Aber noch habe ich Alpträume und Projekte
Von RAMÓN CHAO *
RAMÓN CHAO: Guten Tag, Herr Borges. Ich freue mich und danke Ihnen, dass Sie mit mir dieses Gespräch führen.
Jorge Luis Borges: Was soll man machen! Ich bin jetzt vierundachtzig Jahre alt. Alle meine Freunde sind tot. Wenn ich an sie denke, träume ich von Geistern. Obwohl, wir alle sind zukünftige Geister, oder nicht? Seit meiner Erblindung 1955 lese ich keine Zeitungen mehr. Ich habe wenig Gelegenheit, mit Leuten zu reden. Wenn daher ein Journalist ein Interview mit mir macht, bin ich ihm sehr dankbar. Ich weise dann immer darauf hin, dass ich in der Regel allzu kategorisch auftrete, unangenehm zuweilen. Mag sein, dass ich damit meine Unsicherheit überspiele. Denn ich bin mir nie sicher bei dem, was ich sage. Wenn ich spreche, präsentiere ich eine Möglichkeit, sonst nichts. Deshalb bitte ich Sie, bevor Sie anfangen, machen Sie sich eine Liste mit relativierenden Ausdrücken wie „möglicherweise“, „vielleicht“, „es ist nicht ausgeschlossen, dass“ etc., die der Leser einfügen kann, wenn er es für angebracht hält.
RC: Keine Sorge, Herr Borges. Ich werde es so machen, wie Sie sagen, und füge sie dann selbst ein.
JLB: Mir wäre lieber, Sie würden einfach Borges zu mir sagen. Es gibt so etwas wie eine große Sympathie, beinahe Freundschaft, vor allem Kennenlernen, und Sie empfinde ich als einen Freund.
RC: Sie analysieren mich anhand der Stimme. Sind Sie imstande, sich zu einer Stimme ein Gesicht vorzustellen?
JLB: Nein; und ich sehe auch keine Notwendigkeit, das zu tun. Gefühle, Ideen, Gedanken lassen sich mit Worten ausdrücken. Nun, mir wäre es natürlich lieber, wenn ich mein Augenlicht hätte behalten können, aber die Stimme ist so persönlich, dass es mir egal ist, dass Sie ohne Gesicht sind. Die Stimme ist ausdrucksstark. Mehr als das Gesicht, vorausgesetzt, wir unterhalten uns mit Worten. Mein Verhältnis zu den Dingen ist problematischer, weil Dinge nicht sprechen. Sie sind sichtbar und lassen sich anfassen. Ich kann sie nur berühren. Ich hätte Bildhauer sein müssen. Natürlich würde ich Sie gerne sehen, aber ich muss Gründe suchen, um meiner Blindheit Würde zu verleihen, nicht wahr? Ich würde mich sonst selbst bemitleiden, was abscheulich ist.
RC: Dieser Stoizismus, verdankt er sich Ihrer eigenen Lebenssituation oder ist er ein Erbe Ihrer Vorfahren. Militärs, wie ich gehört habe, tapfere natürlich.
JLB: Ich entstamme einer Familie von Militärs. Mein Großvater, General Borges, der mit einer Engländerin verheiratet war, starb 1874 in einer Schlacht. Seine Vorhut war aufgerieben worden, und er war allein geblieben. Er ritt ein weißes Pferd und trug einen weißen Poncho. Mit gekreuzten Armen trabte er dem Tod entgegen und wurde von Kugeln durchsiebt. Meines Erachtens jedoch gibt es keinen Grund, einem Militär Tapferkeit zu unterstellen. Jemand, der sein Leben lang von einer Kaserne zur nächsten zieht, um befördert zu werden, und dabei lernt, welche militärischen Strategien es gibt, der hat keinen Grund, tapfer zu sein.
RC: Es ist eigenartig, dass Sie mit Ihrer kriegerischen Ahnentafel ein so friedfertiger Mensch sind, dass Sie den Streit verabscheuen und ihre Sätze mit Relativierungen versehen – vielleicht kanalisieren Sie ja die Gewalt in Ihr Werk, in dem es nur so wimmelt von Verbrechen, Duellen und Verrat.
