschriften, etwa aus der Zeit um 3500 vor Christus. Der Zeitraum der „primären Oralität“, wie Walter Ong sie in seinem Standardwerk zu diesem Thema genannt hat, ist also fast zehnmal so groß wie jener der Schrift.

Neben diesen aufschlussreichen Zahlen zum Alter des mündlichen Erbes der Menschheit gilt es weitere Faktoren zu berücksichtigen, will man die wechselseitige Beeinflussung von mündlicher Tradition und schriftlichem Ausdruck sowie das zunehmende Ungleichgewicht zwischen ihnen begreifen: Von den weltweit etwa 3 000 lebenden Sprachen besitzen nur 78 eine lebendige Literatur, basierend auf einem der 106 Alphabete, die im Laufe der Geschichte geschaffen wurden. Mit anderen Worten: Hunderte und Aberhunderte von Sprachen, die gegenwärtig auf unserem Planeten verwendet werden, haben keine Schrift; ihre Kommunikation funktioniert ausschließlich mündlich.

Natürlich beruhen alle Kulturen auf Sprache. Doch diese mündliche Kommunikation hat im Laufe der Jahrhunderte und in dem Maße, wie die Existenz der Schrift und das Wissen um diese die Mentalität des fahrenden Sängers oder Erzählers beeinflussten, eine Reihe von Veränderungen erfahren. In der heutigen Welt der Massenmedien ist es schwer, noch Hüter einer mündlichen Tradition zu finden, die nicht von der Schrift und ihrem visuellen Medium auf irgendeine Weise „kontaminiert“ wären. Die halaiqis (Geschichtenerzähler) auf dem Marktplatz von Marrakesch agieren inmitten einer sich wandelnden, bildungshungrigen, im globalen Konkurrenzgeflecht agierenden Gesellschaft, die gerne auf jene herabsieht, die die Erzählungen der Vergangenheit memorieren und für die Zukunft bewahren. Dabei beruht eine solch „schiefe“, irrige Wahrnehmung der mündlichen Tradition auf einer beliebten Verwechslung: Kultur und Bildung sind nicht das Gleiche, und eben deshalb können die Hüter des mündlichen Wissens kulturvoller sein – und sind es zuweilen auch – als manche ihrer Landsleute, die lediglich den Umgang mit den audiovisuellen und Informationstechnologien gelernt haben. Doch in einer Welt, die von der Allgegenwart dieser Technologien erdrückt wird, droht der mündlichen Kultur, ob „primär“ oder „hybrid“, die größte Gefahr, was eine internationale Anstrengung rechtfertigt, um sie vor dem Aussterben zu bewahren.

Ich denke hier an die halqas auf dem Djemaa el-Fna („Platz der Gehenkten“) in Marrakesch, so wie ich sie vor einem Vierteljahrhundert angetroffen habe. Schon damals waren sich die Hüter der mündlichen Tradition ihrer Beschränkungen gegenüber der schriftlichen Kultur vollkommen bewusst, ein übermächtiger Einfluss, auf den sie auf die vielfältigste Weise reagierten. Die Wanderdichter und Erzähler berberischer Herkunft waren meist Analphabeten, und ihre religiösen Kenntnisse beschränkten sich auf die wichtigsten Suren des Korans, die sie auswendig gelernt hatten. Die Gnawas, Nachfahren der alten Sklavenorden aus dem Afrika südlich der Sahara, mischten in ihren Gesängen und rituellen Gebeten das Arabische und das Bambara. Doch sowohl die Imazighen- oder Sous-Berber wie die Gnawas hörten Radio, besaßen Kassettenrecorder und gewöhnten sich an das Fernsehen. Die „Kontaminierung“ durch die neuen Technologien führte so zu einer jener hybriden Phasen, wie wir sie heute, in unterschiedlichen Stadien und Ausprägungen, fast überall auf der Welt antreffen.

