Macht vor Gericht
Von IGNACIO RAMONET
JACQUES CHIRAC ist bei weitem nicht der einzige Staatspräsident, dem die Untersuchungsrichter auf den Fersen sind. Ob demokratisch gewählt oder autoritär an die Macht gelangt, in vielen Ländern müssen (ehemalige) Staatschefs erleben, wie sie ungeachtet ihrer Amtswürde belästigt, angeklagt, an den Pranger gestellt werden. Vorbei ist die Zeit, da sie als unantastbar galten. Nicht ganz zu Unrecht sprechen Beobachter daher vom „ultimativen Ende des Ancien Régime“, ist es doch die „Herrlichkeit“ des Präsidentenamtes selbst, die unter unseren Augen buchstäblich den Kopf verliert.
So sahen sich die Staats- und Regierungschefs, die sich im Juli zum G-8-Gipfel in Genua trafen, wieder einmal mit mächtigen Demonstrationen konfrontiert, deren Zorn freilich nicht ihnen persönlich galt, sondern der gesichtslosen Globalisierung, die sie verkörpern. In ihrer Luxusabsteige verbarrikadiert, gaben sie den Bürgern das abscheuliche Schauspiel eines Clubs von arroganten Superreichen. Wie die Satrapen längst vergangener Zeiten saßen sie hinter ihren militärisch gesicherten Mauern, geschützt durch eine Polizei, die wie in einem Bürgerkrieg agierte und nicht zögerte, den 23-jährigen Demonstranten Carlo Giuliani zu töten.
Zu ihrer Verteidigung hatten die Führer der reichsten Industrieländer nur die alte Leier parat: „Wir sind demokratisch gewählt.“ Doch die Bürger lassen sich davon nicht mehr beeindrucken, schließlich ist demokratische Legitimation das Mindeste, was man von einem Staatsoberhaupt verlangen kann. Nur ist sie eben kein Freibrief, ihre Wahlversprechen und das Gemeinwohl zu verraten oder exzessive Privatisierungen durchzusetzen und nur die Interessen der Unternehmen wahrzunehmen, die den eigenen Wahlkampf finanziert haben. Zwei der acht anwesenden Präsidenten – die Herren Bush und Berlusconi – vertreten bekanntlich eher die Großkonzerne als ihre Mitbürger.
In jüngster Zeit zielt die Anklage gegen die Herrschenden in erster Linie auf die Staats- und Regierungschefs, denen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt werden. So wurde Chiles Exdiktator General Pinochet auf Ersuchen des spanischen Untersuchungsrichters Baltasar Garzón 1998 in London verhaftet und im März 2000 nach Chile ausgewiesen, wo der chilenische Richter Guzmán abermals Anklage erhob. Unter dem Vorwand, der Exdiktator leide an Senilität, wurde das Verfahren am 9. Juli dieses Jahres eingestellt.
Die Affäre Pinochet hat die internationalen Bedingungen für den Kampf gegen die Straffreiheit grundlegend verändert. Seither flatterte einigen ehemaligen Verantwortungsträgern eine richterliche Vorladung ins Haus. So erhob ein Pariser Richter gegen den algerischen General Nezzar Anklage wegen Kriegsverbrechen. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger wurde von einem Pariser Untersuchungsrichter wegen mutmaßlicher Beteiligung am Putsch gegen den chilenischen Regierungschef Salvador Allende (1973) vorgeladen. Der israelische Ministerpräsident Scharon darf sich in Belgien nicht blicken lassen, wo ein Verfahren wegen Beihilfe zum Massaker von Sabra und Schatila in Beirut 1982 anhängig ist.
DAMIT nicht genug. In Senegal wurde am 3. Februar 2000 der ehemalige Staatspräsident des Tschad, Hissène Habré, wegen „Beihilfe zur Folter“ angeklagt und unter Hausarrest gestellt. Seit 10. Juli dieses Jahres sitzt der argentinische Putschgeneral Jorge Videla in Untersuchungshaft. Ihm wird die Mitarbeit am „Plan Condor“ vorgeworfen, in dessen Rahmen die lateinamerikanischen Diktaturen in den 70er-Jahren systematisch ihre Gegner „verschwinden“ ließen. Am 29. Juni fand die umstrittene Auslieferung des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs Milosevic ans Internationale Kriegsverbrechertribunal für Jugoslawien in Den Haag statt. Die Anklage lautet auf „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
Doch nicht nur wegen mutmaßlicher Beihilfe zu Bluttaten ermitteln die Gerichte gegen hochrangige Persönlichkeiten; auch demokratisch gewählte Staatsoberhäupter müssen sich neuerdings wegen des Vorwurfs der Bestechlichkeit vor Gericht verantworten – eine Moralisierung der Politik, die sich weltweit manifestiert. So wurde im Juni der ehemalige argentinische Staatspräsident Carlos Menem verhaftet und unter Hausarrest gestellt, weil er während seiner Amtszeit in illegale Waffengeschäfte verwickelt gewesen sein und aus dunklen Kanälen Provisionszahlungen in Höhe von zig Millionen Dollar erhalten haben soll.
Expräsident Alberto Fujimori, der in Peru ebenfalls durch demokratische Wahlen ans Ruder gelangt war, flüchtete im November 2000 nach Japan, weil die Justiz seines Landes wegen Mordes und Korruption hinter ihm her war. Fujimoris rechte Hand Vladimiro Montesinos sitzt seit Juni hinter Gittern. Auf den Philippinen wurde am 20. Juni Joseph Estrada aus dem Präsidentenamt gejagt, nachdem die Öffentlichkeit von seiner Verwicklung in einen Korruptionsskandal erfahren hatte. Seit dem 25. April sitzt Estrada unter anderem wegen wirtschaftlicher Ausplünderung des Landes in Untersuchungshaft: Er soll während seiner Amtszeit ein persönliches Vermögen von 80 Mio. Dollar angehäuft haben. In Indonesien wurde am 23. Juli Präsident Wahid abgesetzt und wegen Korruption angeklagt. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen.
Die Kritik am politischen Führungspersonal beschränkt sich also nicht auf die demokratischen Industriestaaten, sondern greift inzwischen auch auf viele Länder des Südens über – als ob die Globalisierung der Finanzmärkte ihr Echo in einer Globalisierung der politischen Moral fände. Und dieser Flächenbrand breitet sich ebenso rasch aus wie die Bewegung der Globalisierungsgegner, die sich in den knapp zwei Jahren zwischen Seattle und Genua vom folkloristischen Protest zur Revolte einer Generation, vom punktuellen Aufstand zur weltweiten sozialen Auseinandersetzung entwickelt hat.