Grauzonen einer globalen Welt
Von MARWANBISHARA *
DIE USA befinden sich im Krieg! Am 11. September 2001 ist Amerikas schlimmster Albtraum Wirklichkeit geworden. Paradoxerweise geschah dies zu einem Zeitpunkt, als die US-Regierung gerade eine Zero-Dead-Strategie für künftige Konflikte verkündet hatte. Was bedeutet: maximaler Schaden für den Feind bei minimalen Opfern auf Seiten der USA.
Amerika befindet sich im „Krieg“, erklärt Präsident Bush. Doch der neue Feind ist kein Staat. Er ist vielmehr mobil, transnational (oder subnational) und anonym. Es handelt sich um gesichtslose Täter ohne festen Wohnsitz, und sie fühlen sich weder an die Normen der UN-Charta gebunden noch irgendeiner irdischen Autorität rechenschaftspflichtig.
Jahrzehntelang hat Amerika Billionen von Dollar ausgegeben, um in künftigen Konflikten die Zahl der Opfer zu verringern. Im Vietnamkrieg kostete jeder tote US-Soldat noch hunderttausende Dollar. Indem man danach zwanzig Jahre lang weitere Billionen ausgegeben hat, konnte man die eigenen Menschenverluste im Golfkrieg auf ein Minimum reduzieren. Die Powell-Doktrin – massive Luftschläge aus sicherer Entfernung – versprach für künftige „symmetrische“ Kriege schnelle Siege ohne eigene Verluste (zero casualties), dank überlegener Technologie in Gestalt von Marschflugkörpern und Kampfflugzeugen.
Jetzt haben Flugzeugentführer, mit Taschen- und Teppichmessern ausgerüstet und bereit, für ihre Sache zu sterben, vier vollgetankte Zivilflugzeuge in hochexplosive Geschosse verwandelt. Das ist nicht die Schlacht, für die sich die USA gerüstet hatten. Und doch haben einige amerikanische Strategen bereits seit Jahren gerade vor Szenarien eines „asymmetrischen Krieges“ gewarnt, der auf die verwundbarsten Punkte der USA zielt: auf die Tatsache, dass die militärische und ökonomische Supermacht nur wenige eigene Opfer verkraftet (egal ob an Zivilisten oder an Soldaten), und auf die Symbole seiner Macht – die Wall Street und Washington.
Das Ende des Kalten Krieges zwang Washington, seine Abschreckungsstrategie zu überdenken und sich auf neue Gefahren einzustellen. Dabei bildeten sich zwei unterschiedliche Denkschulen heraus. Die erste sprach von einer vierten Generation der Kriegführung, auch „staatenloser“ oder asymmetrischer Krieg genannt. Sie richtet sich gegen einen Feind, dessen Basis womöglich nicht ein Staat, sondern eine Ideologie oder eine Religion ist. Damit wären Leute wie Bin Laden und andere international agierende Terroristen gekennzeichnet, aber auch Mafiamitglieder und Drogenhändler oder andere nichtstaatliche Akteure, die den USA etwa in Somalia, im Kosovo und in den 1980er-Jahren schon im Libanon entgegengetreten waren. Die Vertreter dieser Schule fragten, was es bringt, Milliarden von Dollar für neue Kampfflugzeuge und hoch entwickelte Fregatten auszugeben, wenn zwei Menschen und ein Boot ausreichen, um eine Fregatte der US Navy anzugreifen und 17 Mann zu töten. Gegen Gegner vom Typ der vierten Generation seien hoch technologische Waffen wirkungslos.
Die zweite Schule konzentrierte sich auf ein Raketenabwehrsystem, das die USA vor ballistischen Raketen mit chemischen, biologischen oder nuklearen Waffen schützen soll. Die Bush-Administration setzte auf dieses zweite Konzept, das den militärisch-industriellen Komplex begünstigt, für den sich Regierungsmitglieder wie Cheney, Rumsfeld und Powell stark machen. Um die internationale Kritik zu entkräften – etwa wegen der Kündigung des Atomwaffensperrvertrags –, erklärte Bush allerdings, der Raketenabwehrschirm solle nicht gegen Atommächte schützen, sondern gegen gewisse „Schurkenstaaten“, aber auch gegen Gruppen, die US-Ziele innerhalb wie außerhalb der USA mit Raketen beschießen könnten.
