Palästina und das arabische Lager
Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *
Der Zwangsmechanismus von Intifada und israelischer Repression hat alle Bemühungen um eine reale Waffenruhe zum Erliegen gebracht, und damit steht in Palästina die Frage an, wer politisch die Oberhand behalten wird: jene Fraktion, die entschlossen ist, das Kräftemessen so lange fortzusetzen, bis Israel an den Verhandlungstisch zurückkehren muss, oder jenes andere Lager, das den Niedergang der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) verhindern möchte und den Verlust aller Errungenschaften fürchtet, die sich aus den Oslo-Verträgen ergeben haben.
Ein hochrangiges Führungsmitglied der Hamas erklärt unumwunden: „Nun, da das vollständige Scheitern des ‚Friedensprozesses‘ die Rückkehr zum bewaffneten Kampf notwendig gemacht hat, darf dieser Kampf nicht mehr aufgegeben werden. Er wird sich zweifellos nicht auf das palästinensische Territorium beschränken, unser Ziel ist es vielmehr, durch den Schock die gesamte arabische und muslimische Welt für unsere Sache zu mobilisieren.“ Auf den Einwand, dass bislang keiner der Staaten in der Region Bereitschaft zeige, auch nur indirekt in eine Auseinandersetzung mit Israel verwickelt zu werden, erfolgt prompt die Antwort, dass die öffentliche Meinung, die Bevölkerung, die Massen die verschiedenen Regierungen dazu zwingen würden, ihre indifferenten Haltungen aufzugeben – und andernfalls eigene Mittel und Wege finden würden, dem palästinensischen Widerstand beizustehen oder den Staat Israel unter Druck zu setzen. Auf den Hinweis, die PLO habe doch bereits Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre vergeblich darauf gesetzt, dass ihr Vorbild und ihre Aufrufe anderenorts „Revolutionen“ hervorbringen würden, folgt eine Antwort, die typisch ist für die sich „islamistisch“ nennende politische und soziale Bewegung, deren palästinensische Ausprägung die Hamas ist: Die arabische und muslimische Welt sei nicht durch „Revolutionen“ zu mobilisieren, sondern allein durch den Glauben.
Dieser Position entspricht durchaus die Haltung der Fatah-Führung. Sowohl die Sicherheitsbeauftragten für Gaza und das Westjordanland, Mohammad Dahlan und Dschibril Radschub, als auch Marwan Barghuti, der eine Schlüsselrolle in der gegenwärtigen Intifada spielt, vertreten sie. Niemand würde eingestehen wollen, dass die Hunderte Toten und Tausende Verletzten, welche die von der Fatah angeführte, aber auch von anderen palästinensischen Organisationen getragene Volkserhebung innerhalb des letzten Jahres auf palästinensischer Seite gefordert hat, vergebens waren.
Also wird es eine Einstellung der Kampfhandlungen nur geben, wenn dafür eindeutige und überprüfbare politische Gegenleistungen erbracht werden. Im Übrigen ist es heute undenkbar, einige hundert Aktivisten der Hamas und des Islamischen Dschihad in Schutzhaft zu nehmen, auch wenn die Fatah deren Methoden rundweg ablehnt. Auf solche Verhaftungen haben sich die Sicherheitsbeauftragten der PNA zu Zeiten zwar eingelassen, aber damals glaubte man durchaus noch an den Aufbau eines lebensfähigen Palästinenserstaates. Heute scheint die gnadenlose Auseinandersetzung mit der israelischen Unterdrückung die einzige Perspektive.
Die Position des Beraterkreises um Palästinenserpräsident Arafat, vor allem derjenigen, die seit den Oslo-Verträgen bis zu den Verhandlungen in Taba im Januar 2001 für die Verhandlungen zuständig waren, lässt sich auf folgenden Nenner bringen: Man muss alles versuchen, um die Errungenschaften der vergangenen Jahre zu erhalten, vor allem das Fortbestehen einer politischen Exekutive, die ihren Sitz vor Ort, auf palästinensischem Territorium hat und nicht mehr den Zwängen des Exils unterliegt. Diese palästinensische Regierung, auch wenn sie offiziell nicht so heißt, verfügt nach wie vor über Rückhalt in der Bevölkerung und gilt der internationalen Gemeinschaft als einziger seriöser Verhandlungspartner.
