14.09.2001

Entwaffnet die Kinder

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Entwaffnet die Kinder

Von JACKY MAMOU *

ALS Alberto Samuel als Vertreter der mosambikanischen Widerstandsbewegung Renamo für die offizielle Demobilisierungszeremonie auserwählt wurde, war er besonders stolz: ein tapferer Soldat, der gut aussieht und zudem lesen und schreiben kann. Doch er war gerade 16 Jahre alt. In fließendem Portugiesisch erzählte er, dass er seit 8 Jahren in der Guerillabewegung gekämpft habe. Die Renamo hatte allen Beweisen zum Trotz immer geleugnet, dass in ihren Reihen auch Kindersoldaten dienten.

Kindersoldat zu sein ist eine kurzfristige Überlebensstrategie: 300 000 gibt es weltweit. Mitunter werden sie gekidnappt, immer aber werden sie Initiationsritualen unterworfen, die in der Regel aus Mord oder Folter bestehen. Kinder, die diese grausame Mutprobe bestehen, erhalten eine Waffe – und damit Zugang zu Nahrung, Kriegsbeute und Frauen. Hand in Hand mit dieser Veränderung ihres sozialen Status geht auch die Persönlichkeitsveränderung: „Im Lager wurde ich zum zweiten Mal geboren. Ich werde niemals mehr der Alte sein.“ Der Konsum von Alkohol und halluzinogenen Drogen, das Eintauchen in ein Milieu, in dem Magie und Religion einen wesentlichen Platz einnehmen, mögen einen Erklärungsansatz bieten, warum Kinder dieser Lebensweise anhängen.

Dabei liegt laut UN-Kinderrechtskonvention aus dem Jahre 1989 das Mindestalter für den Militärdienst bei 15 Jahren. Manche Guerillabewegungen haben, um nicht ganz ihr Gesicht zu verlieren, eine bestimmte Anzahl von Kindersoldaten demobilisiert. So entließ etwa die südsudanesische Rebellenbewegung SPLA vor kurzem mit großer Publicity 3 500 ihrer jüngsten Rekruten.

Wenn Unicef und Nichtregierungsorganisationen propagieren, „Gewehr gegen Bleistift“ einzutauschen, wissen sie sehr wohl, welch große Aufgabe die Wiedereingliederung in die Großfamilie, die Versorgung mit Lebensmitteln sowie die medizinische und psychologische Betreuung ist. Außerdem sind die Gründe, die ein Kind dazu bewogen haben, Soldat zu werden, meist nicht aus der Welt, und die Schwierigkeiten der Wiedereingliederung sind wohl bekannt. Ein ehemaliger Kindersoldat der SPLA etwa erzählte, er habe, „um zu ein wenig Geld zu kommen“, seine funkelnagelneue Federmappe verkauft. Und immer noch stehen bei der SPLA laut eigenen Aussagen knapp 10 000 Kinder unter Waffen.

Die Kriege gehen unerbittlich weiter. Im Zeitraum zwischen 1986 und 1996 kamen 2 Millionen Kinder bei bewaffneten Konflikten ums Leben, 6 Millionen wurden verletzt oder durch Antipersonenminen zu Invaliden auf Lebenszeit; mehr als 1 Million verloren ihre Eltern. Darüber hinaus leben gegenwärtig auf der ganzen Welt aufgrund von Kriegen 22 Millionen Kinder als Flüchtlinge oder Vertriebene. Mitunter – so im Falle des Irak – sind Kinder sogar die Leidtragenden von UN-Sanktionen. Hinzu kommen Probleme wie mangelhaftes Schulwesen sowie die Vernichtung der Ernten und die daraus resultierende Unterernährung. Angesichts der ernsten Lage bestellte der UN-Generalsekretär Kofi Annan kürzlich Olara A. Otunnu zum Sonderbeauftragten; zu seinen Aufgaben gehört es, die Auswirkungen der bewaffneten Konflikte auf Kinder zu untersuchen.

Diese Situationen bieten einen besonderen Nährboden für die Ausbreitung von Epidemien wie Aids. Frauen wie Kinder werden massenhaft vergewaltigt – ein Tatbestand, den das UN-Kriegsverbrechertribunal für Exjugoslawien in Den Haag erst kürzlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnete. Im Zuge der Vertreibung der Bevölkerung werden die Familien und Gemeinschaften zerstört, sexuelle Gewalttaten häufen sich. Armut und Isolation befördern die Prostitution in den Flüchtlingslagern. Kinder, die Waffen tragen oder Krieger begleiten, haben, wie sich herausstellt, einen hohen Drogenkonsum, darunter auch Heroin. Größere Teile der Mittel zur Aids-Bekämpfung müssten, so wird gefordert, zur Behandlung und Prävention für jene Kinder zur Verfügung gestellt werden, die Opfer von bewaffneten Konflikten wurden. Auf dem letzten G-8-Gipfel wurde beschlossen, 1,3 Milliarden Dollar für die Bekämpfung von Malaria, Aids und Tuberkulose aufzuwenden. Diese Summe stellt nur einen Bruchteil dessen dar, was die Experten für notwendig erachten, doch noch ist nicht sichergestellt, dass für diese Maßnahmen nicht bereits vorhandene Hilfsfonds umgewidmet werden.

Kriegssituationen hinterlassen bei jedem Menschen psychische Schäden. Diese „unsichtbaren Verletzungen“ gehen immer sehr tief. Bei Kindern wird die Persönlichkeitsentwicklung dauerhaft beeinträchtigt. Anhaltendes Weinen beziehungsweise völliges Verstummen, Albträume, Depressionen oder Anorexie zeugen von den seelischen Verletzungen. Daher muss schon frühzeitig eine Behandlung der psychotraumatischen Störungen jedes Kindes erfolgen, wobei zu berücksichtigen ist, dass jede Hoffnung auf völlige Heilung eine kollektive Wiedergutmachung erfordert, die Gerechtigkeit voraussetzt – und sei diese auch nur symbolischer Natur.