JLB: Daran habe ich nie gedacht. Welch ein Glück, dass wir dieses Gespräch führen, nicht wahr? Es ist möglich, dass ich denke wie meine Vorfahren, die Militärs, und dass ich irgendwie ihr Gedächtnis bin. Möglicherweise hatten sie ein von Kriegen und Gewalt erfülltes Leben und versuchen es durch mich, der ich ihre Fortsetzung bin, vergessen zu machen.
RC: Wann kam Ihnen der Gedanke, Schriftsteller zu werden?
JLB: Schon als Kind. Zuerst durch meinen Vater, der ein philosophischer Anarchist und Dozent für Psychologie war. Er wollte Schriftsteller sein und schrieb einen Roman, den er nie veröffentlicht hat. Im Grunde bin ich Schriftsteller, weil das seine Berufung war und er sie nicht erfüllte. Er offenbarte mir den Wert der Dichtung. Die Tatsache, dass Worte nicht bloß Mittel zur Kommunikation sind, sondern vielschichtige, magische und musikalische Klänge. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, als er mir riet, weiterzulesen, nicht zu schreiben, bis ich die Notwendigkeit dazu in mir verspürte. Vor allem sollte ich mir mit dem Veröffentlichen Zeit lassen. Ich folgte in allem seinem Rat, und ich sage das mit einer gewissen Nostalgie, da mir die Blindheit seit 1955 das Lesen unmöglich macht.
RC: Sie haben die Berufung Ihres Vaters verwirklicht, wenn auch nicht ganz, da Sie nie Romane geschrieben haben. Ihr Vater hat sich geirrt, Borges. Im Vorwort zu „Fiktionen“ sagen Sie in etwa, es sei ein eitles Unterfangen, auf fünfhundert Seiten auszuwalzen, was sich auf zwanzig oder dreißig sagen lässt.
JLB: Die Wahrheit ist, dass ich kaum Romane gelesen habe. Es wäre unlogisch, wenn ich, der ich kein Romanleser bin, mich daransetzte, Romane zu schreiben, oder?
RC: Das Leben ist voller Paradoxien, Borges. Man hat Ihnen den Cervantes-Preis verliehen, und dabei mögen Sie seine Sprache nicht.
JLB: So etwas habe ich nie gesagt. Das stammt aus einer Unterhaltung, die ich mit Neruda hatte. Wir liebten es, voreinander aufzutrumpfen. Er hatte zu mir gesagt: „Man kann unmöglich auf Spanisch schreiben.“ Ich antwortete: „Sie haben Recht. Darum hat noch nie jemand in dieser Sprache geschrieben.“ Dann schlug er vor: „Warum schreiben wir nicht auf Englisch?“ – „In Ordnung“, pflichtete ich ihm bei, „aber glauben Sie, dass wir dieser Sprache würdig sind?“ Wir gelangten zu dem Schluss, dass die Dichtung aus der Sprache geboren wird, da jede Sprache eine Art ist, die Welt zu empfangen. Eine mögliche Literatur. Weshalb wir, solange wir noch nicht perfekt Englisch gelernt hatten, weiter auf Spanisch schreiben wollten.
RC: Eine merkwürdige Unterhaltung zwischen zwei Personen, die nicht zueinander passen.
