Niemand ist eine Insel
Von FRED HALLIDAY *
DIE Ereignisse vom 11. September evozierten spontan die großen historischen Analogien: Sarajevo 1914, Pearl Harbor 1941, die Kubakrise 1962. Aber keines dieser Ereignisse war von ähnlich emblematischer Bedeutung wie die Terrorattacken in New York und Washington mit ihren vielfachen Dimensionen: als die spektakulärste „Propaganda der Tat“ in der Geschichte, als Ikone der Zerstörung vor einem strahlend blauen Himmel, als Ereignis, das schlagartig ein Gewirr von Empfindungen auslöste: Schmerz, Angst, Unsicherheit.
Die Regierungen in aller Welt sprechen jetzt vom Krieg gegen einen Feind. Aber dies ist ein Feind, der keine strategische Bedrohung darstellt, und der Kampf gegen ihn wird kein leichtes oder voraussagbares Ende haben. Für alle, die in einer Stadt oder einem Land wohnen, dem diese Art von Gewalt bislang erspart geblieben ist, wird das Gefühl von Sicherheit, die das moderne Leben zu bieten schien, jedenfalls für längere Zeit erschüttert. Und natürlich überkommt uns alle die Ahnung, dass die terroristische Offensive nach dem erfolgreichen überraschenden Erstschlag womöglich einen ebenso tückischen zweiten Schlag vorsieht.
Was wir gegen diese Gefahr unternehmen können, ist jedoch kein Krieg, keine umfassende Mobilmachung mit klar kalkulierbarem Ziel. Und erst recht ist es nicht der erste Krieg des 21. Jahrhunderts, wie ihn US-Präsident Bush ausgerufen hat. Die Einwohner von Grosny und Juba, von Jaffna und Kabul (von Srinagar, Nablos, Medellín ganz zu schweigen) haben allen Grund, diese Aussage anzuzweifeln. Und diejenigen sind völlig im Recht, die uns nach dem 11. September daran erinnern – ohne damit den Massenmord in den USA zu befürworten –, dass wir diese anderen Konflikte aus dem Auge verlieren. Zu den ersten Opfern dieses Attentats dürften die vielen Menschen gehören, die keine Chance haben, aus den Konfliktzonen von Tschetschenien, Sri Lanka, Kaschmir und Kolumbien zu entkommen.
Der 11. September 2001 war gewiss auch insofern ein einmaliges Ereignis, als er uns schwerwiegende Fragen aufgibt, die uns noch lange beschäftigen werden. Da ist zuallererst die Frage nach den Ursachen: Warum hat eine Gruppe junger Menschen, die vorwiegend von der arabischen Halbinsel stammen, eine solche Tat geplant und begangen? Die Hauptgründe liegen sicher in der umfassenden Krise im westlichen Asien. In mehreren Ländern der Region ist die Staatsgewalt stark geschwächt oder ganz zusammengebrochen, etwa im Libanon in den 1970er- und 1980er-Jahren, danach inAfghanistan und im Jemen. Gerade in Ländern, wo die Regierung die Kontrolle über beträchtliche Teile des staatlichen Territoriums eingebüßt hat oder sie mit autonomen bewaffneten Gruppen wie al-Qaida teilen muss, gedieh eine Kultur der Gewalt und der revolutionären Demagogie.
Hinzu kommt, dass sich die Konflikte in Afghanistan, dem Irak und Palästina, die historisch durchaus getrennte Wurzeln haben, über die letzten Jahre immer stärker ineinander verwoben haben. Die militanten Kräfte – säkulare Nationalisten wie Saddam Hussein und Islamisten wie Ussama Bin Laden – sehen im Widerstand gegen den Westen und seine regionalen Verbündeten ein gemeinsames Projekt. In der Verknüpfung dieser Krisen sehen diese militanten Gruppen eine Chance, Unterstützung für ihr Hauptziel zu mobilisieren, und das lautet: in ihren eigenen Ländern an die Macht zu gelangen.
