Brüssel – Alibi für die europäischen Regierungen
Von YVES SALESSE *
Die großen europäischen Staaten gehören nach wie vor zu den wichtigsten Mächten der Weltwirtschaft. Sie brauchen sich weder von den Vereinigten Staaten dominieren zu lassen, noch müssen sie sich der Diktatur des Weltmarkts der multinationalen Konzerne und der Kapitalbewegungen unterwerfen. Dennoch ist, isoliert betrachtet, ihre Handlungsfähigkeit schwächer geworden, wenn auch je nach Land und Angelegenheit in unterschiedlichem Grade. Und es gibt durchaus noch begrenzte Bereiche, in denen ein Land wie Frankreich oder Deutschland ganz allein seine Politik durchsetzen kann. Es gibt aber andere Gebiete, wo dies nicht mehr zutrifft. Das heißt, Entscheidungen im Hinblick auf die globale Ebene können – will man sich nicht damit begnügen, lediglich auf die Pressionen des weltweiten Kapitalismus zu reagieren – nicht mehr auf einzelstaatlicher Ebene getroffen werden: Die Realität der marktwirtschaftlichen Globalisierung erfordert eine europäische Dimension. Materiell sind die Voraussetzungen durchaus vorhanden, um ein Europa zu schaffen, das stark genug ist, sich gegen den Weltmarkt und den herrschenden Imperialismus zu behaupten, eine gegen die allgemeine Kommerzialisierung gerichtete Politik zu definieren und durchzusetzen und einen Einfluss auf die Entwicklung des Planeten auszuüben.
Die These von der Notwendigkeit, ein starkes Europa aufzubauen, muss andererseits aber auch den heutigen Realitäten Rechnung tragen. Vor allem kann es nicht darum gehen, mit Verweis auf die Unentbehrlichkeit Europas etwas zu beeinträchtigen, was wir haben – mit allen Fehlern, die es haben mag. „Europa“ kann sich ja in ganz unterschiedliche Richtungen hin orientieren: Es kann den heutigen Niedergang fortsetzen oder nach neuen Mitteln suchen, um sich gegenüber dem Druck des Weltkapitalismus zu behaupten. Damit könnte es eine Souveränität zurückerobern, die den Mitgliedstaaten immer mehr abhanden kommt, um so die Möglichkeiten politischer Entscheidung, das heißt die Fähigkeit demokratischer Intervention wiederzugewinnen. Die europäische Konstruktion, so wie sie heute besteht – als Plattform der liberalen Globalisierung und des schrittweisen Abbaus der Staatsbürgerrolle –, ist von einem solchen Projekt in jeder Hinsicht weit entfernt.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1957 beruht die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), aus der die Europäische Union (EU) hervorging, auf einer Achse und einer Methode. Die Achse ist der Markt, die Verbreitung des Wettbewerbs. Um diese Achse organisieren sich die Verträge in ihren operativen Detailbestimmungen, die den rechtlichen Sockel für die Gesamttätigkeit der Gemeinschaft bilden. Die Unternehmer haben im Übrigen alles getan, um dieses historische Projekt auf die Vollendung des großen Binnenmarkts und die dafür notwendigen Instrumente zu beschränken. Die Methode wurde diesem Sockel aufgepropft: Europa wurde von oben konstruiert, die Völker standen am Rande und haben die Richtung des Aufbaus nie beeinflusst.
Europa, so hieß es, braucht zwei Standbeine: das wirtschaftliche und das soziale. Knapp fünfzig Jahre nach den Römischen Verträgen steckt das soziale Europa noch immer in den Anfängen, während die Zahl der Bestimmungen über den freien Warenverkehr oder die Wettbewerbspolitik nicht mehr übersehbar ist. Dies ausschließlich mit dem Vormarsch des Wirtschaftsliberalismus der Achtziger- und Neunzigerjahre zu erklären, würde zu kurz greifen: Es beginnt bereits damit, dass dem Markt in den Verträgen selbst ein Primat zuerkannt wurde, mit der Folge, dass ihm sämtliche anderen Themen – etwa die Sozialpolitik oder die Rolle des öffentlichen Dienstes – untergeordnet sind.
Die Methode des Aufbaus wurde zur dauerhaften Funktionsweise. Die Entscheidungen der Union werden auf höchster Ebene – in Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten – getroffen, und zwar nach den traditionellen Formen der Diplomatie, also vor allem durch Geheimverhandlungen, die nach einer Erweiterung auf 15 bis 20, 27 oder noch mehr Mitgliedstaaten immer schwieriger werden dürfte.
Bisweilen hört man auch die dezente Kritik, die Union sei tatsächlich zu eindimensional ökonomisch und zu wenig sozial oder politisch. Das ist noch viel zu schmeichelhaft ausgedrückt. In Wirklichkeit ist sie gar kein wirtschaftliches Gebilde: Weder entsteht ein europäisches Kapital als Gegengewicht zum US-amerikanischen und asiatischen Pol, noch gibt es eine Wirtschaftspolitik – allgemein oder sektoral –, die von den Institutionen der Gemeinschaft definiert würde. So gilt etwa die Liberalisierung des Verkehrs- und Energiesektors bereits als Verkehrs- und Energiepolitik! Und wenn die Staaten in Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarkts die Einführung der gemeinsamen Währung beschließen, verschärfen sie noch den durch und durch undemokratischen Charakter des Ganzen, indem sie (nicht mehr diskutierbare) Prinzipien der Wirtschafts- und Währungspolitik zum Bestandteil des Vertrags machen und eine europäische Zentralbank schaffen, die mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet und ohne jedes politische Gegengewicht ist. Darin zeigt sich die Perversität eines Systems, das nur eine einzige Alternative zulässt: zunehmende Machtlosigkeit der europäischen politischen Institutionen oder Verschärfung ihres antidemokratischen Charakters.
All das hat schwer wiegende Konsequenzen. Natürlich muss man im bestehenden Rahmen alle erdenklichen Kampagnen führen, eine internationale Vereinbarung mit verhängnisvollen Folgen verhindern, größere Transparenz erreichen, eine soziale Regel fördern. Doch es wird keine Neuorientierung des laufenden europäischen Aufbaus geben, solange dieser nicht in eine neue Krise gerät. Denn nichts weniger als seine grundlegende Form muss in Frage gestellt werden.
Die Kommision sollte nicht überschätzt werden
SO gesehen ist die verbreitete Ansicht zu bezweifeln, wonach die Europäische Union von der Kommission gelenkt wird – also von den Brüsseler Technokraten, die dem Druck der Unternehmenslobby ausgesetzt sind und sich der Kontrolle durch die Staaten entziehen. Diese Sicht ist falsch. Tatsächlich wird die Macht der Kommission überschätzt, denn rechtlich wie faktisch liegt sie im Wesentlichen beim Ministerrat, d. h. bei der Vertretung der Mitgliedstaaten. Mit der Erweiterung der Bereiche, die dem Prinzip der Ko-Entscheidung unterliegen, tritt ein neuer Akteur auf den Plan: das Europäische Parlament. Die Kommission verfügt durchaus über einige Rechte – in Fragen des Wettbewerbs besitzt sie sogar eigene Befugnisse –, aber sie macht keine Gesetze.
Andererseits besteht die Kommission aus Politikern und Beamten, die sich ihren Herkunftsstaaten nach wie vor verpflichtet fühlen. Die „nationale“ Disziplin ist zwar von Land zu Land verschieden, doch die Staaten – vor allem die großen – bewahren sich eine nicht unerhebliche Fähigkeit, auf „ihre“ in Brüssel tätigen Kommissare und Beamten einzuwirken. Hinzu kommt, dass das ursprüngliche Gebäude im Laufe der Jahre ergänzt wurde. Der Europäische Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zusammensetzt (die mindestens viermal im Jahr zusammentreten) entscheidet immer dann, wenn Unstimmigkeiten auf dem normalen Verfahrenswege nicht ausgeräumt werden konnten. Der Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) wurde von den Mitgliedstaaten ins Leben gerufen, um für Kontinuität in der Tätigkeit der Kommission zu sorgen. Er besteht aus nationalen Beamten mit Sitz in Brüssel.
Die Gremien, die mit der Vorbereitung von EU-Texten beauftragt sind, bestehen aus Beamten der Kommission, Beamten der nationalen Verwaltungen sowie Mitgliedern des AStV. Das Projekt wird dann im AStV und anschließend im Ministerrat beraten: Eine Art Geheimkomitee gibt es nicht. Das heißt, die Macht der Kommission ist eher untergeordneter Natur, und statt der Tendenz, sie zu verstärken, herrscht die Neigung, den Einfluss der Mitgliedstaaten noch zu konsolidieren. Wenn diese behaupten, sie seien von einer Entscheidung aus „Brüssel“ überrascht worden, so lügen sie.
Fraglos gibt es sehr viele Lobbyisten, die auf die europäischen Institutionen einwirken. Unter ihnen finden sich Vertreter von Firmen, Arbeitgeberverbänden, Gebietskörperschaften, aber auch zahllose Parasiten – Finanzintermediäre, Unternehmensberater usw. –, die stark interessiert sind, den Eindruck zu erwecken, als spiele sich alles in Brüssel ab. Diese Interessengruppen treten sehr massiv auf, doch darüber darf man nicht vergessen, dass es eine sehr viel direktere und effizientere Einflussnahme gibt, nämlich auf der Ebene der nationalen Entscheidungszentren. Die verschiedenen Berufsverbände machen ständig Druck auf die Verwaltung, die Regierung und das nationale Parlament. Vor jeder Gesetzesvorlage aus dem Verwaltungsapparat werden Konsultationen mit den jeweiligen Fachgruppen angesetzt. Die Vorstände der großen Firmen stehen in ständigem Kontakt mit der Ministerialbürokratie und treffen sich regelmäßig mit den Ministern.
Jenseits dieses rein funktionalen Aspekts gibt es auch das soziale Umfeld. Zahlreiche hohe Beamte pendeln ständig zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Die Spitzen der Regierungen und der großen Unternehmen rekrutieren sich aus einem Netz von Elitehochschulen oder staatlichen Organen (in Frankreich) beziehungsweise von renommierten Universitäten (in anderen europäischen Ländern), was diesen Zusammenhalt noch verstärkt. Hinzu kommen natürlich die persönlichen Beziehungen zwischen Konzernbossen und politischen Entscheidungsträgern, die noch weit mehr bewirken als die der Lobbyisten in Brüssel. Jede nationale Bourgeoisie hat zu ihrem Staatsapparat ein historisch gewachsenes Sonderverhältnis entwickelt, das sich einfach nicht mit den Verbindungen vergleichen lässt, die seit fünfzig Jahren mit einer ständig wechselnden und national heterogenen Verwaltung in Brüssel gepflegt werden. Auch in Brüssel beschränken sich die Interventionen nicht auf reine Lobbyistentätigkeit bei den EU-Institutionen, aber man darf die Gewichtung – das Wesentliche und das Nebensächliche – nicht aus dem Blick verlieren.
Diesen Punkt kann man nicht oft genug betonen, denn eine Überschätzung der Befugnisse der EU-Kommission ist politisch fatal. Zum einen entbindet sie die Regierungen der Mitgliedstaaten von ihrer Verantwortung für Entscheidungen auf EU-Ebene – weshalb sie auch als erste lauthals verkünden: „Das sind nicht wir, das ist Brüssel!“ Zum anderen kaschiert sie die Tatsache, dass das Funktionieren der europäischen Institutionen lediglich eine Extrapolation der antidemokratischen Praktiken innerhalb der Mitgliedstaaten darstellt. Und schließlich hat die Überschätzung der Brüsseler Befugnisse auch eine demotivierende Wirkung: Die sozialen Bewegungen können sich schon bei den nationalen Regierungen kaum Gehör verschaffen, aber wenn diese einmal alle Macht an eine politisch verantwortungslose Technokratie abgetreten haben, wird es noch schwieriger. Gerade deshalb ist es so wichtig, immer wieder daran zu erinnern, dass nach den Bestimmungen der EU-Verträge die Kommission zwar Vorschlagsrecht hat, dass es aber die Staaten sind, die letzlich entscheiden.
dt. Matthias Wolf
* Hoher Beamter, Verfasser der Bücher „L’Europe que nous voulons“, Paris (Fayard) 1999, und „Réformes et révolution: propositions pour une gauche de gauche“, Marseille (Agone) 2001.