JLB: Nun gut, er schrieb über die Tyrannen in Lateinamerika und widmete mehrere Strophen den Vereinigten Staaten, Perón aber nicht eine einzige. Man vermutete hinter seiner Haltung eine erhabene Verärgerung, in Wirklichkeit dachte er an den Prozess, den er in Argentinien laufen hatte, und er wollte nicht, dass ihm sein Buch schadete. Er war mit einer Argentinierin verheiratet und wusste sehr gut, was in unserem Land vor sich ging, aber sein persönliches Interesse war wichtiger. Möglich, dass ich bei irgendeiner Gelegenheit Französisch eine schöne Sprache genannt habe, die Worte besitzt, die man in keiner anderen Sprache findet, wie beispielsweise die „y“ in „j’y suis, j’y reste“ [Hier bin ich und hier bleibe ich], oder die „en“ in „nous en reparlerons“ [darüber unterhalten wir uns noch]. Dafür hat das Spanische die Verben „ser“ [sein; Wesen] und „estar“ [da bzw. so sein; Befinden], die es in keiner anderen Sprache gibt und die das metaphysische Sein vom zufälligen unterscheiden. Außerdem besitzen unsere Adjektive eine beneidenswerte Beweglichkeit, und wir haben eine flexiblere Syntax. Die Spanier sind stolz auf ihre Sprache, und aus gutem Grund. Aber vielleicht sind sie so kleinkariert, weil sie sie misshandeln. Sie sprechen sie aus, als handelte es sich um eine Fremdsprache. Jedenfalls möchte ich, dass man mich nach dem bewertet, was ich schreibe, und nicht nach dem, was ich sage. Oder was man mich zu sagen veranlasst hat, denn manchmal sage ich etwas aus Schüchternheit, um meinem Gesprächspartner nicht zu widersprechen. Wenn man dagegen schreibt, denkt man und korrigiert sich unablässig. Natürlich hat das alles nichts mit der Qualität seiner Dichtkunst zu tun. Als Miguel Angel Asturias den Nobelpreis verliehen bekam, sagte ich, dass man ihn Neruda hätte geben müssen. Als ich nach Chile kam, blieb er unsichtbar, um mich nicht zu treffen, und ich glaube, er tat gut daran. Es gefiel den Leuten, uns gegeneinander zu hetzen, weil er, der chilenische Schriftsteller, Kommunist war und ich, der argentinische Schriftsteller, deren Gegner.
RC: Eine Zeit lang haben Sie die Verbrechen der Militärs in ihrem Land ignoriert.
JLB: Auch wenn ich mich wiederhole, ich glaube, dass sich das leicht erklären lässt. Wenn man so unklug ist, die achtzig zu überschreiten, bleibt man sehr allein. Wie Sie wissen, lese ich keine Zeitungen und kenne sehr wenige Leute. Trotzdem hatte ich von Verschwundenen reden hören. Daraufhin fragte ich meine Freunde. Sie versicherten mir, ich glaube aus ehrlicher Überzeugung, dass es sich in Wirklichkeit um Touristen handele, die von da nach dort unterwegs waren, von Verschwundenen keine Rede. Bis eines Tages die Mütter und Großmütter von der Plaza de Mayo mich besuchen kamen. Unter ihnen befand sich die Kusine des Chefredakteurs von La Prensa, der einflussreichsten Tageszeitung Argentiniens. Ich begriff sofort, dass diese Frau ehrlich war. Sie versicherte mir, dass ihre Tochter seit sechs Jahren verschwunden sei und es ihr lieber wäre, sie wäre tot. Sie hatte sich an den Vatikan gewandt, an mehrere Minister und an den Polizeichef. Alle versicherten ihr, innerhalb von sechs Monaten werde sie ihre Tochter wiedersehen. Sie sah sie nie wieder.
RC: Eben haben Sie gesagt, Sie waren gegen die Kommunisten. Was werfen Sie ihnen vor?
JLB: Eine Theorie, die die Beherrschung des Individuums durch den Staat predigt, kann mich nicht begeistern. Gleichwohl scheint es mir ungerecht, ein Urteil über einen Schriftsteller aufgrund seiner politischen Einstellung zu fällen. Denn wenn man sagt, Kipling habe das britische Empire verteidigt, muss man doch anerkennen, dass er ein großer Schriftsteller war. Und im Falle Whitmans verhält es sich eben anders, er hält große Stücke auf die Demokratie und ist ein wunderbarer Autor. Ich bin gegen die Demokratie, die nichts anderes ist als ein Missbrauch der Statistiken, und sie ist ein Film, der immer schlecht ausgeht.
RC: Sie waren einmal Filmkritiker. Trauern Sie dem Kino nach?
JLB: Nicht sehr, denn schon bald waren die Filme nicht mehr stumm.
RC: Bedauern Sie das?
JLB: Selbstverständlich. Und dann das Aufkommen des Farbfilms, das nächste Unglück. Da mir die Blindheit schon das Anschauen von Filmen erspart, fehlt mir nur noch die Taubheit, um mich vollends vom Übel des Kinos zu befreien.