Beide Denkrichtungen schienen in einer kohärenten Strategie für den neuen Krieg gegen den asymmetrischen Feind zusammenzulaufen. Doch gegen wen soll der Raketenabwehrschirm schützen? Warum sollten zum Beispiel die so genannten Schurkenstaaten eine Rakete gegen die USA richten, wenn sie eine ähnliche Bestrafung zu erwarten hätten wie Libyen oder der Irak in den letzten Jahren?
Weitere Fragen bleiben unbeantwortet. Wie weit hat sich Amerika seine Feinde selbst geschaffen? Wie bedrohlich sind diese Feinde, unabhängig von den Terroristen vom 11. September? Was unterscheidet diese Attentate von früheren Terrorangriffen auf arabische, französische oder britische Ziele? Was bedeutet bei den unterschiedlichen Formen des Terrorismus jeweils die Kategorie „asymmetrisch“?
Asymmetrie ist etwas anderes als Dissymmetrie, also die quantitative Differenz hinsichtlich Macht bzw. Waffenstärke. Asymmetrie meint die qualitativen Merkmale hinsichtlich des Wertsystems, der Mittel und des Stils, die den neuen Feind auszeichnen. Asymmetrie kann auch als Resultat von Disymmetrie gesehen werden: Wenn die USA auf ihrer exklusiven Überlegenheit – auch in der konventionellen Kriegführung – bestehen, greifen ihre unterlegenen Feinde und Opfer auf unkonventionelle oder asymmetrische Mittel zurück. Der asymmetrische Feind tritt nicht in Gestalt einer typischen Staatsarmee an. Er stellt sich dem übermächtigen Gegner nicht, vielmehr greift er bedenken- und gnadenlos dessen Schwachstellen an. Er kämpft klandestin gegen besonders verletzliche Ziele oder in belebten Stadtzentren, und zwar mit allen tödlichen Waffen, die er sich verschaffen kann.
Wie US-Strategen schon vor dem 11. September erkannt haben, fusioniert in der Strategie des asymmetrischen Feindes eine Glaubenslehre oder Ideologie mit hochtechnologischen Mitteln. Der neue asymmetrische Feind denkt strategisch im Kontext der globalisierten Welt. Er benutzt die globalen Transportmittel, das Internet dient ihm als Instrument im Informationskrieg. Da er bereit ist, sein Leben zu opfern, genügen ihm einfachste Gewaltmittel: Messer und selbst gebastelte Sprengstoffe statt hoch entwickelter Waffen; eine entführte Passagiermaschine statt Kampfflugzeugen. Ein Gegner, der auf solche Instrumente setzt, ist schwer einzuschätzen und zu bekämpfen, gegen ihn bleiben Vorbeugung und Abschreckung unwirksam.
Selbst wenn sich ein solcher Feind geografisch lokalisieren lässt, ist er kaum einzuordnen oder zahlenmäßig zu erfassen. Er verfügt über ein weitmaschiges Netzwerk und hat keine permanente Anschrift. Auch in diesem Punkt ist er ein Produkt der Globalisierung. Wie bei multinationalen Konzernen, Mediengurus und Internetgiganten ist das Operationsgebiet des asymmetrischen Feindes die ganze Welt. Die Selbstmordbomber von New York und Washington lebten an verschiedenen Orten, benutzten verschiedene Adressen und eine Vielzahl gefälschter Pässe.