Aus ebendiesem Grunde haben Jassir Arafat und seine Berater den Kontakt zu ihren US-amerikanischen (und in zweiter Linie den israelischen) Gesprächspartnern nie ganz abreißen lassen, bis es am 15. Juni 2001 so aussah, als würde das Durchhaltevermögen belohnt. Eine Reihe von koordinierten Schritten war geplant: vom kontrollierten Waffenstillstand bis zu deeskalierenden und vertrauensbildenden Maßnahmen, dann sollten die politischen Gespräche wieder aufgenommen werden, deren Ziel ein Friedensvertrag war – spätestens im Juni des folgenden Jahres. Doch dieses Konstrukt brach unter der Last der tödlichen Auseinandersetzungen zusammen.
Es hätte noch schlimmer kommen können: Die israelische Armeeführung hatte bereits eine umfassende militärische Operation geplant, mit dem Ziel, die Palästinensische Autonomiebehörde vollständig zu entmachten und aufzulösen. Nur in Gaza-Stadt und in wenigen Bezirken des Westjordanlands, wo die israelische Regierung trotz diverser gescheiterter Versuche glaubte, neue Verhandlungspartner zu finden, sollte es noch eine Teilautonomie geben. Doch nach Einwänden der USA verlegte Israel sich auf eine Zermürbungstaktik, die Schritt für Schritt zur Zerstörung der militärischen und politischen Strukturen des palästinensischen Widerstands führen soll: Seither sind fast täglich genau ausgewählte Ziele angegriffen worden. Was die Gefahr einer Ausweitung dieses Krieges angeht, macht es allerdings kaum noch einen Unterschied, ob Israel bei dieser Taktik bleibt oder sich doch noch zu der geplanten Radikallösung entschließt.
Die USA sind besorgt und wollen um jeden Preis neue bewaffnete Auseinandersetzungen verhindern, da diese die nach dem zweiten Golfkrieg etablierte militärische, wirtschaftliche und politische Ordnung bedrohen könnten. Auch unter der neuen Regierung hat sich dieses Ziel nicht geändert, doch die Bush-Administration muss in Rechnung ziehen, dass unter Präsident Clinton sowohl die israelisch-palästinensischen Verhandlungen als auch das geplante Abkommen zwischen Israel und Syrien gescheitert sind.
Einige amerikanische Regierungsvertreter, die mit der Nahostfrage befasst sind, machen keinen Hehl daraus, dass Scharons Verhalten sie irritiert. Die täglichen Angriffe des israelischen Ministerpräsidenten gegen die Palästinensische Autonomiebehörde und vor allem deren Präsidenten Jassir Arafat untergraben alle Anstrengungen der amerikanischen Diplomatie. CIA-Direktor George Tenet sah sich bei seinem ersten Zusammentreffen mit Arafat, Mitte Juni 2001, zu der Versicherung genötigt, dass der PNA-Präsident nach wie vor für Washington der einzige palästinensische Verhandlungspartner sei. Und US-Außenminister Colin Powell ließ Sprecher seines Ministeriums deutliche Kritik am Ausbau der Siedlungen und an den spektakulären Kommandoaktionen der israelischen Armee in den palästinensischen Gebieten üben.
Auch dass die Operation zur Entmachtung und Auflösung der Palästinensischen Autonomiebehörde einstweilen nicht durchgeführt wurde, ist auf heftige Einwirkung aus Washington zurückzuführen. Doch man darf daraus nicht schließen, dass die USA alle ihr zu Gebote stehenden Mittel einsetzen würden, um Israel zum Einlenken zu bewegen. Wie seine Vorgänger hat auch Präsident George W. Bush im Umgang mit der Nahostkrise noch einige andere Faktoren zu beachten – darunter das politische Klima im Kongress und die Tatsache, dass er die Präsidentschaftswahlen nur äußerst knapp gewonnen hat.
Bereits jetzt fürchtet die US-Außenpolitik durch die Entwicklung des israelisch-palästinensischen Konflikts um ihre außenpolitischen Ziele, die sie im Irak schon seit längerem gefährdet sieht. Die neue Regierung wollte das System der Sanktionen umgestalten: die Importbeschränkungen sollten weitgehend gelockert, dafür aber der irakische Außenhandel noch schärfer kontrolliert werden – zunächst indem man die Geldbewegungen weiterhin beaufsichtigt, aber auch durch direkte Überwachung der Ein- und Ausfuhren an den Landesgrenzen.