RC: Erinnern Sie sich spontan an einen Film?
JLB: Einen unter der Regie von Sternberg über die Gangster von Chicago. Er hinterließ bei mir einen epischen Eindruck. Hinterher erfuhren wir, dass Gardel anschließend im Kino singen würde. Ich fürchtete, dass Gardel diesen epischen Eindruck zerstören oder abschwächen würde. Und so verpasste ich eine Gelegenheit, ihn persönlich zu hören.
RC: Verkörpert Gardel nicht das, was sich hochtrabend die argentinische Seele nennen ließe?
JLB: Die argentinische Seele ist verdorben und häufig korrumpiert worden. Vor allem durch die abscheuliche Diktatur Peróns. Der Charakter des Landes hat sich stark verändert. Jetzt befinden wir uns in einer Periode nicht der Rettung, diese Einschätzung wäre verfrüht, aber doch in einer der moralischen Gesundung. Wir sind dabei, uns zu erholen; ich sage nicht, zu bereuen, denn ich bin nie Peronist gewesen. Aber ich glaube, dass wir auf dem Wege sind, jene Jahre zu vergessen, die für die übrige Welt womöglich lächerlich waren, die jedoch für uns nicht allein lächerlich, sondern abscheulich und infernalisch waren.
RC: Ist Gardel denn ein Symbol für Argentinien? Dort heißt es ja, er singe mit jedem Mal besser.
JLB: Als Junge sah ich einmal einen Leierkastenmann, und die Männer tanzten miteinander den Tango, der aus den Bordellen stammte. Die Frauen tanzten nicht, weil sie wussten, dass die Texte obszön waren. Sie sangen flüsternd, auf eine absichtlich ausdruckslose Weise. Vor allem, wenn es um Blutvergießen ging. Damals bereits war der Sänger fast nicht zu hören. Das heißt, er besaß jene Scheu, die für die Argentinier typisch zu sein scheint. Bis der Franzose Carlos Gardel kam. Und seine große Entdeckung, abgesehen von dem besonderen Zauber seiner Stimme, war die Dramatisierung des Tangos. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit meiner Mutter in den USA war und wir einen Tango hörten. Er gefiel uns nicht, und trotzdem liefen uns in kürzester Zeit die Tränen die Backen hinunter. Das heißt, es gab in dieser Musik etwas, das der Intelligenz überlegen war und das uns bewegte.
RC: Ich stelle fest, dass Sie eine große Leidenschaft für die Genealogie besitzen.
JLB: Ich glaube, sie ist ein literarisches Genre, wie alles. Die Engländer haben einen hübschen Aphorismus: „Weise das Kind, das weiß, wer sein Vater ist.“ Wie viel weiser wird also derjenige sein, der weiß, wer sein Großvater und sein Urgroßvater ist.
RC: Zweifellos wissen Sie, wer Ihre Eltern waren.
JLB: Meine Mutter war Engländerin. Ich sprach Englisch mit ihr. Mit meinem Vater sprach ich Spanisch. Als Kind kam ich in die Schweiz, wo ich mit der Lehrerin Französisch sprach und bei einem Gymnasiallehrer Latein lernte. Damals glaubte ich, dass jeder Mensch eine eigene Sprache habe. Eigenartig, nicht wahr? Hunderte Millionen von Sprachen. Aber vielleicht stimmt es auch, und das ist der Grund, warum wir uns nicht verstehen.
RC: Haben Sie wie Ihr Vater geschrieben? Oder Ihr Vater wie Sie?
JLB: Ich sage Ihnen was: Gewöhnlich ist der Stil nicht schon in den ersten Büchern da, weil man aus Bescheidenheit oder Ehrgeiz mit Nachahmen beginnt. Ich glaube, ein Schriftsteller findet seinen Stil erst nach Jahren, in Folge von – im Allgemeinen schmerzhaften – Erfahrungen, die ihm das Schicksal beschert. Als junger Mann schrieb ich sehr barock, suchte ungebräuchliche Worte oder erfand sie. Heute unterlasse ich alles, was den Leser überraschen könnte. Ich vermeide Archaismen, Metaphern und alles, was dazu nötigt, ein Lexikon zu benutzen. Ich versuche, zu einem gemeinsamen Grund der Sprache jenseits zeitlicher und geografischer Beschränkungen zurückzukehren. Jeder Schriftsteller flieht, entledigt sich all dessen, was barock erscheinen könnte, und tendiert zur Einfachheit, fast zur unbeschriebenen Seite. George Moore hat einmal als Lob auf einen Schriftsteller gesagt: „Er schreibt in einem fast anonymen Stil.“ Und man sollte nicht versuchen, modern oder zeitgenössisch zu sein, denn fatalerweise sind wir es.
