12.10.2001

Tristan in Jerusalem

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Tristan in Jerusalem

Von EDWARD S. SAID *

In Israel hat es einen Skandal gegeben, der zu komplexeren Überlegungen einlädt. Der große Pianist und Dirigent Daniel Barenboim hat am 7. Juli 2001 in einem Konzert in Tel Aviv einen Orchesterauszug aus einer Wagner-Oper zur Aufführung gebracht. Seither wurde Barenboim – mit dem ich, das sei vorweg gesagt, gut befreundet bin – mit unzähligen Kommentaren, Schmähungen und Bekundungen des Erstaunens bedacht, und zwar weil Richard Wagner (1813–1883) ein berüchtigter (und zutiefst abstoßender) Antisemit war; und weil er geraume Zeit nach seinem Tod zu Hitlers Lieblingskomponisten avancierte, weshalb er, durchaus nicht unberechtigt, mit den Taten des Nazi-Regimes assoziiert wird – also mit dem schrecklichen Schicksal von Millionen Juden und anderen von den Nazis umgebrachten „Untermenschen“.

In Israel ist Wagners Musik in öffentlichen Konzertsälen tabu, wenngleich seine Musik gelegentlich im Radio gespielt wird und Aufnahmen in Plattenläden erhältlich sind. Für viele israelische Juden sind Wagners äußerst komplexe Werke, so sehr sie die Welt der Musik auch beeinflusst haben mögen, zum Symbol der Schrecken des deutschen Antisemitismus geworden.

Auch viele nichtjüdische Europäer – vor allem aus Ländern, die während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis besetzt waren – lehnen Wagner aus ähnlichen Gründen ab. Weil seine Musik zum Teil so bombastisch und „germanisch“ klingt (was immer man unter diesem häufig missbrauchten Adjektiv verstehen mag), weil er ausschließlich Opern komponierte, weil sein Werk so tief in der germanischen Mythologie mit ihren Traditionen und Heldentaten wurzelt und weil er so unermüdlich, wortgewaltig und schwülstig seine meist zweifelhaften Ideen über minderwertige Rassen und hehre (germanische) Helden verfochten hat, ist Wagner als Person nur schwer zu akzeptieren, geschweige denn zu mögen oder zu bewundern.

Dennoch war er im Bereich des Theaters und der Musik fraglos ein großes Genie. Er hat unsere Vorstellungen von der Oper revolutioniert; er hat die Grenzen der Tonalität ausgelotet und neu definiert; und er hat uns zehn große Meisterwerke hinterlassen, zehn Opern, die nach wie vor zu den Höhepunkten der westlichen Musik zählen. Somit stellt er nicht nur für israelische Juden, sondern für alle Menschen eine Herausforderung dar: Wie kann man seine Musik bewundern und aufführen und sie gleichzeitig getrennt halten von seinen anrüchigen Schriften und davon, dass die Nazis sie sich zunutze gemacht haben.

Wie Barenboim häufig hervorgehoben hat, enthält keine der Wagnerschen Opern ausdrücklich antisemitische Stellen. Einfacher gesagt: Die Juden, die er hasste und über die er in seinen Pamphleten schrieb, tauchen in seinen musikalischen Werken nirgends als Juden oder jüdische Charaktere auf. Viele Kritiker haben bei einigen Figuren, die Wagner in seinen Opern mit Verachtung und Hohn bedenkt, antisemitische Züge ausgemacht. Aber es handelt sich dabei um Anschuldigungen, die nicht belegt werden. Auch wenn Beckmesser – eine lächerliche Figur in Wagners einziger komischer Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ – tatsächlich erhebliche Ähnlichkeiten mit damals verbreiteten Judenkarikaturen aufweist, ist er dennoch in der Oper selbst kein Jude, sondern ein deutscher Protestant. Offensichtlich machte Wagner in seinem Kopf eine Unterscheidung: zwischen der Wirklichkeit und der Musik – in seinen Schriften äußerte er sich wortreich über Juden, in der Musik verlor er keine Note über sie.