Zunächst sah es so aus, als könne sich die amerikanische Diplomatie durchsetzen. Im UN-Sicherheitsrat hatte man Frankreich (das daraufhin sofort seine bevorzugte Stellung in den Wirtschaftsbeziehungen mit dem Irak einbüßte) und China (dem es nur darum ging, endlich in die Welthandelsorganisation aufgenommen zu werden) für den Plan gewonnen. Doch Russland legte sein Veto ein, vor allem mit Verweis darauf, dass die Nachbarstaaten des Irak sich unmissverständlich weigerten, das vorgeschlagene System mitzutragen. Solange der israelisch-palästinensische Konflikt mit solcher Schärfe geführt wurde, konnten weder Syrien noch die Monarchien auf der arabischen Halbinsel den Vorwurf riskieren, sie ließen sich für die Zwecke der Amerikaner einspannen.
Inzwischen muss sich die amerikanische Regierung selbst von jenen arabischen Partnern, die den USA einst besonders gewogen waren, ständig Vorhaltungen machen lassen. Die Verschiebung des Besuchs in Washington, den der saudische Kronprinz Abdallah Ben Abdel Asis geplant hatte, ist hier lediglich das deutlichste äußere Zeichen. Für die „konservativen“ arabischen Regierungen, die sich auf die religiöse Tradition berufen, ist das Schicksal Jerusalems eine zentrale Frage.
Hier kommt ein Problem ins Spiel, dem die amerikanische Regierung weit mehr Aufmerksamkeit und Anstrengung widmet, als man in Europa gemeinhin annimmt: die Frage des arabischen und islamischen Terrorismus und seiner antiamerikanischen Aktivitäten. Welchen Stellenwert dieses Problem inzwischen hat, erkennt man an den Hinweisen, die in der Region lebende oder dorthin reisende US-Bürger erhalten, sowie an der zeitweiligen Schließung der US-Botschaft im Jemen. Die USA rechnen offensichtlich mit einer Zunahme von speziell gegen die amerikanischen Interessen gerichteten Aktionen aufgrund der Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts.
Keine der Regierungen in der Region möchte in einen Krieg hineingezogen werden, allen stellt sich somit die Frage, wie das zu vermeiden ist. In Damaskus verweist man immer wieder auf die Gründe für das Scheitern des Gipfelgesprächs, zu dem der syrische Präsident Hafis al-Assad und US-Präsident Clinton am 26. März 2000 in Genf zusammenkamen. Der syrische Außenminister Faruk al-Scharah wird nicht müde zu erzählen, wie Clinton zwölf Mal hintereinander bei Assad angerufen habe, um ihn zu der Unterredung zu bewegen, obwohl keine Vorarbeiten geleistet worden waren, die das Treffen zu einem Erfolg hätten machen können. Und er fragt sich noch immer, was den amerikanischen Präsidenten dazu bewogen hat, einen israelischen Gesetzesvorschlag abzusegnen, der einen schmalen Uferstreifen am See Genezareth zu israelischem Gebiet erklärte. Die syrische Seite hatte wiederholt darauf hingewiesen, dass Verhandlungen nur dann Aussicht auf Erfolg hätten, wenn man nicht hinter den Stand der früheren Gespräche zurückgehe, insbesondere was die Zusicherung eines vollständigen israelischen Rückzugs aus den im Juni 1967 besetzten Gebieten betraf, die vom früheren israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin gegeben worden war.
Inzwischen ist man in Damaskus zu der Überzeugung gelangt, dass in näherer Zukunft mit keinem Abkommen zu rechnen ist. Diese Einschätzung wird durch Äußerungen von Ministerpräsident Scharon bestätigt, der zum Beispiel am 10. Juli, bei einem Besuch auf den Golanhöhen, erklärte, man müsse dieses Gebiet „unwiderruflich“ zu einem Teil Israels machen, insbesondere sollten „der Golan, seine jüdische Bevölkerung und seine Siedlungen entwickelt werden, um irreversible Fakten zu schaffen“. Und er fügte hinzu, diese Besiedlung sei „eine der schönsten Errungenschaften und Erfolge in der Geschichte des Zionismus“ (AFP, 18. Juli 2001).
In diesem Zusammenhang ist auch der Richtungswechsel des syrischen Präsidenten in der Libanonpolitik zu sehen. Als Baschar al-Assad diesen Politikbereich von seinem Vater übertragen bekam, entschied er sich für eine direkte Allianz mit dem libanesischen Staatspräsidenten Emile Lahoud, in der Hoffnung, dieser werde seine ganze Autorität einsetzen und sich dabei sowohl auf die Unterstützung der maronitischen Gemeinschaft (der er angehört) als auch auf seine Möglichkeiten als ehemaliger Generalstabschef der Armee und den Einfluss Syriens auf die anderen Gemeinschaften verlassen. Doch als bei den letzten Parlamentswahlen eine Koalition der traditionellen politischen Kräfte im Libanon den Sieg davontrug, zog man in Damaskus Konsequenzen.