RC: Glauben Sie, dass Sie nun ganz Borges geworden sind, jetzt, da Sie ein „Werk“ besitzen?
JLB: Es bewegt mich, dass Sie das sagen, aber bitte setzen Sie Werk in Anführungszeichen. Ich habe kein Werk, nur Fragmente. Und ich weiß nicht, warum sie mich berühmt gemacht haben. Man hat mir die Ehrendoktorwürde der Sorbonne, von Cambridge und mehreren anderen Universitäten verliehen, darunter die von Kreta, sie liegt neben dem Labyrinth ... Aber was Borges sich wünschen würde, wäre, dass man ihn mehr für das loben würde, was er nicht geschrieben hat, als für das, was er geschrieben hat. Das heißt, für das, was er durchgestrichen hat und was sich zwischen den Zeilen findet. Das habe ich Cervantes und der französischen und englischen Literatur zu verdanken. Im Allgemeinen ist das Spanische sehr pompös. Mir ist immer Boileaus Satz gegenwärtig: „Ich habe Molière die Kunst gelehrt, mit Mühe leichte Verse zu machen.“ Ein Henry James kann natürlich nicht leicht sein, weil er die Zweideutigkeit sucht. Aber nach meinem Verständnis haben wenige Schriftsteller eine solche Vollkommenheit erreicht wie Kipling in seinen Kurzgeschichten. Da gibt es nicht ein Wort zu viel. Auf bescheidene Weise versuche ich von ihm zu lernen. Einfach und vielschichtig zugleich sein. Klar, einige Themen verlangen nach der Romanform, wie Napoleons Russlandfeldzug. Aber ich glaube nicht, dass ich noch einmal Romane schreiben werde.
RC: Vor allem werden Sie nicht anfangen, Tolstoj zu lesen.
JLB: Ich hatte angefangen, „Krieg und Frieden“ zu lesen, und legte es beiseite, weil die Personen uninteressant waren. George Moore schrieb, dass Tolstoj eine so minutiöse Beschreibung der zwölf Teilnehmer einer Jury gab, dass, als er beim vierten war, er sich schon nicht mehr an den ersten erinnern konnte. Aber Sie wissen ja, dass ich 1955 aufgehört habe zu lesen. Heute bekomme ich vorgelesen, und ich höre lieber, was ich bereits kenne. Und ich schreibe: Besser gesagt, ich diktiere. Etwas anderes kann ich nicht. Ich bin dreiundachtzig und habe viele Projekte. Ich schaue immer nach vorn.
RC: Ich erinnere mich daran, dass bei meinem letzten Besuch, zusammen mit Ignacio Ramonet, Ihre Leidenschaft der Etymologie gehörte.
JLB: Daran hat sich nichts geändert. Der Ursprung der Worte führt weiter als ihre Fortzeugungen. Sehen Sie zum Beispiel, wie sich das sächsische Wort bleich, also farblos, entwickelt hat. Zu gegensätzlichen Bedeutungen: Zu blanco [weiß] im Spanischen und zu black [schwarz] im Englischen. Und woher stammt das Wort Jazz? Im kreolischen Englisch von New Orleans bedeutete to jazz so viel wie Liebe machen. Auf kurze und heftige Art Liebe machen, wie es der Wortklang nahe legt. Kürzlich habe ich gelernt, dass Kosmetik aus dem Griechischen stammt: die Welt ordnen. Das Gesicht verschönern, als wäre es das Universum. Interessant, nicht wahr? Klar, für viele Leute ist das so.
