12.10.2001

Andere Stimmen

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Andere Stimmen

Es war die freimütigste Schreckenstat aller Zeiten, eine einfache Botschaft, an den Himmel geschrieben, auf dass alle Welt sehen sollte: So sehr hassen wir euch. Sechstausend Leben: Männer und Frauen, auch Kinder, Amerikaner und Ausländer, Christen und Juden, Taoisten und Muslime und all die anderen, die in den letzten Minuten einen Gott um Rettung anflehten. Fünftausend Menschen waren für die Spätschicht der SS in Auschwitz nur schwer zu bewältigen, damals im Sommer 1944. Zwei oder vielleicht auch drei Züge voll. Aber wenn sie sich anstrengten, konnten sie es an einem Nachmittag und einem Abend schaffen. Der Unterschied ist der, dass ihr Töten im Geheimen geschah. Die Menschen, die in der Nähe wohnten, konnten sehen, wie die Kamine alle paar Stunden rot flammende und schwarze Wolken ausstießen. Aber sie sollten nicht wissen warum. Es gab einmal eine Zeit, da die schlimmsten Menschen dieser Erde sich schämten, ihr Verbrechen an den Himmel zu schreiben.

Neal Ascherson (London)

Amerikas einzige Hoffnung besteht darin, sich selbst mit den Augen der anderen sehen zu können. Aber da Globalisierung bedeutet, dass eine Nation mit einem schrecklich verengten politischen Horizont sich heute bis ans letzte Ende der Welt ausgebreitet hat, sind die Spiegel zerbrochen, in denen diese Nation ihr eigenes, fremdes Gesicht erblicken könnte.

Terry Eagleton (Dublin)

Eines der bemerkenswertesten Ergebnisse der Krise ist das Umschwenken der Bush-Administration von einer isolationistischen zu einer internationalistischen Politik. Eine Regierung, die seit Monaten die Weltöffentlichkeit mit ihrer Haltung zu globaler Erwärmung, Raketenabwehr und Rüstungskontrolle vor den Kopf gestoßen hat, findet sich plötzlich in der Situation, dass sie eine internationale Koalition zusammenbekommen muss.

Eric Foner (New York)

Im Gegensatz zu anderen Städten der Ostküste war New York keine religiöse Gründung. [. . .] Ich kenne keine andere Stadt, die derart vielfältig ist. Die Attacke zielte auf den amerikanischen Kapitalismus, aber sie hat zugleich die Vielfalt von New York getroffen. Das Wort „World Trade“ enthält diesen doppelten Sinn, und unter den Opfern sind Menschen aus aller Welt.

Hal Foster (New York)

In der Woche nach den grausamen Anschlägen tötete die israelische Armee etwa zwanzig Palästinenser. Niemand hat es auch nur zur Kenntnis genommen, sagte einer unserer Minister sichtlich zufrieden. Dann kam der jüdische Neujahrstag. Ich wanderte in meiner Wohnung umher, zwischen dem Bett meines kleinen Sohnes und dem Fernseher mit seinen nervenzerfetzenden Nachrichten. „Papa, sie sagen, dass der nächste amerikanische Krieg gut für uns ist. Stimmt das?“ Für uns – wer ist das? Die Menschen, die in Kabul, New York, Tel Aviv leben? Oder in Ramallah? Und wer sind „sie“, die das sagen? Die Toten in New York? In Bagdad? In Gaza? In Jerusalem?

Jitzhak Laor (Jerusalem)

Eher werden die Taliban sich ihre Bärte abrasieren und ihre Frauen kurze Röcke tragen lassen, als dass unsere Regierungsvertreter und Politiker auch nur eine ihrer politischen Sichtweisen und Strategien in Frage stellen. Der Patriotismus, der uns in der aktuellen Krise abverlangt wird, heißt: wir sollen handeln, nicht denken. [. . .] Wenn es uns gelänge, unsere Augen vor dem zu verschließen, was unsere politischen Führer in unserem Namen tun, könnten wir für immer unschuldige Amerikaner bleiben. Erst gestern hat man uns versichert, es gebe gefahrlose Kriege ohne eigene Tote und Verwundete und eine Raketenabwehr, die uns gegen jeden Angriff von außen unverwundbar macht. Und dann sieht plötzlich ein Teil von New York so aus wie Dresden 1945.

Charles Simic (New Hampshire)

aus: London Review of Books, volume 23, 4. Oktober 2001

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001