Bis zum 7. Juli dieses Jahres hielten sich jedenfalls alle an den allgemeinen Konsens, Wagners Werke in Israel nicht zu spielen. Neben dem Chicago Symphony Orchestra leitet Daniel Barenboim auch die Berliner Staatskapelle. Diese gab Anfang Juli im Rahmen einer Israeltournee drei Konzerte in Jerusalem. Ursprünglich hatte Barenboim geplant, in dem Konzert am 7. Juli den ersten Akt von Wagners Oper „Die Walküre“ zu spielen. Da jedoch der Leiter des Israel-Festivals, der das deutsche Orchester eingeladen hatte, um eine Änderung bat, setzte Barenboim stattdessen Schumann und Strawinsky aufs Programm. Am Ende des Konzertes jedoch wandte er sich ans Publikum und schlug als zweite Zugabe einen kurzen Auszug aus Wagners „Tristan und Isolde“ vor. Er lud die Zuhörer ein, darüber zu diskutieren und abzustimmen, und am Ende einer heftigen Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern waren die Befürworter in der Mehrheit. Barenboim kündigte daraufhin an, er werde das Stück spielen, betonte jedoch, dass er niemandes Gefühle verletzen wolle, und schlug deshalb vor, dass all jene, die diese Musik als Zumutung empfänden, den Saal vorher verlassen mögen. So geschah es. Die allermeisten der verbliebenen 2 800 Israelis haben das Stück begeistert aufgenommen, das – ich bin sicher – vortrefflich gespielt war.

Dennoch sind die Angriffe auf Barenboim seither nicht verstummt. In der Presse vom 25. Juli wurde berichtet, der Kultur- und Bildungsausschuss der Knesset dränge „Israels kulturelle Institutionen, den Dirigenten zu boykottieren, solange er sich nicht dafür entschuldige, Musik von Hitlers Hofkomponisten bei Israels wichtigstem Kulturereignis gespielt zu haben“. Der Kultusminister wie andere Berühmtheiten unternahmen weitere Angriffe gegen ihn.

Barenboim, der in Argentinien geboren wurde und seine frühe Kindheit dort verbrachte, ist in Israel herangewachsen und hat sich immer als Israeli gefühlt. Er besuchte hebräische Schulen und besitzt neben seinem argentinischen auch einen israelischen Pass. Außerdem galt er stets als bedeutender Botschafter israelischer Kultur, zumal er über lange Jahre im Musikleben des Landes eine zentrale Rolle spielte, auch wenn er seit dem Ende seiner Jugend meist in Europa und den Vereinigten Staaten lebte. Dies hatte und hat berufliche Gründe, denn außerhalb Israels boten sich ihm größere künstlerische Möglichkeiten. Der Wunsch, als Pianist und Dirigent in Berlin, Paris, London, Wien, Salzburg, Bayreuth, New York, Chicago, Buenos Aires und ähnlichen Städten aufzutreten, war stärker als der nach einem festen Lebensmittelpunkt. In gewissem Maße ist dieses kosmopolitische und unkonventionelle Leben, wie wir sehen werden, einer der Gründe dafür, dass sich seit dem Wagner-Vorfall die Angriffe gegen Barenboim häufen.

Darüber hinaus ist er eine äußerst komplexe Gestalt – auch das mag einiges zu der jüngsten Aufregung beigetragen haben. Alle Gesellschaften bestehen aus einer Mehrheit von Durchschnittsbürgern – Menschen, die eingefahrenen Geleisen folgen – und einer winzigen Anzahl von Menschen, die kraft ihres Talents und ihrer inneren Unabhängigkeit ganz und gar nicht durchschnittlich sind und in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung, ja, einen Affront für die gewöhnlich sanftmütige Mehrheit darstellen. Probleme treten auf, sobald die Mehrheit versucht, der winzigen Minderheit, die sich nicht an die eingespielten Routinen hält, ihre Sichtweisen, Regelungen und Horizonte aufzuzwingen.

