14.09.2001

Kultur ist körnig

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Kultur ist körnig

Von MICHEL SERRES *

Die „neuen“ Technologien sind älter, als wir gemeinhin glauben. Es gibt zwei Arten von Technologien, die beide durch dasselbe (aus dem Englischen stammende) Wort bezeichnet werden: jene Techniken – das heißt die Gesamtheit der Werkzeuge –, von denen wir in der anthropischen Sphäre Gebrauch machen, vom Nussknacker bis zur Atombombe, und jene Techniken, die eigentlich informationeller Natur sind und für die es im Französischen kein Wort gibt. Das englische „technology“ hingegen deckt beide Begriffe ab, wodurch der Eindruck eines linearen, evolutionären Übergangs von den „harten“ Technologien zu den uns heute umgebenden „sanften“ Technologien entsteht. Dieser Eindruck ist jedoch unzutreffend.

Die sanften Technologien haben den Menschen durch seine Geschichte begleitet, ja sie waren sogar an den Prozessen der Menschwerdung entscheidend beteiligt. So ist die Erfindung der Schrift eine Technik, die an informationelle – das heißt „sanfte“ – Energien rührt; ein anderes Beispiel wäre die Erfindung des Buchdrucks. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die sanften Technologien das „Sanfte“ ausbeuten und dass die harten Technologien das „Harte“ ausgebeutet haben. Wie Jeremy Rifkin jüngst in Erinnerung gerufen hat, wurden in der traditionellen Ökonomie die harten Energien durch die mit harten Energien verbundenen Technologien ausgebeutet.

Aber die sanften Technologien existierten seit jeher, und sie haben das „Zeitalter des Zugangs“, von dem Jeremy Rifkin spricht, hervorgebracht. Wir sind es gewohnt, die uns vertrauten Sprachen auch schreiben zu können, doch wir dürfen nicht vergessen, dass auf tausend Sprachen dieser Welt neunhundertfünfzig kommen, die nur in Form mündlicher Überlieferung existieren. Die Völker, die sie sprechen, haben keinen Zugang zur Schrift.

Bereits seit der Erfindung des Buchdrucks übrigens war der Zugang zum Lesen, zum Schreiben und zu den Bibliotheken etwas, das die sanften Energien betraf. Wir haben es also nicht mit einer linearen historischen Entwicklung zu tun, die von den harten Technologien zu den sanften geführt hätte, sondern vielmehr mit einer doppelten Geschichte: der der sanften Energien einerseits und der der harten Energien andererseits.

Die sanften Technologien, die das Sanfte und im Grunde genommen die Kultur ausbeuten, erleben einen mächtigen Aufschwung. Bekanntlich betrachten wir in der europäischen Tradition die Vermarktung von Kultur als Simonie. Dieser Begriff aus dem kanonischen Recht geht auf die Apostelgeschichte zurück, und zwar auf Simon den Magier, der gegen Geld heilige Gegenstände und Handlungen verkaufte. So betrachteten kultivierte Menschen jemanden, der Kultur verkaufte, in der Regel als „Simonisten“. Lange Zeit hat uns die antisimonistische Ideologie vor der Vermarktung von Dingen der Kultur geschützt. Kürzlich jedoch, als mein Bild gegen meinen Willen in einer Fernsehwerbung benutzt wurde, musste ich mir in aller Härte eingestehen, dass dieses Gefühl des Geschütztseins lediglich eine Illusion ist; eine solche meinen Überzeugungen widersprechende Handlung könnte man also als simonistisch bezeichnen.

In dem großen Umbruch, der sich gegenwärtig vollzieht, müssen wir eine genaue Bewertung dessen vornehmen, was wir gewinnen und was wir verlieren. Laufen wir wirklich Gefahr, die Kultur einzubüßen?

Zwei Beispiele: Von Generation zu Generation wird unser Gedächtnis schwächer, weil wir die mündliche Überlieferung zugunsten der schriftlichen Tradierung aufgeben und immer weniger auf diese kognitive Fähigkeit zurückgreifen. Dabei wäre die mündliche Tradierung – auch wenn es unwahrscheinlich klingt – zuverlässiger als die schriftliche. In unserer Kultur gilt das Gedächtnis als etwas Subjektives, als eine „Fähigkeit der Seele“, die jedes Individuum besitzt. Niemand hat bislang den Sitz des Gedächtnisses im menschlichen Körper bestimmen können. Ich möchte eine andere Sichtweise vorschlagen: Seit der Erfindung der Schrift sieht sich das Gedächtnis von einer gewissen Last befreit, die Schrift ist ein Gegenstand geworden. Ähnlich ist es mit dem Buchdruck: Vor seiner Erfindung musste der kultivierte Mensch, der sich mit Homer oder Plutarch befassen wollte, deren Texte auswendig lernen. Der Buchdruck hat uns dieser Notwendigkeit enthoben und dadurch das Gedächtnis entlastet.