RC: Professor Pascual hat mir erklärt, dass die Kanarischen Inseln nicht darum so heißen, weil es auf ihnen viele Vögel gegeben hätte. Vielmehr nannte sie ein mauretanischer König so, weil es dort viele Hunde [canes] gab.
JLB: Meine Güte. Da habe ich etwas Neues gelernt von Ihnen. Wie beim letzten Mal von Ihrem Kollegen Ramonet, der mir die Etymologie von Gabun erläuterte.
RC: Was für ein Gedächtnis, Borges! Fast wie Funes.
JLB: Funes el memorioso [Das unerbittliche Gedächtnis] ist eine Art Metapher der Schlaflosigkeit.
RC: Darum ist die Erzählung so beängstigend.
JLB: Ja, nicht schlafen zu können ist furchtbar. Ich habe in Buenos Aires ein Jahr lang darunter gelitten, im Sommer mit seinen langen Nächten und dem Summen der Mücken. Als hätte ein diabolischer Widersacher mich strafen wollen.
RC: Man merkt, dass Sie Agnostiker sind, oder zumindest Dualist. Schon immer, oder hatten Sie eine religiöse Erziehung?
JLB: Wie alle bekam ich eine religiöse Erziehung. Aber nur kurze Zeit. Vielleicht hatte ich nicht an einen einzigen Gott glauben können, wo es im Universum so viele gibt. Ein individueller Gott? Und wer versichert mir, dass der Meine der wahre ist? Ich könnte ihm nicht verzeihen, dass er für mich verantwortlich wäre. Was für eine Religion ist das, mit ihren Banken, ihrer Polizei und ihren Geheimdiensten? Der Papst ist ein Politiker wie jeder andere. Er verfiel auf die Idee, die Erde zu küssen. Nun, jedem das Seine. Christus hat gesagt, mein Reich ist nicht von dieser Welt. Der Papst denkt da anders. Er ist nach Mexiko gegangen und hat sich mit einem Mariachi-Hut fotografieren lassen. Wie kann man an dieses theologische Monstrum, die Dreifaltigkeit, glauben? Sie ist unwahrscheinlicher als das Einhorn, die Sphinx oder der Kentaur. Mein Vater sagte zu mir, diese Welt ist so außergewöhnlich, dass alles möglich ist, sogar die Dreifaltigkeit. Darum meine Rede, dass die Theologie reicher ist als die phantastische Literatur. Drei Personen, darunter eine Taube und ein einziger Gott. Damit sind wir von den Delirien eines Poe, Wells oder Kafka meilenweit entfernt. Dagegen bewundere ich die Bibel. Wer könnte auf die Idee kommen, vier Texte von verschiedenen, völlig verschiedenen und sich sogar widersprechenden Autoren zusammenzuführen, um ein einziges Buch daraus zu machen und es dem Heiligen Geist zuzuschreiben? Also, ich hätte alles Mögliche sein können. Methodist zum Beispiel, wie einige meiner Vorfahren, aber nicht katholisch. In meinem Land gehören die Katholiken zu einem Menschenschlag, der mir missfällt. Sie halten Argentinien für ein eigenständiges Land, wo wir doch alle wissen, dass es ein verspäteter Ableger ist und seine Geschichte nicht zu verstehen wäre, ohne Spanien hinzuzudenken.
RC: Interessieren Sie sich noch für theologische Dispute? Eigentlich ist doch nach den Kirchenvätern nicht viel Neues dazugekommen.
JLB: All das macht mir immer noch große Freude, so wie die Detektivgeschichten und Sciencefiction-Romane. Aber ich glaube nicht, dass das irgendjemand ernst nehmen kann. Ob Gott existiert? Wir bekommen gesagt, er sei ein allwissendes Wesen, allmächtig und voller Güte. Es braucht nur ein paar Zahnschmerzen, und die Welt sieht für uns nicht danach aus, als ob das stimmen würde. Heute stehen Theologie und Literatur ohnehin auf ziemlich verlorenem Posten. Die Leute interessieren sich nur für Sport und Politik. Beides ist belanglos und schürt nationalistische Gefühle, die sehr gefährlich sind. Vor nicht allzu langer Zeit organisierte die argentinische Regierung Fußballspiele. Finden Sie es nicht unerhört, dass Regierungen Fußballspiele organisieren? Und der Staatschef, der so ein Spiel besucht hatte, sprang von seinem Sitz auf und schrie „Tor!“. Wie kann man sich nur so lächerlich machen? Die Leute und die Zeitungen jubelten: „Wir haben Holland besiegt“. Es genügte, dass elf argentinische Jungs ein Spiel gegen elf holländische Jungs gewannen, damit Holland besiegt war. Mir fiele nicht im Traum ein, Erasmus zu besiegen.