Der Konflikt ist unvermeidlich, denn Menschen, die anders sind – talentierter, origineller – sind für die Mehrheit nicht leicht zu ertragen, sie lösen zwangsläufigirrationale Reaktionen aus. Man erinnere sich, wie Sokrates von den Athenern behandelt wurde, weil er ein Genie war und jungen Menschen unabhängiges und skeptisches Denken beibrachte: er wurde zum Tode verurteilt. Die Juden von Amsterdam haben Spinoza exkommuniziert, weil seine Gedanken eine Überforderung für sie waren. Galileo wurde von den Inquisitoren der katholischen Kirche verhört, inhaftiert und zum Widerruf gezwungen. Und Al-Hallaj wurde 922 in Bagdad für seine Einsichten gekreuzigt. So ging es jahrhundertelang. Daniel Barenboim hat zu viele der Grenzen überschritten und zu viele der Tabus verletzt, die die israelische Gesellschaft in Bann halten. Es lohnt sich, seine verschiedenen Übertretungen zu beschreiben.

Die Grenzen überschreiten

MUSIKALISCH gesehen ist Barenboim eine überwältigende Ausnahmeerscheinung. Er besitzt alle nur denkbaren Begabungen, die ein großer Solist und Dirigent braucht – ein enormes Gedächtnis, Kompetenz und Brillanz in technischen Fragen, ein gewinnendes Auftreten vor dem Publikum und vor allem eine große Hingabe und Liebe zu seiner Arbeit. Nichts in der Musik ist ihm fremd oder zu schwer. Er tut alles mit scheinbar müheloser Meisterschaft – jeder lebende Musiker wird das bestätigen.

Aber ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Seine prägenden Jahre verbrachte er zunächst im spanischsprachigen Argentinien, dann im hebräischsprachigen Israel – er besitzt beide Nationalitäten und ist doch in keiner bruchlos zu Hause. Seit seiner späten Jugend hat er nicht mehr wirklich in Israel gelebt; er zog stattdessen die kosmopolitische und kulturelle Atmosphäre Europas und der Vereinigten Staaten vor, wo er, wie bereits erwähnt, zwei der angesehensten Positionen in der Welt der Musik einnimmt: als Dirigent des vielleicht besten amerikanischen Orchesters (in Chicago) und als Leiter eines der großartigsten und ältesten Opernorchesters der Welt (der Berliner Staatskapelle). Zugleich setzt er seine Karriere als Pianist fort. Wer derart erfolgreich auf so vielen Bühnen der Welt agieren will, kann sich nun einmal gerade nicht dadurch auszeichnen, dass er sich eifrig an Standars und Üblichkeiten hält. Seine Norm ist im Gegenteil die regelmäßige Aufweichung von bestehenden Konventionen und Grenzen. Dies gilt ganz generell für ungewöhnliche Menschen. Wer nur innerhalb der regulierenden Grenzen des sozialen und politischen Lebens existiert, aus dem wird wohl im Allgemeinen kein bahnbrechender Künstler oder Wissenschaftler werden.

Aber es wird noch komplizierter. Aufgrund seines reichen Lebens, seiner vielen Reisen und seiner Sprachbegabung (er beherrscht sieben Sprachen) ist Barenboim in gewissem Sinne überall und nirgends zu Hause. Folglich sind seine Besuche in Israel meist auf wenige Tage im Jahr beschränkt, obwohl er telefonisch und durch die Zeitungslektüre den Kontakt aufrechterhält. Derzeit verbringt er im Übrigen, nachdem er lange in den Vereinigten Staaten und Großbritannien gelebt hat, den größten Teil seiner Zeit in Deutschland.

Man kann sich vorstellen, dass das vielen Juden, die Deutschland nach wie vor als Verkörperung des Bösen und des Antisemitismus sehen, ein Dorn im Auge ist. Zu allem Überfluss spiegelt Barenboims Musikrepertoire den klassischen österreichisch-deutschen Kanon, in dem Wagners Opern an zentraler Stelle stehen. (Darin folgt er Wilhelm Furtwängler, dem größten deutschen Dirigenten des zwanzigsten Jahrhunderts – auch er politisch eine äußerst widersprüchliche Figur.)