Die Aktion vom 11. September zielt also nicht in erster Linie auf die Macht der USA oder auf einen Feind in Gestalt der „zivilisierten“ oder „demokratischen“ Welt, sondern auf die Staaten des Nahen Ostens selbst. Bin Laden stellt mit seinen regressiven sozialen und politischen Ideen, die sich besonders gegen Frauen und schiitische Muslime richten, vor allem für diese Staaten eine Bedrohung dar.
Besondere Aufmerksamkeit verdient in dieser Hinsicht die arabische Halbinsel. Auf den ersten Blick herrschen in der Region stabile, wenn auch autoritäre Regime, die sich auf ihren Ölreichtum und die Sicherheitsgarantien des Westens stützen. Doch in den letzten Jahrzehnten hat es hier auch eine Reihe von Aufständen gegeben: die Revolution im Jemen von 1962, zwei Revolten in Oman (von Nationalisten in den 1950er-Jahren, von Marxisten-Leninisten 1965–1975), Wellen islamistischer Offensiven in Saudi-Arabien und jüngst anhaltende Massenproteste in Bahrain. Die Gefühle der jungen Leute in Saudi-Arabien und den anderen Staaten werden zwar durch die Konflikte in der gesamten islamischen Welt beeinflusst, aber besonders stark durch die Opposition gegen die jeweiligen Herrscherfamilien. Nach dem aktuellen Informationsstand stammen die meisten Aktivisten der Terrorgruppe aus den Provinzen Asir und Baha im Südwesten Saudi-Arabiens oder aus dem Jemen. Es ist wohl kein Zufall, dass der Jemen strukturelle Ähnlichkeiten mit Afghanistan aufweist: Auch hier ist der Staat nur schwach entwickelt, auch hier wurde eine gewalttätige islamistische Miliz gegen die Linke mobilisiert, in diesem Fall gegen die Sozialistische Partei des Südjemen.
Die zweite große Frage, die der 11. September in den Mittelpunkt rückt, ist die nach der Gewalt und dem ihr verwandten Phänomen „Terrorismus“. Hier begegnen wir zwei weit verbreiteten und gefährlichen Argumentationsweisen. Auf der einen Seite halten die Täter vom 11. September – und die von anderen gewaltsamen Angriffen gegen die Zivilbevölkerung – extreme Gewaltmittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele für gerechtfertigt. Auf der anderen Seite sind viele Regierungen in der Welt, und nicht nur im Nahen Osten, wie die Russen bezüglich Tschetschenien, der Meinung, dass exzessive Gewaltanwendung zur Verteidigung ihres eigenen Staates gerechtfertigt sei.
In diesem Zusammenhang geht es nicht an, mit willkürlichen Definitionen zu operieren. Die Verurteilung des Terrors vom 11. September durch George W. Bush legt es für so manche anderen nahe, auf Bush selbst und seine Vorgänger zu verweisen, insofern sie Gruppen (die afghanischen Mudschaheddin, die nicaraguanischen Contras, in jüngster Zeit die Rebellen im südlichen Sudan) unterstützt haben, die von vielen als Terroristen angesehen werden. Aber auch die Linke hat in dieser Frage lange ziemlich lax mit beliebigen Kriterien hantiert. Gewiss wird in allen Kulturen und in allen Staaten das Prinzip des gerechten Widerstands gegen Unterdrückung akzeptiert. Und alle befürworten gleichermaßen – wie die UN-Charta – das Selbstverteidigungsrecht von Staaten. Auch sei daran erinnert, dass das Wort „Terrorismus“ in seinem ursprünglichen Kontext – dem der Französischen und der Russischen Revolution – keineswegs die Taktik von Rebellen bezeichnet, sondern ein Instrument staatlicher Politik. Allerdings gibt es weithin akzeptierte Prinzipien, die einschränkend definieren, welche Art von Gewalt seitens des Staates wie der Dissidenten legitimerweise angewandt werden darf. Solche Prinzipien sind teils Resultat historischer Diskussionen, teils sind sie im Völkerrecht einschließlich der Genfer Konventionen niedergelegt.
