Die Ströme der Bitterkeit
VonTARIQ ALI *
UNAUFHÖRLICH wird die Welt von Monstern und Ängsten heimgesucht, die vom Imperium der USA ausgehen, das sich diese Welt noch immer nicht völlig untertan gemacht hat. Eines dieser Monster, welches seit dem Ausbruch der jüngsten Krise erneut durch die Fernsehstudios geistert, ist die Gefahr, die, wie es heißt, „unserer weltumspannenden, kapitalistischen Kultur durch diese Barbaren droht“. Von „unserer bedrohten Kultur“ redet nicht nur der amtierende US-Präsident, sondern auch ehemalige Mitglieder der Regierung Clinton.
1993 veröffentlichte Samuel Huntington, unter der Regierung Johnson ein Experte für die Unterdrückung aufständischer Bewegungen im Ausland, sein berüchtigtes Buch „The Clash of Civilizations“. Huntington war damals Leiter des Institute for Strategic Studies an der Harvard University, und sein Buch war eine Polemik gegen einen anderen Theoretiker im damaligen Außenministerium: gegen Francis Fukuyama und dessen These vom „Ende der Geschichte“. Die endgültige Niederlage der Sowjetunion habe zwar, so Huntington, den ideologischen Disputen ein Ende gesetzt, damit sei man aber keineswegs am Ende der Geschichte angelangt. Fortan werde die Weltpolitik nicht mehr durch die Politik oder die Wirtschaft bestimmt, sondern durch Konflikte auf der Ebene der „Kulturen“.
Huntington nannte acht Kulturen: die westliche, die konfuzianische, die islamische, die hinduistische, die slawisch-orthodoxe, die lateinamerikanische und die afrikanische. Jede dieser Kulturen verkörpere, so Huntington, unterschiedliche Wertsysteme, die in ihren Religionen symbolischen Ausdruck fänden; Religion aber sei „vielleicht die wichtigste Kraft, die den Menschen motiviert und mobilisiert“. Die entscheidende Kluft sah er jedoch zwischen dem Westen und dem Rest der Welt. Denn nur der Westen schätze „Individualismus, Liberalismus, Verfassungstreue, Menschenrechte, Gleichheit, Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie und freie Märkte“. Daher müsse sich der Westen (oder genauer die USA) militärisch auf Bedrohungen von Seiten der anderen Kulturen vorbereiten. Als größte Gefahren sah er natürlich den Islam und den Konfuzianismus (sprich die Abhängigkeit von arabischem Öl und chinesischen Exporten). Sollten diese beiden „Kulturen“ je gemeinsame Sache machen, wäre nach Huntington die Kernkultur des Westens in akuter Gefahr. Daraus folgte für ihn der düstere Schluss: „Die Welt ist nicht geeint. Kulturen haben die Menschen geeint und gespalten. [. . .] Es sind Rasse und Glaube, womit sich Menschen identifizieren, wofür sie zu kämpfen und zu sterben bereit sind.“ Ussama Bin Laden würde sich dieser Sicht der Dinge problemlos anschließen.
Politiker und Ideologen in Washington und anderswo nutzten diese einfach gestrickte Analyse zur wirkungsvollen Tarnung. Weil ein Großteil des weltweit verbrauchten Öls aus dem Iran, dem Irak und aus Saudi-Arabien stammt, galt der Islam als größte Bedrohung. Als Huntington sein Buch schrieb, war die Islamische Republik Iran vierzehn Jahre alt. Der Golfkrieg und seine Folgen haben den Irak gesellschaftlich, wirtschaftlich und militärisch in die Knie gezwungen, während Saudi-Arabien als eine Insel des Friedens überlebt, weil seine Monarchie sich auf US-Truppen stützen kann. Dagegen sorgte die „westliche Kultur“ (in diesem Fall im Verein mit der konfuzianischen und der slawisch-orthodoxen) für den schleichenden Tod von 300 000 irakischen Kindern, denen es aufgrund der UN-Sanktionen am Nötigsten fehlte – vor allem an Nahrung und Medikamenten.
Es gibt zwei grundlegende Einwände gegen Huntington und alle, die mit seinem „Kultur“-Begriff Kriegshetze treiben. Erstens war die islamische Welt in den letzten tausend Jahren kein Monolith. Die gesellschaftlichen und kulturellen Unterschiede zwischen Muslimen in Senegal, China und Indonesien, im arabischen Raum und in Südasien sind viel größer als die zwischen diesen Muslimen und ihren andersgläubigen Landsleuten. Zweitens hat die islamische Welt in den letzten hundert Jahren genauso ihre „heißen“ Kriege und Umwälzungen erlebt wie alle anderen Gesellschaften. Der über fünfzig Jahre währende Kalte Krieg zwischen den imperialistischen USA und der Sowjetunion ließ keine „Kultur“ dieser Welt unberührt. Kommunistische Parteien entstanden im protestantischen Deutschland, im konfuzianischen China wie im muslimischen Indonesien. Wie überall im Europa der Zwischenkriegszeit waren auch in der arabischen Welt die Intellektuellen gespalten: Die einen erlagen dem kosmopolitischen Reiz eines aufklärerischen Marxismus, die anderen dem reaktionären Populismus eines Mussolini und Hitler. Den heutigen Fundamentalismus kann man durchaus als muslimisches Pendant zum Front National in Frankreich oder zu Neofaschisten in der italienischen Regierung sehen. Nicht zufällig wird Alexis Carrel, ein Propagandist Petains, von radikalen islamischen Vordenkern ebenso eifrig studiert wie im politischen Lager Le Pens.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterstützten die USA die reaktionärsten Elemente des vorhandenen Spektrums, denn diese galten als Bollwerk gegen den Kommunismus und gegen jeden fortschrittlichen Nationalismus. Ihre Verbündeten rekrutierten sie oft genug unter den religiösen Fundamentalisten. Die USA unterstützten die Muslimische Bruderschaft gegen Nasser, die Organisation Sarekat Islam gegen Sukarno in Indonesien, den Dschamaat-i-Islami gegen Bhutto in Pakistan und am Ende Ussama Bin Laden und andere gegen den säkularkommunistischen Nadschibullah. Letzterer wurde von den Taliban aus seinem Versteck gezerrt und getötet. Seiner Leiche stopfte man Penis und Hoden in den Mund, dann wurde sie in Kabul öffentlich aufgehängt. Kein westliches Staatsoberhaupt hat dazu ein kritisches Wort geäußert.
Nur im Irak und im Iran funktionierte diese Strategie nicht. Im Irak der Sechzigerjahre gab es kein Potenzial für die Schaffung eines religiös motivierten Widerstands. Die Kommunistische Partei war die wichtigste gesellschaftliche Kraft. Um ihren Sieg zu verhindern, unterstützten die USA den Banditenflügel der Baath-Partei dabei, zuerst die Kommunisten und dann die Gewerkschaften der Ölarbeiter auszuschalten. Dafür wurde Saddam Hussein vom Westen mit Waffen und Handelsverträgen belohnt – bis er sich mit seinem Kuwait-Abenteuer fatal übernahm.
Im Iran unterstützte der Westen einen despotischen Schah, der die Rechte des Volkes mit Füßen trat und die Kommunisten der Tudeh-Partei mit einer Mischung aus brutaler Folter und Vertreibung bekämpfte. Der islamische Klerus machte sich das gesellschaftliche Vakuum zunutze und dominierte die Massenbewegung zum Sturz des Schahs.
In den ölreichen arabischen Ländern verfolgte der Westen eine Doppelstrategie. