Über Borges
JORGE LUIS BORGES wurde am 24. August 1899 in Buenos Aires geboren. Erste Veröffentlichung soll, im Alter von neun Jahren, eine Übersetzung von Oscar Wildes „The Happy Prince“ gewesen sein. 1914 reist die Familie nach Europa, wo sie sich zunächst in Genf niederlässt und 1919 weiter nach Spanien zieht; dort schließt sich Borges der literarischen Bewegung des Ultraismus an (spanische Variante der europäischen Avantgardebewegungen von Expressionismus, Surrealismus und Futurismus). 1921 kehrt die Familie nach Buenos Aires zurück, und in den folgenden zehn Jahren entfaltet Borges intensive schriftstellerische Aktivitäten, veröffentlicht vier Essay- und drei Gedichtbände, gründet drei Zeitschriften und schreibt noch für ein Dutzend anderer Blätter. Ab 1931 arbeitet er an der von Victoria Ocampo gegründeten Zeitschrift Sur mit, die sich zu einem der bedeutendsten kulturellen Zentren Lateinamerikas entwickelt. Die 1933/34 entstandenen „pseudo-essayistischen“ (Borges) „Skizzen der Universalgeschichte der Niedertracht“ markieren nach eigener Aussage den Anfang seines Werdegangs als Erzähler. Mit den Erzählungsbänden „Fiktionen“ (1944) und „Das Aleph“ (1949) sowie der Essaysammlung „Befragungen“ (1952) erscheinen in der Folge jene Bücher, die ihn über Argentinien und Lateinamerika hinaus berühmt machen sollten. Noch bekleidet er (seit 1938) eine untergeordnete Assistentenstelle an einer Stadtbibliothek in Buenos Aires. Wegen antiperonistischer Äußerungen wird er 1946 zum „Inspektor für Hühner, Hähnchen und Kaninchen auf den städtischen Märkten“ „befördert“, 1955 jedoch, nach dem Sturz Peróns durch das Militär, trotz seiner fortgeschrittenen Erblindung zum Direktor der Nationalbibliothek ernannt. (Als Perón 1973 durch freie Wahlen erneut an die Macht kommt, legt er diesen Posten aus Protest nieder.) Dem vehement antidemokratischen Einfluss seiner Mutter bleibt Borges zeitlebens verhaftet. (Sein anfängliches Wohlwollen für die Militärdiktatur und die späte Distanzierung dürften ihn den Nobelpreis gekostet haben.) Nach ihrem Tod 1975 entfaltet er eine rege Reise- und Vortragstätigkeit, begleitet von seiner Mitarbeiterin und Lebensgefährtin María Kodama, die er wenige Monate vor seinem Tod heiratet. Er stirbt am 14. Juni 1986 in Genf.
Seinem Werk ließe sich als Motto voranstellen, was er selbst in einem autobiografischen Essay von 1969 schrieb: „Fragte man mich heute nach dem Hauptereignis in meinem Leben, so würde ich die Bibliothek meines Vaters nennen. Tatsächlich glaube ich manchmal, nie aus dieser Bibliothek hinausgefunden zu haben.“
In Borges’ Texten stoßen wir auf die barocken Ruinen metaphysischer Ordnungen und Hierarchien, welche die Menschen im Laufe ihrer Geschichte gegen die chaotische Mannigfaltigkeit des Seins aufgeboten haben und deren sinnstiftendes Moment sich verflüchtigt oder, ähnlich beunruhigend, vervielfältigt hat. Seine Essays und Erzählungen – Vorläufer aller poststrukturalistisch oder postmodern genannten Erzähltheorien – entführen uns in die allegorischen Requisitenkammern dieser Ordnungen, wo wir es mit Enzyklopädien und „Zyklopädien“, Irrgärten und labyrinthischen Wüsten, Bibliotheken und Zettelkästen, räumlichen Deklinationen der Zeit – kurz, mit den Spiegeln und Träumen der Vernunft zu tun bekommen. Nicht von ungefähr beruft sich Michel Foucaults „Ordnung der Dinge“ (1966) im Vorwort auf Borges: „Dieses Buch hat seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken. Dem Lachen, das bei seiner Lektüre alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt.“ Der fragliche Text entstammt einem „Essay“ von Borges, in dem er „eine gewisse chinesische Enzyklopädie“ zitiert, in der es heißt, dass „die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen“ („Die analytische Sprache John Wilkins’ “, Übers. K. A. Horst, in: „Essays 1952-1979“, München 1981, S. 112).
Seine Werke sind im Hanser Verlag und als Fischer Taschenbücher erhältlich. Zur Einführung: „Borges lesen“. Mit Beiträgen von Jorge Luis Borges, Fritz Rudolf Fries, Octavio Paz, Marguerite Yourcenar u.a., Frankfurt/Main (Fischer) 1991. Estela Canto, „Borges im Gegenlicht“, Übers. C. Hansen, München (Kunstmann) 1998.
CHRISTIAN HANSEN