Montaignes Aphorismus: „Besser ein wohlgestalter als ein wohlgefüllter Kopf“ erhält so seinen ganzen Sinn. Mit der Erfindung der Schrift haben wir das Gedächtnis verloren. Das Gedächtnis ist kollektiv und objektiv geworden, während wir es für subjektiv und kognitiv hielten. Dieser Vorgang ist eine Konstante im Prozess der Menschwerdung. Wir brauchen also keinen Verlust zu befürchten, weil wir durch die Entlastung von der erdrückenden Pflicht des Sich-Erinnerns nur gewinnen und der wohlgestalte Kopf sich neuen, kreativeren Tätigkeiten hingeben kann. Denn die neuen Technologien stellen uns das Gedächtnis der ganzen Welt zur Verfügung.

Der Historiker André Leroi-Gourhan hat den Prozess der Menschwerdung folgendermaßen beschrieben: Als der Mensch sich beim Gehen aufrichtete, befreite er die vorderen Gliedmaßen von der Funktion des Stützens, die sie bis dahin erfüllt hatten. Die Hand konnte also die Fähigkeit zum Greifen entwickeln, und der Mensch wurde zum Homo faber. Doch während die Hand die Fähigkeit zum Greifen erwarb, ging diese Fähigkeit dem Mund verloren, der sie bis dahin innehatte. Und so vermochte der Mund zu sprechen. Will man nun den Gewinn der Sprache gegen den Verlust der Stützfunktion abwägen, so wird zweifellos der Gewinn den Verlust bei weitem aufwiegen.

Heute ist es das menschliche Subjekt selbst, in seinen kognitiven Funktionen, das sich in einer vergleichbaren Entwicklung verändert. Es hat sich schon immer verändert, und zwar in dem Maße, wie sich die sanften Technologien weiterentwickelten. Das gilt besonders für den Bereich der Naturwissenschaften. Jedermann erinnert sich an die Experimente aus seiner Schulzeit: Es wurde eine Versuchsanordnung vorgegeben, und man hatte Messungen durchzuführen, deren Ergebnisse in ein Diagramm eingetragen wurden, sodass man am Ende ein Gesetz ableiten konnte. Mit wenigen Experimenten und wenigen Daten konnte man also durchaus zu bedeutenden Resultaten gelangen. Auch Newton hat das allgemeine Gravitationsgesetz mit wenigen Versuchen und nur wenigen Daten entdeckt.

Heutzutage erledigen die neuen Technologien automatisch und in Echtzeit diese Beobachtungen und Messungen für uns. Sie sind in der Lage, nahezu unbegrenzte Datenmengen abzuspeichern. Jetzt hat man ein Projekt gestartet, bei dem zwei Millionen Computerbenutzer aus aller Welt aufgerufen werden, ihre Geräte zu vernetzen, um Daten gemeinsam verarbeiten zu können. So verändert sich das naturwissenschaftliche Paradigma: Die heutige Wissenschaft hat nichts mehr mit der Wissenschaft von vor dreißig oder vierzig Jahren gemein.

Das Wort „Kultur“ wurde ursprünglich von Cicero erfunden, der gesagt hat: „Philosophie ist die Kultur der Seele.“ Diese erste Definition von Kultur ging dann in ein humanistisches Verständnis ein, das die Philosophen des 16. Jahrhunderts aufgriffen, als sie die Tradition des honnête homme begründeten. Die zweite Bedeutung von „Kultur“ ist die deutsche. Sie wurde erstmals von Kant gebraucht und bezeichnet die Gesamtheit der in einer menschlichen Gesellschaft erworbenen Verfahren. In diesem Sinne war die Schweineaufzucht der Bauern in meiner Kindheit Teil der „Kultur der Gascogne“. Die hatte jedoch nur wenig mit den Balletttänzerinnen gemeinsam, die zu der erstgenannten Definition von Kultur gehören. Für mich ist Kultur jener Weg vom Schwein zur Oper und umgekehrt. Ein Mensch, dessen Kunstgeschmack hoch entwickelt ist, der aber von der Kultur im umfassenden, anthropologischen Sinne nichts versteht, ist nach dieser Definition ebenso wenig kultiviert wie ein Anthropologe, der nichts von Kunst versteht.

Eine dritte Definition von Kultur ist neueren Datums und meint Kultur als „globalisierbare“ Ware. Unternehmen erzielen bereits enorme Profite aus der Kommerzialisierung von kulturellen Gegenständen, die sich auf Grunderfahrungen des Menschen beziehen. Der Film „Titanic“ bezieht sich auf die Grunderfahrung des Meeres. „Vertical Limit“ bezieht sich auf die Grunderfahrung des Gebirges. Jeder Zuschauer kann sie erleben, auch wenn es sich in Wirklichkeit um eine Theatralisierung handelt, um das sichtbare Trugbild der Erfahrung.

Es heißt, es gäbe einen Kampf zwischen dieser globalen – globalisierten, zur Ware gemachten – Kultur einerseits und der lokalen Kultur im anthropologischen Wortsinn andererseits. Die Schotten dicht zu machen, um das Eindringen der globalisierten Kultur zu verhindern, wäre freilich die absurdeste Art, sich dem Problem zu stellen: So betrachtet hätten wir nur eine Wahl: die zwischen Disneyland und den Ajatollahs.