Der an die Spitze der Macht zurückgekehrte libanesische Ministerpräsident Rafik Hariri vertritt nach wie vor den Standpunkt, dass man sich nicht auf eine Konfrontation einlassen wolle, wenn Syrien nur bereit sei, sich allzu direkter Einmischung in die libanesische Innenpolitik zu enthalten. Erneut mit der Zuständigkeit für den Libanon betraut, erarbeitete der syrische Vizepräsident Abdel Halim Chaddam ein Übereinkommen, das die Beziehungen zwischen den beiden Ländern durch eine deutliche Reduzierung der syrischen Truppen auf libanesischem Gebiet auf eine neue Grundlage stellt. Zugleich nutzte Baschar al-Assad bei einem arabischen Gipfeltreffen in Amman die Gelegenheit, gute persönliche Beziehungen zu Palästinenserpräsident Jassir Arafat zu knüpfen, ohne jedoch gemeinsame politische Absprachen zu treffen – wie sein Vater ist er sehr bedacht darauf, Syrien aus den unkalkulierbaren israelisch-palästinensischen Entwicklungen herauszuhalten.
Im Übrigen hat der syrische Präsident an den vorhandenen Maßnahmen zur Erleichterung des grenzüberschreitenden Handels mit dem Irak festgehalten und diesen sogar ausgebaut. Dazu gehört auch die sorgfältig dosierte Nutzung der durch syrisches Gebiet führenden Pipeline, über die ein Teil der irakischen Ölexporte abgewickelt werden kann. Dennoch hat Syrien keine politischen Sympathien gegenüber dem Irak oder gar Unterstützung für den irakischen Staatspräsidenten Saddam Hussein deutlich werden lassen.
Saddam Hussein ist längst klar geworden, dass an eine umstandslose Aufhebung des von den USA und ihren Verbündeten verhängten Embargos nicht zu denken ist. Stattdessen versucht er, die Sanktionen zu „umgehen“ und ihre nachteiligen Wirkungen so weit es geht zu reduzieren, ohne die ständige Anwesenheit von Kontrolleuren der internationalen Gemeinschaft – also der USA – im Irak dulden zu müssen. Die Leiden der irakischen Bevölkerung lassen sich damit natürlich kaum lindern.
Dabei hat Saddam Hussein geschickt die Interessen der Nachbarstaaten ausgenutzt. Die Ausweitung des Handels mit dem Irak hat, nach Schätzungen, Jordanien Gewinne in Höhe von 600 Millionen Dollar eingebracht, Syrien dürfte 800 Millionen und die Türkei eine Milliarde Dollar verdient haben. Die Türkei, die stets ein wachsames Auge hat auf die Kurdengebiete im Nordirak, möchte sich auch ihre Bewegungsfreiheit bewahren, um bei Bedarf Stützpunkte der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) anzugreifen. Also möchte man die – vorwiegend wirtschaftlichen – Beziehungen zum Regime in Bagdad nicht gefährden. Der Iran wiederum hat trotz seiner notorisch schlechten Beziehungen zum Irak keinerlei Anlass, sich für die Ziele der USA einspannen zu lassen.
Besonders prekär scheint die Lage Ägyptens in dieser neuen regionalen Situation. Präsident Mubarak, der stets eine Vorreiterrolle in der Politik des Ausgleichs mit Israel gespielt hat, muss nun mitansehen, wie seine Bemühungen zunichte gemacht werden. Und innenpolitisch gewinnt die islamistische Opposition an Boden, weil das politische Leben immer mehr abstirbt und auch die Resultate der wirtschaftlichen Entwicklung zu wünschen lassen.
Um diese beunruhigende Entwicklung aufzuhalten, wäre ein spektakulärer außenpolitischer Erfolg nötig – etwa ein Friedensabkommen zwischen Israelis und Palästinensern. Die ägyptische Presse reagiert auf die offensichtliche Nervosität, die sich unter den Machthabern ausbreitet, immer häufiger mit antisemitischen Ausfällen, die vor allem als Ausdruck mangelnder Handlungsmöglichkeiten gelten können. Am 18. Juli hat auch Präsident Mubarak seine Ratlosigkeit eingestanden: „Mit Scharon kann es keine Lösung geben. Dieser Mann kennt nur Morde, Militärschläge und Krieg“ (AFP, 18. Juli 2001).
dt. Edgar Peinelt
* Journalist, von ihm erschien zuletzt „De Gaulle“, Paris (Perrin) 2000.