Die asymmetrischen Gegner – also weltweite terroristische Netzwerke, aber auch internationale Drogenhändler und Mafiabanden – verfolgen alle dasselbe Interesse: Sie wollen die souveränen Staaten schwächen und ihre Macht auf den internationalen Märkten stärken. Man könnte sogar sagen, dass sie einiges mit McDonald’s, CNN und AOL gemeinsam haben. Sie alle agieren in den Grauzonen einer globalisierten Welt, wo sie ihre Gewinne maximieren können, ohne irgendwelchen Gesetzen verantwortlich zu sein, denn auf globaler Ebene mangelt es an konstitutioneller bzw. demokratischer Legitimität. Sie alle sind in gewisser Hinsicht die neuen Produkte der neoliberalen Version von Globalisierung.
Der asymmetrische Feind ist also die Kehrseite des globalen Prozesses, der grenzübergreifende Wirtschaftsräume schafft. Aus diesem Grund hat Bin Laden in den US-Medien nicht nur das Image des „politischen Islamisten“, der sich auf eine bestimmte Gesellschaft beschränkt. Vielmehr wird seine Organisation als neuer Typus eines kosmopolitischen Islam wahrgenommen. In den Augen der USA sind diese Bewegungen entschlossen, die westliche Hegemonie anzufechten, zu schwächen oder sogar die USA zu besiegen.
Gibt es eine wasserdichte Trennung zwischen dem „asymmetrischen Feind“ und staatlichen Systemen und ihren Geheimdiensten? Ist es tatsächlich machbar, eine neue Bewegung der „internationalen Gewalt“ ohne staatliche Unterstützung und geografische Verankerung zu organisieren? Wie dieser neue Feind seine Operationen fast „virtuell“ durchführen soll, ist völlig unklar. Auch Ideologien brauchen als Operationsbasis ein geografisches Territorium, kommen nicht ohne logistische Strukturen aus. Dieser neue Feind kann nicht über einen längeren Zeitraum völlig verdeckt agieren.
Aus Sicht der USA gibt es noch andere Formen von Asymmetrie, verkörpert durch so genannte Schurkenstaaten oder auch gescheiterte Staaten. Ein Beispiel ist Somalia, wo die USA 1992–93 in Sachen asymmetrischer Konflikte sozusagen ihr Urerlebnis hatten. Im Oktober 93 wurden 17 amerikanische Soldaten von Milizen des Generals Aidid getötet. Die Fernsehbilder, die zeigten, wie sie durch die Straßen von Mogadischu geschleift wurden, brachte die Clinton-Administration zu der Einsicht, dass ein Krieg gegen eine stammesmäßig organisierte Miliz, die das Gebot der Fairness missachtet und sich an keinerlei internationale Konventionen hält, weder zu führen noch zu gewinnen ist. Ähnlich bittere Erfahrung hatten die USA bereits 1983 im Libanon gemacht.
Wie lässt sich aus Sicht der USA ein asymmetrischer Feind bekämpfen? Die Antwort lautet: Von Israel lernen! Die Bekämpfung des asymmetrischen Feindes erfordert vor allem mobilere, präzisere, intelligentere militärische Hardware, etwa neue Präzisionsschusswaffen von absolut tödlicher Wirkung. Auch empfehlen die US-Strategen die Verstärkung der Geheimdienste nicht nur durch raffiniertere Überwachungssoftware und Spionagesatelliten, sondern auch durch menschliche Intelligenz, also etwa die Kooperation mit der Polizei, um Täterprofile nach ethnischen Kriterien zu ermitteln. Die nachrichtendienstliche Arbeit soll sich auf das Spektrum potenzieller Unterstützer des neuen Feindes richten: auf NGOs, karitative Einrichtungen, Emigrantenvereinigungen, Internetsites usw. Aber auch für das ersehnte Raketenabwehrsystem finden sich Argumente: Man weiß ja nie, welches Ziel der asymmetrische Teufel für seinen nächsten Anschlag aussuchen wird. Washington arbeitet mit seinem israelischen Verbündeten schon lange an dem Raketenabwehrsystem „Arrow“ und an anderen Programmen zur asymmetrischen Kriegführung. Insgesamt haben der Kampfstil und die militärischen Fähigkeiten der Israelis das Interesse der US-Experten an asymmetrischer Kriegführung geweckt.
General Wesley Clark, ehemaliger Nato-Oberbefehlshaber, analysierte unter dem Titel „Wie man einen asymmetrischen Krieg führt“ im Time Magazin die Intifada. Die Palästinenser hätten gelernt, mit nicht tödlichen Waffen wie Steinen und Knüppeln Widerstand zu leisten, womit sie die israelischen Geheimdienste zu Überreaktionen zwingen, um die internationale Öffentlichkeit aufzurütteln. Auf so einen Feind, der bewaffnete Soldaten unter die Steinewerfer mische und auch zum Bombenterror greife, könne man unmöglich mit Kampfflugzeugen, Panzern und Artillerie reagieren. Der Einsatz von Bodentruppen wiederum würde Todesopfer kosten, wozu keine Gesellschaft weniger bereit sei als die israelische.
Israels Antwort seien also neue Waffen, neue Kräfte und eine neue Taktik. Zum Beispiel bessere Panzer- und Truppentransportfahrzeuge zur Sicherung seiner Grenzen, aber auch Apache-Helikopter und unbemannte Flugzeuge; Plastikgeschosse für israelische Infanteristen, die gegen die Straßenaufstände eingesetzt werden; Spezieleinsatzgruppen an der Seite der konventionellen Sicherheitskräfte. Clarks Bewunderung für die militärischen Fähigkeiten der Israelis, die über 600 Menschen getötet und Tausende verletzt haben, klingt erschreckend. Zumal dieser Gewalteinsatz inzwischen jeder Logik entbehrt, weil es Israel – insbesondere mangels einer politischen oder diplomatischen Alternative – nicht gelungen ist, die Palästinenser abzuschrecken.
Auch Anthony Cordesman, Verteidigungsanalytiker im Center for Strategic International Studies, bewundert die Strategie Israels in dem „asymmetrischen Konflikt“ mit den Palästinensern. Mit diesem Begriff bezeichnet er eine Situation, in der die Israelis die „schmutzige Arbeit“ der Intifada-Unterdrückung für – und gegen – die Palästinensische Autonomiebehörde erledigen müssen.
Natürlich kann man den Widerstand der Palästinenser in Palästina gegen die Okkupation nicht mit dem New Yorker Anschlag gleichsetzen. Ariel Scharons Vergleich zwischen Bin Laden und Jassir Arafat stieß überall auf taube Ohren, außer in Amerika. Dennoch sehen die Israelis ihre eigenen bewaffneten Aktionen in dem asymmetrischen Konflikt namens Intifada als gerechtfertigt an. Aus der Redeweise von Bush ist heute ziemlich eindeutig herauszuhören, dass sich die USA auf eine asymmetrische Kriegführung nach israelischem Muster einstellen, obwohl die israelische Strategie in Palästina gescheitert ist.
Wenn sich die Gemüter in New York, im Westjordanland (und in Afghanistan?) irgendwann beruhigt haben, werden wir allerdings erkennen, dass der Kampf gegen den Terrorismus nicht nur eine Sache des Militärs und der Nachrichtendienste ist. Malaria bekämpft man nicht, indem man ein paar lästige Mücken erledigt. Man muss vielmehr Massenimpfungen vornehmen und die Sümpfe trockenlegen. Man muss sich das Leid der isolierten, unterdrückten und ausgeschlossenen Menschen vor Augen halten, wenn man den Terroristen potenzielle Anhänger und Sympathie entziehen will. Dissymmetrie ist am ehesten zu beheben, wenn man die globale Ungleichheit und die Ausschließung ganzer Völker bekämpft. Mehr Gewalt wird nur weitere Gewalt erzeugen.
dt. Bodo Schulze
* Wissenschaftler an der École des Hautes Études en Science Sociales, Dozent an der American University in Paris. Sein letztes Buch, „Palestine Israel: Peace or Apartheid“, erschien bei La Découverte, Paris, und Zed Press, London.