Der hohe Preis, den die Kinder zahlen, liegt daran, dass diese Kriege vom Wesen her Binnenkriege sind. Manchmal geht es um die Ausrottung einer ganzen Bevölkerung. In Ruanda wurden in wenigen Wochen 25 000 Kinder abgeschlachtet. Auch Zivilpersonen werden für Kriegszwecke missbraucht: Die ruandischen Streitkräfte nahmen auf ihrer Flucht nach Zaire die eigene Bevölkerung als Geisel mit; im Sudan und in Somalia lassen die Warlords Frauen und Kinder hungern, um in den Genuss der humanitären Hilfe zu gelangen. Bei zahlreichen Konflikten geht es in erster Linie um den Zugang zu Bodenschätzen, Erdöl oder Opium, und im Zuge des Diamantenkriegs in Sierra Leone wurden viele Erwachsene und Säuglinge verstümmelt.

Auch wenn die Intervention der UNO in Osttimor als Erfolg bezeichnet werden kann, so bleibt die Tatsache, dass die UNO beim ruandischen Genozid, bei der Tragödie von Srebenica oder der Geiselnahme von 500 Blauhelmen in Sierra Leone versagt hat. Der unter der Obhut von Lakhdar Brahimi im Jahre 2000 erschienene Bericht über den Einsatz der Blauhelme zeigt die Verantwortlichkeiten auf. Die Kompetenzen müssen klar umrissen und deutlich formuliert, die Blauhelme entsprechend instruiert und ausgerüstet werden. Man kann bei dem, was die UNO tut, nicht von „Friedenssicherung“ sprechen, bemerkte Lakhdar Brahimi bitter.

In mehr als hundert Staaten werden Waffen hergestellt. Die leichten Waffen, die billig sind und auch von Kindern bedient werden können, sind das ideale Kriegswerkzeug. Doch wer stellt sie her, wer verkauft sie und wer liefert sie in die Krieg führenden Regionen? Die Konferenz über den illegalen Handel mit leichten Waffen im Juli dieses Jahres war ein totaler Misserfolg. Die Nichtregierungsorganisationen hatten versucht, eine allgemeine Kennzeichnung aller Waffen durchzusetzen sowie ein generelles Verbot des Waffenverkaufs an all jene Länder oder Personen, die gegen die internationalen Menschenrechte verstoßen.

Flut von internationalen Gesetzen

ALLE Beobachter zeigen sich über die Flut von internationalen Gesetzen und Empfehlungen zum Schutze der Kinder verblüfft. Zweifellos profitieren Letztere von der Genfer Konvention und den Zusatzprotokollen. Diese Dokumente gewähren jedem Kind, selbst wenn es an kriegerischen Handlungen beteiligt ist, einen besonderen Schutz. In einem nicht verbindlichen Protokoll dieser Konvention vom 25. Mai 2000 wurde das Mindestalter für den Militärdienst auf 18 Jahre festgesetzt. Es wäre zu hoffen, dass eine möglichst große Zahl von Staaten auf der vom 19. bis 21. September in New York stattfindenden außerordentlichen Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die dem Thema Kinder gewidmet ist und zu der zahlreiche Staatschefs geladen wurden, dieses Protokoll ratifiziert.

Das kurz vor der Ratifizierung stehende Statut des internationalen Gerichtshofs hat den Einsatz von Kindern unter 15 Jahren bei bewaffneten Auseinandersetzungen als Kriegsverbrechen eingestuft. Ferner wurden Vorkehrungen getroffen, um den Kindern das Auftreten als Zeugen vor diesem Gericht zu erleichtern.

Wenn man den Kindern ein besonderes Augenmerk widmet, bedeutet dies nicht, sie als gesonderte Kategorie innerhalb der Zivilbevölkerung abzugrenzen. Sie befinden sich aber in einem besonders empfindlichen Lebensabschnitt, haben ganz spezifische Bedürfnisse und benötigen eine gezielte Unterstützung in Form von Rechtsschutz, Vorbeuge- und Behandlungsmaßnahmen. Natürlich lässt sich dort, wo es um die „heilige Sache der Kinder“ geht, leichter ein Konsens erzielen. Man muss aber jeden universellen Gesetzesvorstoß und jede Bemühung der UNO begrüßen, die Frage der Kinder, die Opfer von Kriegen wurden, international in den Mittelpunkt zu stellen und unnachgiebig deren Schutz als Teil des Friedensprozesses zu integrieren.

Allerdings mangelt es den mächtigsten Staaten der Welt an politischem Willen, die Zivilbevölkerung zu schützen, den großen Konzernen, die die Bodenschätze ausbeuten, mangelt es an ethischen Grundsätzen und den Meinungsmachern an der Einsicht, dass Gewaltverherrlichung gerade für die Jüngsten katastrophale Auswirkungen zeitigt. Gefordert ist hier das Engagement aller Bürger, denn, wie sagte der Schriftsteller Ahmadou Kourouma zum Thema Kindersoldaten: „Allah ist nicht in allen irdischen Dingen verpflichtet, gerecht zu handeln.“

dt. Andrea Marenzeller

* Kinderarzt, Ehrenpräsident von Médecins du Monde, soeben erschienen: „L’humanitaire expliqué à mes enfants“, Paris (Le Seuil) 2001.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2001, von JACKY MAMOU