Ich will dies am Beispiel dreier Halaiqis verdeutlichen: Scharqawi, von der „Halqa der Tauben“, ist praktisch Analphabet, und sein „Vogelgespräch“ folgt einem Muster, wie er es von seinem Meister, dem „Blinden“, auswendig gelernt hat; dagegen studierte Abdeslam, bekannter unter dem Namen Sarukh („Rakete“), in seiner Kindheit in einer zawiya, bis er zum fakih (Gelehrten oder Kenner des geoffenbarten Buchs) wurde und schließlich selbst erlebte oder erfundene Geschichten mit Koranversen verknüpfte. Und Tabib al-Hascharat, der „Doktor der Insekten“, dessen Wortwitz und Improvisationstalent zwei Jahrzehnte lang seine Zuhörer in Bann zogen, parodierte oftmals die langue de bois der Radio- und Fernsehnachrichten seines Landes. So gab es – und gibt es heute noch – auf dem Marktplatz von Marrakesch halb analphabetische Wanderdichter und Erzähler, die eine reiche mündliche Tradition fortführten, welche manchmal auf geschriebenen und kodifizierten Texten beruhte, während andere Illustrationen zu Hilfe nahmen, um ihren Erzählungen neues Leben einzuhauchen.

Diese große Vielfalt an Verbindungen und Durchlässigkeiten zwischen der primären Oralität und den verschiedenen Erscheinungsformen von Schrift, Buchdruck und neuen oralen Medien (Radio, Fernsehen, Kassettenrecorder etc.) war für mich umso verlockender, als sie mir half, mich von festen Mustern und starren Grenzen zwischen der ursprünglichen mündlichen und der vom arabischen Alphabet hervorgebrachten Tradition zu lösen. Einige Male erlebte ich den Wort für Wort memorierten Vortrag schriftlicher Texte, die gleichwohl mündlichen Ursprungs waren (Tausendundeine Nacht u. a). Andere Male waren es traditionelle Erzählungen und Gebete der Berber und Gnawas oder Improvisationen über Themen der Gegenwart, bei denen sich die Vortragenden auch des Jargons der „sekundären Oralität“ bedienten. Wobei diese sekundäre Oralität von einer immateriellen Kunst begleitet war, die wiederum aus dem ganz konkreten und materiellen Umfeld der Halqa erwuchs: Grimassen, Gesten, Pausen, Lachen, Jammern, all diese körperlichen und paralinguistischen Ausdrucksformen, die für eine nicht ausschließlich mündliche Situation charakteristisch sind und zu einem außergewöhnlichen immateriellen Erbe gehören, das an den öffentlichen Vortrag gebunden ist.

Wie Cervantes bemerkte, gibt es Erzählungen, deren ganzer Reiz in der Art und Weise besteht, wie sie dargeboten werden. Die Kunst der Gaukler und Erzähler verlangt vom Publikum, dass es ganz Auge und Ohr ist. Doch auf dem Djemaa el-Fna kommen alle Sinne auf ihre Kosten: An den Essensständen tun die Menschen sich an den Gerichten der traditionellen Küche gütlich und atmen ihre verschiedenartigsten Gerüche ein; zugleich wirkt die ganz konkrete, unmittelbare, egalisierende Herzlichkeit des Ortes der städtischen Atomisierung entgegen. Tag für Tag wiederholt sich das Schauspiel auf dem Platz, und jeden Tag ist es anders. Anders sind die Stimmen, die Geräusche, die Gesten, das Publikum, das zuschaut, zuhört, riecht, schmeckt und fühlt. Das mündliche Erbe schreibt sich ein in ein anderes, das wir immateriell nennen können und das sehr viel umfassender ist. Der Platz als physischer Raum beherbergt ein reiches mündliches und immaterielles Erbe.

Was ich dort erlebt habe, weckte mein Interesse an einer Erforschung des literarischen Textes und der proteischen Verwandtschaft zwischen diesem und der Oralität. Der hybride Charakter beider sowie die Tatsache, dass bei einem volkstümlichen Phänomen wie der Halqa alle fünf Sinne des Menschen einbezogen werden, ermöglichte mir, um nur ein Beispiel zu nennen, ein besseres Verständnis der Dynamik, die zwischen der vorhomerischen traditionellen Epik und den überlieferten Texten der Ilias und der Odyssee wirkte, einer Dynamik der Umschmelzungen, wie Milman Parry sie in seinem Klassiker „The Making of Homeric Verse“ so meisterlich analysiert hat.

Sein überzeugender Nachweis, dass Homers Hexameter den besonderen Anforderungen eines Vortrags auf der Agora entsprachen – einer Situation, die den Rückgriff auf Epitheta, Sentenzen und Floskeln gebot, welche sich leicht memorieren ließen –, hat in den letzten Jahrzehnten, wie wir wissen, den Anstoß gegeben zu einer fruchtbaren Erforschung von Ursprung und Entwicklung der wedischen Hymnen, der biblischen Überlieferungen und ihrer Literarisierung im Europa des Spätmittelalters. Dieser interdisziplinäre Ansatz war für mich eine Bereicherung, insbesondere für meine Lektüre der spanischen Literatur aus der Zeit vor Erfindung des Buchdrucks. Auf dem Djemaa el-Fna konnte ich einige Episoden aus Juan Ruiz’ „Buch der guten Liebe“ in ihrem wahren Kontext erleben und aus dem Formalin einer möglicherweise notwendigen, aber in jeder Hinsicht unzureichenden Gelehrtheit bergen: die Scherze des Spielmanns (Autor oder Rezitator) passen natürlich in kein den Rechtschreibregeln unterworfenes Gedichtformat. Heute verlangen die grammatische Strukturierung und textliche Anordnung auf den Druckseiten eines Buches vom Autor, sich das Geschriebene bildhaft zu veranschaulichen, was nicht ausschließt, dass er sich der klanglichen Wirkung der Wörter deutlich bewusst wäre. Bei der Lyrik liegt dies auf der Hand, und wir wissen sogar von Dichtern, die der inquisitorischen Gewalt totalitärer Staaten ausgesetzt waren und ihre Verse nur dadurch retten konnten, dass Nahestehende oder Gleichgesinnte sie auswendig lernten (so im Falle des Johannes vom Kreuz im Spanien des 16. Jahrhunderts oder Ossip Mandelstams in der untergegangenen Sowjetunion). Wobei wir nicht vergessen dürfen, dass es auch Romanciers gibt, die heute, dem Beispiel von Schriftstellern wie Joyce, Céline, Arno Schmidt, Gadda, Guimarães Rosa und anderen folgend, polyphone Texte schreiben, deren ideale Lektüre das laute Lesen wäre.

Dass die Unesco sich den neuen Begriff des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit zu eigen gemacht hat, ist ein wichtiger Schritt hin zur Bewahrung der mündlichen Kultur Hunderter von Sprachen ohne „Grapholekt“, und zugleich ist es ein Anstoß zur Erforschung der zahllosen Überschneidungen und Zwischenstadien, die auf den Einfluss der Schrift, des Buchdrucks und der modernen audiovisuellen Medien und Informationstechnologien zurückgehen. Wenn wir uns das komplexe Mosaik anschauen, zu dem sich die bedrohten Sprachen und Kulturen fügen, ob in Lateinamerika, Afrika, Asien oder Ozeanien, dann ist dies eine gewaltige Aufgabe. Und wir müssen sie bewältigen, im vollen Bewusstsein der Gefahren, mit denen ein solches Unternehmen verbunden ist: Diese Kulturen und Sprachen sind ein lebendiges Erbe, und es gilt, nicht in die Falle zu tappen und sie zu „musealisieren“, nicht zu Anthropologen zu werden, die, wie ein mexikanischer Intellektueller sagte, „die Völker als Kulturfossilien betrachten“. Wir müssen sachte vorgehen, diskret, es geht um den Schutz der verschiedenen kulturellen Erscheinungsformen der 3 000 auf der ganzen Welt gesprochenen Sprachen und ihrer „lebenden Thesauren“, ein Schutz, der die Errichtung von „Eingeborenenreservaten“ verbietet, es sei denn als allerletzten Notbehelf: das heißt, man stellt ihnen eine Sterbeurkunde aus, nachdem man ihren Untergang auf Band aufgezeichnet und gefilmt hat, und bestückt mit diesem Material die Völkerkundemuseen in den Metropolen der Ersten Welt.

dt. Thomas Brovot

Le Monde diplomatique vom 15.06.2001, von JUAN GOYTISOLO