Ästhetisch ist dies natürlich für einen klassischen Musiker eine vernünftige, um nicht zu sagen vorbestimmte Entscheidung. Schließlich umfasst dieser Kanon die großen Werke von Mozart, Haydn, Beethoven, Brahms, Schumann, Bruckner, Mahler, Wagner und Richard Strauss. Dazu kommen natürlich viele französische, russische und spanische Komponisten. Aber im Zentrum steht österreichische und deutsche Musik, eine Musik, die viele jüdische Philosophen und Künstler – vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg – vor große Probleme gestellt hat. Der große Pianist Arthur Rubinstein, ein Freund und Mentor Barenboims, hat sich mehr oder weniger geweigert, jemals nach Deutschland zu gehen und dort zu spielen, weil er als Jude nicht in ein Land wollte, das so viele seiner Landsleute ermordet hatte. Barenboims Aufenthalt in Berlin, im Herzen der früheren Reichshauptstadt, einer Stadt, der in den Augen vieler lebender Juden bis heute die Zeichen des Bösen anhaften, musste daher bei vielen seiner israelischen Bewunderer ein Gefühl der Befremdung auslösen.

Kunst und Politik – eine unheilige Allianz

NUN könnte man als Außenstehender den wohlfeilen Rat erteilen, die Menschen sollten nicht alles so eng sehen und sich daran erinnern, dass die Kunst das eine, die Politik aber etwas ganz anderes sei – eine im Grunde unsinnige Position, die den meisten der von uns verehrten Künstlern und Musikern zuwider ist. Alle großen Komponisten waren auf die eine oder andere Weise politisch und vertraten recht ausgeprägte politische Ideen. Einige dieser Ideen – wie die des jungen Beethoven, der Napoleon als großen Feldherrn verehrte, oder die Debussys, eines französischen Nationalisten des rechten Flügels – sind aus heutiger Sicht ziemlich anfechtbar. Haydn, um ein anderes Beispiel zu nennen, war ein serviler Angestellter seines aristokratischen Patrons, des Fürsten Esterhazy, und selbst das größte aller Genies, Johann Sebastian Bach, musste sich lange Jahre an den Höfen von Weimar und Köthen nach der Decke strecken.

Heute sind uns diese Dinge ziemlich gleichgültig geworden, weil sie sich in einer fernen Vergangenheit abgespielt haben. Nichts davon erscheint uns so offensichtlich anstößig wie etwa eines der rassistischen Pamphlete des britischen Historikers Thomas Carlyle aus den Sechzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts. Dabei sind jedoch noch zwei weitere Faktoren im Spiel. Zum einen unterscheidet sich Musik als Kunstform von der Sprache. Anders als die Worte, die wir verwenden, besitzen Noten keine feste Bedeutung. Zum anderen ist Musik weitgehend transnational. Sie überschreitet die Grenzen von Staat oder Nationalität und Sprache. Man muss nicht Deutsch sprechen können, um Mozart zu schätzen, und man muss kein Franzose sein, um eine Partitur von Berlioz zu lesen. Man muss nur etwas von Musik verstehen – eine hoch entwickelte Technik, die man sich mit großer Mühe aneignen muss und die sich deutlich von anderen Wissensgebieten wie Geschichte oder Literatur unterscheidet. Allerdings wird man, um einzelne Musikwerke wirklich verstehen und interpretieren zu können, sich mit ihrem Kontext und ihrer Geschichte vertraut machen müssen. In gewisser Hinsicht ähnelt die Musik der Algebra – aber eben nicht ganz, wie der Fall Wagner bezeugt.

