12.10.2001

Geschichtsklitterung auf Japanisch

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Geschichtsklitterung auf Japanisch

Von PHILIPPE PONS *

INFOLGE der wirtschaftlichen und politischen Krise der letzten zehn Jahre hat Japan international viel von seiner alten Ausstrahlung eingebüßt. Das angeschlagene Image könnte nun bei den unmittelbaren Nachbarn noch weiter beschädigt werden. Das offizielle Japan pflegt neuerdings einen Umgang mit seiner eigenen Geschichte und seiner Verantwortung im Zweiten Weltkrieg, der in der ganzen Region und zumal in China und Korea auf wenig Gegenliebe stößt.

Als der japanische Ministerpräsident Junichiro Koizumi am 13. August den Yasukuni-Schrein besuchte, wo nicht nur der fürs Vaterland gefallenen Soldaten, sondern auch japanischer Kriegsverbrecher gedacht wird, löste er damit eine Debatte aus, die nicht die letzte ihrer Art gewesen sein dürfte. Das liegt nicht nur an dem seit einigen Jahren grassierende Geschichtsrevisionismus, der die Gräueltaten der kaiserlichen Armee leugnet oder herunterspielt, sondern auch an dem Umstand, dass sich die übrigen ostasiatischen Länder auf ein Geschichtsbild versteifen, das ebenfalls politische Interessen verdeckt. Solange sich Japan und seine Nachbarn nicht auf ein gemeinsames Geschichtsbild verständigen, wird die Kontroverse beim geringsten Anlass immer wieder aufflackern.

Dass Japan einen Angriffskrieg geführt und Gräueltaten begangen hat, steht außer Zweifel. Doch andere Fragen sind durchaus ungeklärt, etwa die nach den Gründen dieser Aggression (die nicht mit einem Rechtfertigungsversuch zu verwechseln ist). Oder auch die Frage, wie damals die Führer der revolutionären und der Unabhängigkeitsbewegungen in der Region die einzige nichtwestliche Macht sahen, die dem europäisch-amerikanischen Kolonialismus widerstehen konnte. Zu fragen wäre auch nach den Auswirkungen des japanischen Kolonialismus auf die Entwicklung der besetzten Länder – was selbst angesehene koreanische Historiker als Zumutung empfinden.

Der japanische „Gedächtnisverlust“ ist weitgehend ein Erbe des Kalten Krieges. Im Ost-West-Konflikt fand sich Japan – dank seiner geopolitischen Bedeutung im Hinblick auf die Sowjetunion und China – unversehens auf Seiten der „Guten“ wieder. Die amerikanische Besatzungsmacht war eher bemüht, die politische Rechte zu stärken, als das Land zur Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit anzuhalten. Weshalb also hätten sich die Japaner eine schmerzhafte Vergangenheitsbewältigung zumuten sollen, wo doch die Siegermacht Kaiser Hirohito als dem Hauptverantwortlichen Kriegsherrn die Absolution erteilte?

Wenn schon Hirohito „nicht dafür verantwortlich gemacht wurde, den Krieg begonnen und geführt zu haben, warum sollte man dann vom normalen Bürger erwarten, dass er sich mit der Vergangenheit beschäftigt und ernsthaft über seine eigene Verantwortung nachdenkt?“ Diese Frage stellt der Historiker John W. Dower in seiner aufschlussreichen Darstellung der unmittelbaren Nachkriegsära („Embracing Defeat: Japan in the Wake of World War II“, Norton and Company, London, New York 1999). Im Mittelpunkt seines Buches, das im Jahr 2000 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, stehen der Normalbürger und seine Befindlichkeit, wie sie sich in Zeitungsartikeln, Comics, Filmen und Romanen darstellen. In einem weiteren Buch, das 2001 den Pulitzerpreis erhielt, deckt Herbert Bix die Verantwortlichkeit des japanischen Kaisers auf. Wie das Buch von Dower wurde auch dieser Titel („Hirohito and the Making of Modern Japan“, Harper Collins, New York 2000) ins Japanische übersetzt. Das besagt allerdings nicht, dass sich japanische Historiker nicht mit diesem Themenfeld beschäftigt hätten. Bix selbst betont, dass sich seine Arbeit sehr stark auf die Forschungen japanischer Historiker wie Yutaka Yoshida und Osamu Watanbe stützt.