RC: Sind Sie in letzter Zeit viel gereist?
JLB: Ja; erstaunlich viel. Als ich jung war und sehen konnte, mochte ich nicht reisen. Jetzt, alt und blind, tue ich es gern. Ich würde gern den Orient kennen lernen, der sich für mich leider auf Ägypten und Andalusien beschränkt. Und auch Indien, das ich durch Kipling entdeckt habe. Ich habe eine Einladung nach Japan für Oktober und ich möchte hinfahren. Sie werden sagen, ich bin blind und kann nichts sehen, aber ich glaube, das stimmt nicht. Schon in dem Gedanken „Ich befinde mich in Japan“ liegt ein Reichtum. Ich kann die Länder nicht sehen, aber ich bin sicher, ich werde sie wahrnehmen, ich weiß nicht anhand welcher Zeichen. Das ist nichts Geheimnisvolles, das geschieht andauernd. Vor kurzem brachte mich María Kodama dazu, in einer Montgolfiere zu reisen. Wir waren fünf Passagiere. Das Aufsteigen, die Kälte der Winde und die Wärme des Gases, die Süße der Landschaft hinterließen bei mir einen unvergesslichen Eindruck.
RC: Sie sind auch imstande, die Landschaft zu genießen, Borges? Erahnen Sie sie auch aus den Vibrationen in den Stimmen der anderen Passagiere?
JLB: Nein. Was ich mir vorstelle, mag vollkommen anachronistisch sein, vielleicht stütze ich mich auf Eindrücke aus der Zeit, als ich noch sehen konnte. Wenn ich jetzt ein Auge schließe, bin ich imstande, einige Farben zu erahnen, vor allem Grün und Blau. Was mir nie verloren geht, ist das Gelb. Was mich dagegen meidet, ist das Schwarz. Mir fehlt die Dunkelheit. Eigenartig bei einem Blinden, nicht wahr? Sogar wenn ich schlafe, befinde ich mich in einem grünlichen oder bläulichen Nebel, doch die Schwärze bleibt mir verwehrt.
RC: Was Sie uns von Ihren Reisen erzählen, ist erstaunlich, aber man stellt Sie sich ohnehin als einen Kosmopoliten vor.
JLB: Zumindest versuche ich, einer zu sein. Das mit den Grenzen und den verschiedenen Nationen kommt mir absurd vor. Weltbürger zu sein ist das Einzige, was uns retten kann. Ich will Ihnen eine persönliche Anekdote erzählen, die ich oft erzählt habe. Als ich ein Kind war, fuhren wir einmal nach Montevideo, und mein Vater sagte, ich muss neun Jahre alt gewesen sein: „Ich möchte, dass du dir die Fahnen, die Zollstellen, die Militärs, die Priester genau anschaust, weil all das verschwinden wird und du später deinen Kindern erzählen kannst, dass du sie noch gesehen hast.“ Das genaue Gegenteil ist eingetreten. Es gibt mehr Fahnen, mehr Grenzen, mehr Militärs als je zuvor.
RC: Aber weniger Geistliche.
JLB: Wer weiß! Heute gehen sie incognito. Ah! Und da er Vegetarier war, zeigte er mir auch eine Metzgerei, damit ich eines Tages würde sagen können, „ich habe einen Ort gesehen, wo Fleisch verkauft wurde“. Mein Vater mag vielleicht Recht gehabt haben, und auf lange Sicht wird all das geschehen, zweifellos aber war es eine sehr verfrühte Prophezeiung, und es wird mehrere Jahrhunderte dauern, bis sie sich erfüllt. RC: Das mag ja alles sein, aber rät nicht die Heilige Schrift, sich mit siebzig zurückzuziehen.
