Gedanken eines muslimischen Weltbürgers
Von HICHAM BEN ABDALLAH EL ALAOUI *
DIE Attentate vom 11. September haben die Welt verändert. Zwar ist der Kreis der Täter noch nicht vollständig identifiziert, doch dass die ermittelten Attentäter zu einem transnationalen islamistischen Netzwerk gehören, steht außer Frage. Und egal ob an der Spitze dieses Netzwerks die gleichsam mythische Figur Ussama Bin Ladens oder irgendein anderer steht – wir kommen nicht umhin, die Folgen der Attentate für die arabisch-muslimischen Länder und die Welt insgesamt zu reflektieren.
Diese widerwärtigen Anschläge sind die Folge des Zorns derjenigen in den arabisch-muslimischen Ländern, die sich von der herrschenden Weltordnung an den Rand gedrängt und gedemütigt fühlen. Die Tatsache, dass es ein Netz gibt, das im Namen des Islam zu solch extremer Gewalt fähig ist, nötigt uns Muslime, unsere Position gegenüber dem „islamischen Fundamentalismus“ zu klären. Wiewohl dem Westen ein Teil der Verantwortung zukommt, können wir uns von unserer eigenen Verantwortung nicht freisprechen. Damit meine ich das Anwachsen einer politisch wie gesellschaftlich totalitären Spielart des Islam, deren Anhänger sich in bewaffneten Gruppen organisieren, um ihre einseitige Auslegung der heiligen Schriften durchzusetzen.
Die Mehrheit der Muslime wollen ihre Religion im friedlichen Einvernehmen mit den andersgläubigen Nachbarn leben und die neuen Möglichkeiten nutzen, die die heutige Welt bietet. Keineswegs verfolgen sie das Ziel, die muslimischen und nichtmuslimischen Bürger eines Landes zu einer einheitlichen Lebensweise zu zwingen. Und erst recht nicht haben sie im Sinn, die Welt zur Verbreitung ihrer Religionsauffassung mit Krieg zu überziehen. Das Spannungsverhältnis zwischen einer offenen und einer totalitären Weise, die eigene Religion zu leben, besteht nicht nur bei den Muslimen. In den Vereinigten Staaten existiert eine christlich-fundamentalistische Strömung, die es in ihrer Ausdrucksweise mit Bin Laden ohne weiteres aufnehmen kann. Auch die Extremisten unter den jüdischen Siedlern sind bereit, die Welt im Namen ihres religiösen Zieles „Großisrael“ in den Krieg zu stürzen.
In dem Maße, in dem die islamistischen Bewegungen ihren Einfluss unter den Armen in den muslimischen Gesellschaften ausweiten, geraten die kosmopolitisch gesinnten muslimischen Eliten in die Isolation. Diese Eliten haben sich komfortabel unter Regimen eingerichtet, die noch immer soziale Ungleichheit und massive Armut dulden. Vielen dieser Regime kamen die islamistischen Bewegungen anfangs zupass – als Gegengewicht, um andere Oppositionsgruppen zu unterdrücken.
Der Erfolg dieser Islamisten beweist, dass die freiheitsliebenden Muslime ihr Anliegen nicht nachdrücklich genug zu verteidigen wussten. Und er zeigt einen dringenden Handlungsbedarf. Jeder moderne Muslim, der sich in einer multiethnischen, multikulturellen und multikonfessionellen Welt entfalten will, muss sich leidenschaftlich für einen toleranten Islam engagieren. Dies bedeutet, dass wir sowohl für soziale Gerechtigkeit und demokratische Institutionen einzutreten haben als auch für internationale Beziehungen, die Würde und Souveränität aller Nationen achten. Solches Engagement erfordert viel politischen Mut. Doch anders werden wir nicht verhindern können, dass der Islam von Mördern usurpiert und missbraucht wird.