Die Möglichkeit, den Einsatz von Gewalt in solchen Kategorien zu diskutieren, wird freilich von denen bestritten, die von einem „Kampf“ der Kulturen und von der Unvereinbarkeit westlicher und islamischer Werte reden. Dies ist unser drittes großes Thema. Dabei ist besagte These nicht bloß ein Produkt westlicher Feindseligkeit gegenüber dem Islam oder ein Stigma, das den Muslimen angeheftet wird. Es gibt etliche – und man muss sagen: zu viele – Menschen in der muslimischen Welt wie auch in den muslimischen Gruppen Westeuropas, die diese Demagogie selbst verbreiten – und die auf die Ereignisse des 11. September auch spontan in diesem Geiste reagiert haben. Ihnen passen die leichtfertigen Analysen von Samuel Huntington genauso ins Konzept wie vielen Nationalisten des Westens.
Dabei wird die Kontroverse nicht dadurch entschieden, dass man den Kampf der Kulturen beschwört oder in heiligen Schriften nach Zitaten für oder gegen Gewalt und Widerstand herumstöbert. Menschen, die gezielt danach suchen, werden in allen Religionen der Welt Textstellen und Präzedenzfälle ausfindig machen, die Gewalt, Terror und die sinnlose Opferung einzelner Menschen legitimieren. Weil das so ist, wurde das Instrument des Terrorismus in der Neuzeit von vielen Religionsanhängern benutzt: von katholischen Sinn-Féin-Attentätern und hinduistischen Meuchelmördern, von zionistischen Todesschützen, buddhistischen Fanatikern und islamistischen Terroristen. Und weil das so ist, sind auch die wohl gemeinten Projekte des „Dialogs“ zwischen den Religionen und Kulturen unzureichend, für die sich in den letzten Jahren viele Menschen im Westen und in der muslimischen Welt eingesetzt haben. Koexistenz ist gewiss besser als Krieg, aber sobald man die fundamentalen Differenzen und Legitimitätsansprüche von Religionen und Kulturen anerkennt – also implizit die Legitimität all der zumeist bärtigen alten Männer, die sie interpretieren – hat man sich argumentativ in einem Spinnennetz verfangen.
Der kategoriale Rahmen, in dem diese Fragen – also Konflikte und Differenzen zwischen Staaten – angegangen werden müssen, ist keinesfalls der von Kulturen oder Zivilisationen. Es ist vielmehr der Rahmen universaler Werte, die im Völkerrecht und in den Prinzipien der UN-Charta niedergelegt sind. Das Völkerrecht macht keinen Unterschied zwischen westlichen und anderen Völkern, und es enthält sich der ausschließenden Sprache, die zu viele Politiker und Geistliche seit dem 11. September im Mund führen. Es gibt allerdings eine andere „kulturelle“ Frage, die in den aktuellen Diskussionen eine Rolle spielt, wenn auch nur rudimentär und andeutungsweise. Diese unsere vierte große Frage betrifft nicht die Einstellung zum Osten, zur islamischen Welt, sondern die zum Westen, zu den USA. Das Thema wird uns in der nächsten Zeit so intensiv beschäftigen wie unsere Beziehungen zur muslimischen Welt. Es hat uns ja bereits in den Kontroversen über alle größeren internationalen Krisen der letzten Jahre, von Kuwait bis zum Kosovo, begleitet.