Wäre Wagner ein Komponist von geringerem Rang gewesen oder hätte er sein Werk in aller Stille komponiert, ohne viel Aufhebens von seiner Person zu machen, dann wären seine Widersprüche wohl leichter zu akzeptieren oder zu tolerieren. Er war jedoch unglaublich geschwätzig und überschwemmte Europa mit seinen Auslassungen, seinen Projekten und seiner Musik. All das kam zusammen – eindrucksvoller und stärker als bei jedem anderen Komponisten darauf ausgerichtet, den Hörer zu überwältigen und zu bezwingen. Im Zentrum seiner gesamten Arbeit stand sein eigenes fantastisch selbstbezogenes, ja narzisstisches Ich, das er eindeutig als Verkörperung des Wesens der deutschen Seele, ihres Schicksals sowie ihrer Vorzüge begriff.

Ich kann mich hier natürlich nicht eingehender mit Wagners Werk auseinander setzen. Hervorgehoben sei nur, dass er die Kontroverse suchte, dass er Beachtung forderte, dass er alles für Deutschland und für sich tat und in den extremsten revolutionären Begriffen dachte. Seine Musik sollte eine neue Musik sein, eine neue Kunst, eine neue Ästhetik. Sie sollte die Tradition von Beethoven und Goethe verkörpern und sie vorbildlich in einer neuen, universalen Synthese transzendieren. Keinem Künstler ist je so viel Beachtung geschenkt worden, über keinen ist mehr geschrieben und nachgedacht worden als über Richard Wagner.

Wagner war für die Nazis wie geschaffen, aber er wurde auch – und das darf man nicht vergessen – von anderen Musikern als Held und großes Genie begrüßt. Sie verstanden, dass seine Arbeit die westliche Musik von Grund auf veränderte. Noch zu seinen Lebzeiten wurde ihm ein spezielles Opernhaus erbaut, ein Tempel fast, allein für ihn und die Aufführung seiner Opern – in der kleinen Stadt Bayreuth, wo noch immer jeden Sommer ausschließlich Wagners Musik gespielt wird. Bayreuth und die Wagner-Familie lagen Hitler am Herzen, und um die Angelegenheit noch komplexer zu machen, leitet Richard Wagners Enkel Wolfgang noch heute die Sommerfestspiele, und Barenboim tritt dort seit fast zwei Jahrzehnten regelmäßig als Gastdirigent auf.

Aber auch das ist noch nicht alles. Barenboim ist offensichtlich ein Künstler, der Hindernisse überwindet, Verbotsgrenzen überschreitet und sich in Tabuzonen vorwagt. Auch wenn er sich nicht als politische Figur gebärdet, hat er doch niemals einen Hehl daraus gemacht, dass er mit der israelischen Besatzungspolitik nicht glücklich ist. Anfang 1999 hat er sogar als erster Israeli der Bir-Zeit-Universität im Westjordanland das Angebot gemacht, dort ein kostenloses Konzert zu geben. Außerdem hat er in den letzten drei Jahren in einem kühnen Unternehmen junge israelische und arabische Musiker zusammengeführt (zweimal fanden die Treffen in Weimar, einmal in Chicago statt), um jenseits der politischen Lage und der aktuellen Konflikte in der völlig unpolitischen Kunst gemeinsamer Musikinterpretation eine Verbindung zu stiften.

Der Andere fasziniert ihn, und er weist kategorisch jegliche Position von sich, die behauptet, Unwissenheit sei manchmal besser als Wissen. Ich stimme mit ihm darin überein, dass Unwissenheit für ein Volk keine brauchbare politische Strategie ist und dass folglich jeder auf seine Weise versuchen muss, den Anderen zu verstehen und kennen zu lernen, unabhängig von vorhandenen gesellschaftlichen Tabus. Nicht viele Menschen denken so, aber für mich ist dies die einzige intellektuell vertretbare Position, und es gibt immer mehr Menschen, die so denken wie ich. Das bedeutet nicht, dass man auf die Verteidigung der Gerechtigkeit oder auf Solidarität mit den Unterdrückten verzichten soll. Es bedeutet nicht, dass man die eigene Identität aufgeben soll.