Es ist in keiner Weise ein Widerspruch, zugleich Muslim und moderner Weltbürger zu sein, zugleich Verteidiger der Armen und Fürsprecher der Palästinenser. Wir müssen diese Herausforderung annehmen und in unserem jeweiligen sozialen Umfeld für diese Ideen kämpfen. Die Ereignisse des 11. September führen uns die Dringlichkeit dieser Aufgabe vor Augen. Uns Muslimen haben die Attentäter den Fehdehandschuh hingeworfen. Also ist es auch an uns, ihn aufzunehmen.
Die Gefahren, die sich aus den jüngsten Ereignissen ergeben, sind äußerst gravierend. Dies waren ja keine gewöhnlichen Terroranschläge, die man etwa mit denen der IRA oder der ETA vergleichen könnte oder mit denen der Palästinenser in den Siebzigerjahren oder auch mit den jüngsten „Selbstmordattentaten“ im Nahen Osten. Mit diesen Aktionen wollten die Täter die Öffentlichkeit auf Missstände aufmerksam machen oder Vergeltung für konkrete Handlungen üben. Sie wollten also angesichts als ungerecht empfundener Umstände eine Art Wiedergutmachung erlangen. In diesen Fällen bekannten sich die Täter auch meistens zu ihren Aktionen, um deren politische Dimension zu unterstreichen. Die Attentate vom 11. September hingegen beziehen sich nicht auf ein konkretes Ereignis. Ihr wesentliches Motiv ist nicht die Wiedergutmachung spezifischen Unrechts, vielmehr sind sie Ausdruck einer in religiösen Überzeugungen verankerten Strategie, die darauf zielt, die gesamte „muslimische Welt“ in einen allumfassenden Krieg gegen den „Westen“ hineinzuziehen und zum Sieg zu führen.
Die für die Anschläge verantwortliche kleine Gruppe weiß, dass eine solche Konfrontation nur dann zustande kommt, wenn es ihr gelingt, bei einem Großteil der Muslime den gleichen Zorn und die gleiche Entschlossenheit zu wecken, die bereits die nach tausenden zählenden Mitglieder der eigenen Bewegung motivieren. Und weil sie einen umfassenderen Konflikt provozieren wollen, ist es nur logisch, dass sie sich nicht zu ihren Taten bekennen. Die Attentäter wollen, dass man nicht herausfindet, wer verantwortlich ist und bestraft werden könnte, um es den angegriffenen Staaten schwer zu machen, keinen Vergeltungsschlag gegen breit gestreute muslimische Ziele zu initiieren. Die Attentäter setzten also darauf, dass blinde Repressalien den Zorn aller Muslime schüren werden. Wenn ihnen dies gelänge, hätten sie eine entscheidende Schlacht gewonnen und würden sich mit neuem Eifer auf die unvermeidliche nächste Schlacht vorbereiten.
Schon lange reden die Attentäter von heiligem Krieg, aber wir haben sie lange Zeit nur als marginale Gruppen wahrgenommen. Das können wir uns jetzt nicht mehr leisten. Sie haben die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen und zwingen uns, ihre Entschlossenheit endlich zur Kenntnis zu nehmen. Wer die muslimische Welt kennt, weiß, dass die Art von Erhebung, die sie im Sinn haben, durchaus im Bereich des Möglichen liegt – nicht unbedingt in den apokalyptischen Dimensionen, die sich die Luftpiraten erträumt haben, aber doch auf regionaler oder nationaler Ebene. Wie kommen einige tausend Individuen dazu, ihre Variante eines „Kampfs der Kulturen“ zu inszenieren, den niemand wünscht? Man braucht nur die möglichen Folgen amerikanischer Vergeltungsmaßnahmen zu analysieren und versteht, dass die Luftpiraten eine Antwort auf diese Frage wussten.