In Ostasien ist ein Hauptproblem der Geschichtswahrnehmung noch immer der tiefe Graben zwischen den Forschungsergebnissen der Historiker und dem Geschichtsbild in der Bevölkerung, das noch weitgehend den politischen Interpretationen der Vergangenheit entspricht. In diesem Sinn sind auch die in China und Korea kursierenden Versionen nicht frei von Ambivalenzen. Und beide Länder lassen keine Gelegenheit für eine „Japan-Schelte“ aus. In China dominiert nach wie vor die „orthodoxe“ Interpretation der Kommunistischen Partei, wobei jedoch in einem Punkt eine Akzentverschiebung zu verzeichnen ist: Unter Mao wurde dem Massaker von Nanking keine größere Bedeutung beigemessen. Erst Deng Xiaoping spielte die Episode hoch, als er 1978 in Tokio den chinesisch-japanischen Friedensvertrag unterzeichnete. Damit wollte er einerseits die Japaner in die Defensive drängen, andererseits die innenpolitischen Gegner seiner Politik der Öffnung in Schach halten.

In Korea wird seit Anfang der Neunzigerjahre die Tragödie der so genannten Trostfrauen erörtert. So nannte man die 200 000 asiatischen (zumeist koreanischen) Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs in den Militärbordellen der Japaner als Zwangsprostitutierte missbraucht wurden. Seitdem hat Korea den Japanern unablässig ihre historische Verantwortung vorgehalten. Die Leidensgeschichte der „Trostfrauen“ hat der japanische Historiker Yoshiaki Yoshimi anhand von Dokumenten aus Militärarchiven rekonstruiert. Unvollständig ausgeleuchet blieb allerdings ein Thema, um das man sich in Korea bis heute herumdrückt: die Mitverantwortung der Koreaner, die die „Trostfrauen“ zwangsrekrutiert und die Bordelle betrieben haben. Überhaupt ist die Kollaboration während der Kolonialzeit bis heute tabu. „Wie können wir von den Japanern verlangen, dass sie ihre Untaten anerkennen, wenn wir die unseren im Dunkeln lassen?“, fragt deshalb der Historiker Han Hong-Koo von der Sungkonghoe-Universität in Seoul.

Den Japanern ist die Konfrontation mit den eigenen Verbrechen dank des Kalten Krieges erspart geblieben. Und die Vereinigten Staaten selbst haben Tokio mit ihrer Unterstützung der regierenden Rechtsparteien ermuntert, eigene Streitkräfte aufzubauen und damit die pazifistische Verfassung zu umgehen, die man den Japanern nach 1945 aufgedrängt hatte. Der einschlägige Verfassungsartikel ist durch diverse Auslegungen und Kommentare inzwischen so aufgeweicht, dass er durch keine Kasuistik mehr zu retten ist. Ganz ähnlich ist Japan mit seiner Vergangenheit verfahren. Anstatt ihr ins Gesicht zu blicken, flüchtete man sich in Ausweichmanöver. Auch hier steckt Japan jetzt in einem unauflösbaren Dilemma: Die bisherigen Entschuldigungen waren stets unzureichend, und beim kleinsten Fehltritt wittern die Nachbarn ein Wiederaufleben des Nationalismus.

dt. Bodo Schulze

* Journalist in Tokio, Autor u. a. von „Edo à Tokyo: mémoire et modernité“, Paris (Gallimard) 1998.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001, von PHILIPPE PONS