Wie erwerben wir eine Kultur? Zunächst jene im anthropologischen Sinn: durch den Geburtsort, die Sprache der Eltern . . . es gibt Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche, die uns vermacht worden sind. Aber dadurch allein ist der Mensch noch nicht kultiviert. Sobald nämlich die Kultur etwas Eingegrenztes ist, erstickt sie und stirbt. Kultur ist die Erfindung eines Weges, der uns Schritt für Schritt von einem Ausgangspunkt wegführt, von Nachbarschaft zu Nachbarschaft – auf eine Reise, die uns eine benachbarte Kultur entdecken lässt, dann eine, die schon weniger benachbart ist, usw.

Dieser Weg von einer Kultur zur anderen ist mit Hindernissen gepflastert, und es ist schwer, dem Anderen zu begegnen, das oft nicht so ist, wie wir es erwartet haben. Nicht immer erweist es sich als leicht, Zugang zu einer Sprache, zu anderen Gewohnheiten und anderen Überzeugungen zu gewinnen. Und doch kann man auf dieser Reise verführt werden und Gepflogenheiten entdecken, die uns fremd sind. Was gibt es Schöneres als brasilianisches Kunsthandwerk? Was ist außergewöhnlicher als die Eleganz japanischer Kunst? Kultur hat keine Grenze: Sie ist porös. Frankreich war nie französischer als im 17. Jahrhundert, als Molière sich von den Italienern inspirieren ließ und Corneille von den Spaniern.

Die Beschwörung eines Kampfes zwischen dem Lokalen und dem Globalen, das heißt zwischen Kultur als Gesamtheit der in einer menschlichen Gesellschaft erworbenen Verfahren, und Kultur als Ware zeugt von einem tiefen Unverständnis für das Kulturelle. Der kulturelle Raum ist körnig. Er ist für jeden Menschen anders, er besteht aus Übergängen, Hindernissen, Furten, Pässen, unüberwindlichen Bergen. Jeder bahnt sich dort seinen eigenen, unverwechselbaren Weg, entwirft sein eigenes Kartenwerk, das von der kulturellen Einzigartigkeit eines jeden kündet. Ebendiesen individuellen Kulturen droht keine Gefahr, nicht einmal vom Internet, weil auch das Internet ein körniger, kein globaler Raum ist.

Diese Kommunikationstechnologien gelten zwar als universell und erlauben uns angeblich, mit jedem beliebigen Ort auf unserem Planeten in Verbindung zu treten, aber der Gebrauch, den wir von ihnen machen, ist verblüffend lokal! So hat das Mobiltelefon – anders, als man glauben sollte – die Gemeinschaftsbande der Familie nicht geschwächt, sondern gestärkt. Selbstverständlich besitzt ihre Verwendung auch eine globale Dimension. Aber gerade die Kombination aus lokalem und globalem Gebrauch von Geräten wie dem Mobiltelefon oder dem Internet macht die Nutzung dieser Geräte zu einem Raum, der ebenso knittrig, körnig, mit Hindernissen und Übergängen besetzt ist wie der kulturelle.

Die „wahre Kultur“ ist also meines Erachtens nicht in Gefahr. Ich glaube allerdings, dass die Kultur die Infrastruktur darstellt. Das Europa der Montanunion reichte nicht aus für den Bau Europas, weil die Wirtschaft nicht Infrastruktur ist. Aber es gibt seit dem Mittelalter durchaus eine europäische Kultur. Hätte man damals verstanden, dass die Kultur die Infrastruktur darstellt, so hätte man nur eine Europäische Universität gründen müssen, man hätte den Jugendaustausch fördern und den Aufbau einer gemeinsamen Kultur durch Bildungsprogramme betreiben müssen. Europa hätte vier Sprachen gesprochen, wie es heute in der Schweiz der Fall ist, und fertig wäre es gewesen!

Wenn wir nun versuchen, Kultur wirklich zu definieren, so bezeichnet sie in meinen Augen zweierlei. Zum einen ist sie gekennzeichnet durch den Vorgang der Akkulturation, das heißt der „Reise“, die es uns erlaubt, das Andere kennen zu lernen. Andererseits gründet die Kultur auf einer Entscheidung des Individuums, wenn es beschließt: Nein, ich gehöre nicht zu jener Kultur.

Wir erleben heute eine weitreichende Transformation des kognitiven Subjekts, der objektiven Wissenschaft und der kollektiven Kultur. Diese Transformation lässt mich bedauern, dass ich nicht mehr achtzehn bin!

dt. Holger Fliessbach

* Philosoph, Mitglied der Académie Française, Autor von „Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische“, Frankfurt 1998. Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den Michel Serres im Rahmen der von der Unesco in Paris ausgerichteten „Entretiens du XXIe siècle“ im März gehalten hat.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2001, von MICHEL SERRES