Es bedeutet auch nicht, dass man sich von der realen Politik abwenden soll. Es bedeutet jedoch, dass der Weg zu staatsbürgerlichem Verhalten über Vernunft, Verständnis und intellektuelle Analyse führt und nicht über die Erregung und Förderung kollektiver Leidenschaften wie jene, von denen sich die Fundamentalisten anscheinend treiben lassen. Ich selbst fühle mich diesen Überzeugungen seit langem verpflichtet – vielleicht liegt hierin ein Grund, warum Barenboim und ich trotz unserer Differenzen Freunde geblieben sind.

Wer ein so komplexes Phänomen wie Richard Wagners Musik rundheraus ablehnt, kategorisch verdammt und undifferenziert anprangert, nimmt eine irrationale und letztlich inakzeptable Haltung ein – so ähnlich, wie es für uns Araber eine dumme und verderbliche Politik war, jahrelang Phrasen wie „das zionistische Gebilde“ zu verwenden und uns jedem Versuch strikt zu verweigern, Israel und die Israelis zu verstehen und zu analysieren – mit der Begründung, man müsse ihre Existenz leugnen, weil sie die nakba (die palästinensische Katastrophe) verursacht hätten. Die Geschichte hat ihre eigene Dynamik, und wenn wir von den israelischen Juden verlangen, die erschreckenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber dem palästinensischen Volk nicht mit dem Holocaust zu rechtfertigen, dann müssen auch wir auf Dummheiten verzichten, etwa auf die Behauptung, der Holocaust habe niemals stattgefunden und alle Israelis, Männer, Frauen und Kinder seien nun einmal unsere Feinde.

Nichts Geschichtliches ist in der Zeit eingefroren; nichts in der Geschichte ist dem Wandel entzogen; nichts in der Geschichte liegt jenseits von Vernunft und Verstand, jenseits von Analyse und Beeinflussung. Egal, welchen Unsinn die Politiker verbreiten und tun, egal, was uns die Demagogen einreden. Unter Intellektuellen, Künstlern und freien Bürgern muss es immer Raum für den Dissens geben, für andere Ansichten, für Möglichkeiten und Wege, die Tyrannei der Mehrheit herauszufordern. Gleichzeitig – und das ist noch wichtiger – müssen wir versuchen, die Aufklärung und die Freiheit der Menschen voranzubringen.

Man kann dies nicht einfach als westliches Gedankengut abtun und erklären, derlei Gedanken besäßen eben für Araber und Muslime – oder auch für jüdische Gesellschaften und Traditionen – keine Geltung. Aufklärung und Freiheit sind universale Werte, die in jeder mir bekannten Tradition zu finden sind. Jede Gesellschaft kennt Konflikte zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Ignoranz und Wissen, Freiheit und Unterdrückung. Es geht nicht einfach darum, sich der einen oder der anderen Seite anzuschließen, weil einem das irgendjemand so sagt. Es kommt vielmehr darauf an, sorgfältig zu entscheiden und am Ende zu Urteilen zu gelangen, die der Situation als Ganzes gerecht werden. Der Zweck der Bildung liegt nicht darin, Faktenwissen zu akkumulieren oder die richtigen Antworten auswendig zu lernen, sondern zu lernen, wie man ein selbstständiges, kritisches Denken entwickelt und den Dingen eine eigenständige Deutung zu geben vermag.

Im Falle von Wagner und Barenboim in Israel macht man es sich zu leicht, wenn man den Dirigenten als Opportunisten oder als gefühllosen Abenteurer abkanzelt. Ebenso wäre es zu einfach, zu sagen, Wagner sei ein schrecklicher Mann mit allgemein reaktionären Ansichten gewesen und deshalb könne man seine Musik, so schön sie auch sei, nicht tolerieren, weil sie mit dem gleichen Gift infiziert sei wie seine Schriften. Wie wollte man das nachweisen? Wie viele Schriftsteller, Musiker, Dichter, Maler blieben uns denn noch, wenn ihre Kunst an ihrem moralischen Verhalten gemessen würde? Und wer wollte entscheiden, wieviel Hässlichkeit und Schändlichkeit im Werk eines jeden Künstlers noch zu dulden sei?