Die Vereinigten Staaten werden die Anschläge mit drastischen Mitteln beantworten, und zwar nicht nur als Akt der Rache, sondern auch deshalb, weil solche Attentate erst dann aufhören werden, wenn die Wurzel durchschnitten ist. Doch es istschwierig, die Wurzel zu fassen zu bekommen, denn das Netz der Attentäter ist nicht allzu groß, die Maschen sind weit, die Knoten gut versteckt, und die Mitglieder bewegen sich in einem Meer von Menschen, die ihre Frustrationen teilen. Es besteht die Gefahr, dass der Konftikt jeder Kontrolle entgleitet und von Afghanistan auf Pakistan übergreift, das über Atomwaffen verfügt. Wie würde die benachbarte Atommacht Indien dann reagieren? Und wie China? Welche Konsequenzen würden die Russen in Tschetschenien und ganz allgemein im Kaukasus ziehen?
Auch die muslimischen Gemeinschaften auf dem Balkan und in Westeuropa werden von den kommenden Ereignissen nicht unberührt bleiben. Für die Vereinigten Staaten wäre es daher am wirkungsvollsten, könnten sie den Gegenschlag auf ein präzises Ziel konzentrieren. Ferner sollten sie es vermeiden, die arabischen Regierungen zu ungerechtfertigten Maßnahmen gegen friedfertige islamistische Strömungen zu drängen, denn das würde gerade den unerwünschten Teufelskreis in Gang zu setzen.
Nur wenn man alle diese Aspekte des Problems im Auge behält, wird es vielleicht gelingen, die Schuldigen zu isolieren, potenzielle Kämpfer und Attentäter abzuschrecken und eine Erhebung breiterer Massen zu vermeiden. Eine solche Strategie erfordert allerdings ein grundsätzliches Überdenken der US-amerikanischen Politik gegenüber den arabischen und muslimischen Gesellschaften. In erster Linie müssen die USA darauf hinwirken, dass Israel die Besetzung palästinensischen Territoriums beendet und das Recht der Palästinenser auf einen unabhängigen Staat akzeptiert, mit Jerusalem – für alle Muslime eine heilige Stadt !– als Hauptstadt. Diese Überprüfung der amerikanischen Außenpolitik ist die unerlässliche Vorbedingung für jeden „Sieg“ in diesem „Krieg neuen Typs“. Wer jetzt eine Lösung des Palästina-Problems erneut aufschieben will – bis nach der Lösung des Terrorismusproblems –, ist nicht glaubwürdig. Zu oft wurde diese Karte ausgespielt, das letzte Mal im Golfkrieg vor zehn Jahren, und die Resultate lassen noch immer auf sich warten.
Darüber hinaus müssen sich die Vereinigten Staaten eingestehen, dass sie für die Entstehung jenes „Terrorismus“, der sich heute gegen sie selbst wendet, durchaus eine Mitverantwortung tragen. Indem sie, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen, solche Netzwerke aufbauten und repressive Regime unterstützten, die ihr Volk terrorisierten, haben sie den „Terrorismus“ gefördert. Werden sich die USA zu dieser Selbstkritik durchringen und bekennen, dass sie sich – dem Beispeil zahlreicher arabischer Regierungen folgend – zur Durchsetzung ihrer Ziele Fanatiker zunutze machten?
Die Gewalt hat sich globalisiert. Die Konflikte und Ungerechtigkeiten spielen sich nicht mehr „irgendwo da hinten“ ab, und ihre Opfer klopfen an unsere Tür. Internationale Politik ist immer zugleich auch lokale Politik, und die Staatsführer werden vor der Weltgesellschaft dafür Rechenschaft ablegen müssen. Armut, Ungleichheit, Unterdrückung und Machtarroganz müssen überall überwunden werden. Die Verheerungen der neoliberalen Globalisierung sind nicht nur an der Wall Street, sondern auch in den Dörfern Zentralasiens zu spüren. All diese Probleme berühren unmittelbar die globale Sicherheit. Diesmal darf es sich niemand mehr leisten, einen Fehler zu machen.
dt. Bodo Schulze
* Gründer des Instituts für Nordafrikastudien an der Princeton University (USA).