JLB: Sie meinen, ich übertreibe es, ich bin eigentlich zu alt dafür, nicht wahr?
RC: Deswegen habe ich das nicht gesagt, Borges.
JLB: Ich erwarte den Augenblick des Todes. Dabei ist in meiner Familie der Tod immer schrecklich gewesen, jedesmal eine schier unendliche Agonie. Meine Mutter starb mit neunundneunzig Jahren, verzweifelt. Ich fürchte nicht den Tod, das andere schon. Mit mir erlischt eine Linie, und das ist bitter für jemanden, der wie ich die Genealogie verehrt.
RC: Seien Sie unbesorgt, Borges. Sie hinterlassen auch keine Epigonen.
JLB: Sie beruhigen mich. Dann kann ich also in Ruhe auf den Tod warten?
RC: Ich weiß nicht, denn Sie haben einmal gesagt oder geschrieben, ich weiß nicht mehr: „Die Ewigkeit belauert mich.“
JLB: Die eigene Unsterblichkeit ist unglaublich, aber der eigene Tod ist es auch. Ich glaube, es war eine Paraphrase des Verses „et tout le reste n’est que littérature“ [und alles andere ist Literatur] ... Aber sehen Sie, ich bin nicht verantwortlich, weder für das, was ich habe sagen können, noch für das, was ich jetzt sage. Die Dinge verändern sich andauernd, und wir mit ihnen. Ich werde Ihnen nicht den berühmten Satz von Heraklit zitieren, über den Fluss, der immer nicht derselbe ist, sondern einen Vers von Boileau: „Der Moment, in dem ich spreche, liegt mir bereits fern.“
RC: Trotzdem machen Sie sich gern lustig über den Tod. Oder über die Langlebigkeit – eine schlechte Angewohnheit, von der man schwer lassen kann, haben Sie einmal gesagt.
JLB: Nicht ich, sondern der Volksmund: „Nichts taugt besser als der Tod, um die Leute zu bessern.“ Und dann die Verse einer Milonga, in denen es über einen zum Tode Verurteilten heißt:
„Manuel Flores wird sterben.
das weiß jedes Kind.
Sterben ist eine Gewohnheit,
von der die Leute nicht loskommen.“
RC: Caramba. Klingt wie Borges. Und dieser Borges? Hat er Angst vor dem Tod?
JLB: Nein, ich nicht. Wie mein Vater habe ich die Hoffnung, vollständig zu sterben, Körper und Seele, wenn es denn eine Seele gibt. Ich kenne viele Gläubige, die große Angst haben. Die einen hoffen, ins Paradies zu kommen – das Bernard Shaw zufolge nichts als Bestechung ist –, und andere fürchten die Hölle. Ich dagegen erwarte den Tod hoffnungsvoll, denn dann werde ich endlich die Dunkelheit wiedergewinnen. Ein Agnostiker wie ich, der sich weder der gerechten Strafe noch der Belohnung für würdig erachtet, darf beruhigt abwarten.
RC: Borges, vielleicht kann ich Ihnen eine interessante Adresse geben, die des Verbandes für das Recht auf einen würdevollen Tod, dem ich angehöre.
JLB: Selbstmord begehen? Ich glaube, jeder hat das Recht dazu. Ich habe öfters darüber nachgedacht, wenn ich mich unglücklicher fühlte als gewöhnlich. Auch um zu sehen, was geschieht, wenn man sein Leben verliert, nachdem man bereits sein Augenlicht verloren hat. Ich dachte sogar daran, mir ein Messer aus schwedischem Stahl zu kaufen, das ich nie bekommen konnte. Dann sagte ich mir, dass es genügte, die Idee gehabt zu haben. Und jetzt, wo ich alt bin, glaube ich, dass es bereits ein wenig spät ist. Unverhofft kommt der Tod und nimmt dir die Arbeit ab. Aber noch habe ich Alpträume und Projekte, für die ich wenigstens noch ein paar Jahre Zeit bräuchte.
dt. Christian Hansen
* Spanischer Journalist und Schriftsteller, Autor u.a. von „Prisciliano de Compostela“, Barcelona (Seix y Barral) 1999