Sobald man einmal mit der Zensur begonnen hat, gibt es theoretisch keine Grenzen mehr. Ich meine, jeder denkende Mensch sollte es sich abverlangen, ein Phänomen wie das von Wagner und Israel in seiner Komplexität zu analysieren. Ein vergleichbares Beispiel wäre der glänzende nigerianische Romancier Chinua Achebe, der in einem berühmt gewordenen Essay der Frage nachgeht, mit welcher Haltung ein Afrikaner heute Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ lesen soll. Solchen Analysen obliegt es zu zeigen, wo das Böse liegt und wo die Kunst.

Ein erwachsener Mensch sollte es ertragen, dass in seinem Kopf Platz ist für widersprüchliche Fakten. Das heißt in unserem Fall, dass Wagner eben erstens ein großer Künstler und zweitens ein verabscheuenswürdiger Mensch war und dass drittens diese beiden Tatsachen untrennbar zusammengehören.

Daraus ist freilich nicht der Schluss zu ziehen, dass man Wagners Musik nicht anhören soll. Und selbstverständlich muss sich auch umgekehrt niemand, dem bei Wagner die Schrecken des Holocaust gegenwärtig werden, seine Musik anhören. Nur wäre es doch angebracht, der Kunst mit einem gewissen Maß an Offenheit zu begegnen. Natürlich ist kein Künstler über jedes moralische Urteil erhaben. Sein Werk jedoch sollte nicht allein nach solchen Kriterien beurteilt und – womöglich – verboten werden.

Zu guter Letzt noch eine weitere Analogie zur arabischen Situation. In der Knesset wurde im vorigen Jahr heftig darüber gestritten, ob der palästinensische Schriftsteller Mahmoud Darwish in die Lektürelisten für israelische Oberschüler aufgenommen werden soll oder nicht. Viele von uns haben in der scharfen Ablehnung ein Indiz für die Engstirnigkeit des Zionismus gesehen. Sie haben nicht verstanden, wieso junge Leute in Israel nicht einen wichtigen palästinensischen Schriftsteller kennen lernen sollen, und argumentierten, dass die Geschichte und die Wirklichkeit nicht bis in alle Ewigkeit versteckt werden können und dass eine derartige Zensur doch eigentlich den Lehrplan nicht bestimmen dürfe.

Mit Wagners Musik stellt sich ein ähnliches Problem, obwohl nicht geleugnet werden kann, dass die schrecklichen Assoziationen, die seine Musik und sein Denken auslösen, ein echtes Trauma für all jene darstellen, in deren Augen der Lieblingskomponist der Nazis sich auch für diese Vereinnahmung angeboten haben muss. Und doch: Einen so bedeutenden Komponisten wie Wagner kann man nicht einfach immer weiter ausgrenzen.

Hätte Barenboim nicht an jenem 7. Juli ein Stück aus einer Wagner-Oper in Israel aufgeführt, so hätte es früher oder später jemand anders getan. Die Realität ist komplex, und wir können ihr noch so viele Hindernisse in den Weg legen, wir werden sie uns nicht vom Halse halten. Die Frage lautet also nicht, ob es das Phänomen Wagner gibt, sondern wie wir es verstehen sollen.

Die Kampagne gegen die „Normalisierung“ der Beziehungen zu Israel, die es im arabischen Raum gibt, hat ähnliche Merkmale wie die israelischen Tabus gegenüber palästinensischer Dichtung und Wagner. Das gilt, obwohl das Palästina-Problem derzeit so besonders drängend ist: Schließlich praktiziert Israel täglich kollektive Mord- und Bestrafungsaktionen gegen ein Volk, dessen Land es seit 34 Jahren unrechtmäßig besetzt hält.

Unser Problem liegt darin, dass arabische Regierungen zwar wirtschaftliche und politische Beziehungen mit Israel unterhalten, diverse Gruppierungen innerhalb der arabischen Gesellschaften jedoch versuchen, ein vollständiges Kontaktverbot mit Israelis durchzusetzen. Das Verbot der Normalisierung ist insofern unsinnig, als Israels Unterdrückung der Palästinenser – die Raison d’être dieses Verbots – durch diese Kampagne nicht weniger wird. Haben die Antinormalisierungsmaßnahmen etwa ein einziges palästinensisches Haus vor der Zerstörung bewahrt? Oder auch nur an einer einzigen palästinensischen Universität das Lehrangebot verbessert? Leider nicht. Deshalb bin ich der Auffassung, die angesehenen ägyptischen Intellektuellen sollten ihre Solidarität mit den palästinensischen Genossen lieber dadurch unter Beweis stellen, dass sie nach Palästina kommen und dort unterrichten, Vorträge halten oder medizinisch tätig sind, anstatt zu Hause zu hocken und andere von einem Besuch in Palästina abzuhalten. In der Hand der Ohnmächtigen ist die Antinormalisierung keine wirksame Waffe. Ihr Symbolwert ist gering, und ihre tatsächliche Wirkung ist passiv und destruktiv.

Die erfolgreichen Waffen der Schwachen – wie in Indien, den amerikanischen Südstaaten, Vietnam, Malaysia und anderswo – waren immer aktiv, und oft auch aggressiv. Es kommt darauf an, den mächtigen Unterdrücker sowohl moralisch als auch politisch verwundbar zu machen und in seinem Selbstbewusstsein zu erschüttern. Mit Selbstmordattentaten erreicht man das genauso wenig wie mit Antinormalisierungskampagnen, die beispielsweise im Freiheitskampf in Südafrika unter anderem zum Boykott von ausländischen Wissenschaftlern führten.

Deshalb bin ich der Überzeugung, dass wir versuchen müssen, dem israelischen Bewusstsein mit allem zu Leibe zu rücken, was uns zur Verfügung steht. Wir müssen uns in Wort wie Schrift an die israelische Öffentlichkeit wenden und das geltende Tabu der Begegnung mit uns durchbrechen. Denn der eigentliche Grund für die Debatte über palästinensische Literatur in israelischen Schulbüchern liegt in der Angst davor, dem zu begegnen, was ihr kollektives Gedächtnis unterdrückt hat. Der Zionismus hat versucht, die Nichtjuden auszuschließen, und durch unseren Generalboykott – bis hin zum Boykott der Bezeichnung „Israel“ – haben wir den Zionismus in Wirklichkeit gestärkt, statt ihm Einhalt zu bieten.

In anderer Hinsicht dürfte Barenboims Vorgehen eine heilende Wirkung gehabt haben, obwohl es für viele, die noch immer unter den realen Traumata des antisemitischen Völkermords leiden, wirklich schmerzhaft gewesen ist: Es hat der Trauer ermöglicht, einen Schritt weiter zu kommen, einen Schritt ins Leben zu wagen, das weitergeht und nicht in der Vergangenheit eingefroren werden kann. Vielleicht habe ich nicht alle Nuancen dieses komplexen Fragengebildes erfasst, aber entscheidend muss sein, dass das wirkliche Leben nicht beherrscht werden darf von Tabus und Verboten gegen kritisches Verständnis und emanzipatorische Erfahrung. Diesen gebührt immer die oberste Priorität. Ignoranz und Berührungsangst können uns keinen Weg in die Gegenwart weisen.

aus dem Engl. von Meino Büning

* Autor u. a. von „Der wohltemperierte Satz“, München 1995 , „Am falschen Ort. Autobiographie“, Berlin 2000 und „Frieden in Nahost? Essays über Israel und Palästina“, Heidelberg 1997

Le Monde diplomatique vom 12.10.2001, von EDWARD S. SAID