Die Vereinigten Staaten sind ein Land mit politischen Verhältnissen im Innern und politischen Verhaltensweisen nach außen, die zu Kritik und Empörung herausfordern, und zwar nicht selten völlig zu Recht. Man denke nur an Vietnam und Nicaragua, an die mangelnde Anerkennung der Rechte der Palästinenser, an die Politik gegenüber Kuba, an die so absurden wie tödlichen Waffengesetze, an die unverantwortliche Rolle der Medien und die heimtückische Rolle der Religion, an die Rolle des Geldes im öffentlichen Leben und vieles mehr. Aber solche Kritik muss mit der Anerkennung dessen einhergehen, was dieses Land für die Welt als Ganzes bedeutet und auch künftig bedeuten wird. In Westeuropa und anderswo sind die Debatten über die USA leider allzu oft durch etliche denkfaule Vorurteile gekennzeichnet, die sich in Europa eher herablassend, in weiten Teilen der Dritten Welt aber maßlos demagogisch und hasserfüllt artikulieren.
Bei all ihren Fehlern und Mängeln sind die USA heute das reichste Land, das es je gegeben hat. Das Land, in das viele Menschen, ja vielleicht die Hälfte der Menscheit, nur zu gerne auswandern würden, von dessen Vitalität auf vielen Gebieten, von der Musik bis zur Medizin, die anderen nur lernen können. Und in vielen Bereichen hat es eine Bilanz vorzuweisen, die für Westeuropa blamabel ausfiele, zum Beispiel auf dem Gebiet der Gender- und der Einwanderungspolitik. Besonders heftig waren die Diskussionen in jüngster Zeit über den Militarismus und die Kriegsbegeisterung der USA. Doch wenn wir einmal das Stichwort „Cowboy-Kultur“ beiseite lassen, handelt es sich hier um einen reinen Mythos. Keine andere Großmacht hat in der Geschichte derart vorsichtig und zurückhaltend agiert wie die USA. In den Zweiten Weltkrieg ließen sie sich 1941 genauso unfreiwillig hineinziehen wie 1995 in den Bosnienkrieg. Im Übrigen kommt die Empörung über die aggressive Mentalität der USA seltsamerweise aus Ländern, die nicht unbedingt auf die friedfertigste Geschichte zurückblicken: aus Großbritannien und Frankreich, die halb Asien und Afrika unterjocht hatten, oder aus Russland und China, ganz zu schweigen von Deutschland, Italien und Japan.
Präsident Bush mag sich in den kommenden Wochen an seinem Ehrgeiz überheben. Und in jedem Fall hat er sich unklugerweise ein unerreichbares strategisches Ziel vorgenommen. Aber die Welt braucht das politische Engagement der Amerikaner. Wer mit der Politik der US-Regierung nicht einverstanden ist, muss mit den progressiven internationalistisch denkenden Kräften innerhalb der USA zusammenarbeiten, statt das Feld den Isoliationisten zu überlassen, die jetzt in Washington ohnehin Oberwasser haben werden. Historische und politische Analogien sind immer unzureichend. Deshalb ist es in Zeiten wie diesen stets verführerisch, auf überhistorische Texte, auf weltlich interpretierte religiöse oder auf literarische Aussagen zurückzugreifen. Christliche Fundamentalisten haben sich auf Armageddon, die letzte Schlacht vor dem Jüngsten Gericht, berufen, die uns natürlich nicht bevorsteht. Auch im Koran gibt es eine Sure (sura al-zalzal), die von einem schrecklichen Erdbeben spricht, das der Ankunft des Guten und der Bestrafung der Übeltäter vorausgeht. Mir scheint angesichts der globalen Auswirkungen des 11. September ein anderes Zitat besonders angemesssen, schon um dem Unfug vom Kampf der Kulturen entgegenzuwirken, von dem jetzt im Osten wie im Westen die Rede ist. Ich denke an den Satz von John Donne: „Niemand ist eine Insel.“ Für die heutige Situation könnte man in Anlehnung an Donne hinzufügen: „Frag nicht, wer New York in Brand gesteckt hat. Es brennt für uns alle.“
aus dem Engl. von Niels Kadritzke
* Professor für internationale Beziehungen an der London School of Economics, Autor u. a. von „The World at 2000: Perils and Promises“ (Hampshire 2000) und „Theories of Nationalism: A Critical Introduction“ (New York 2000). Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe.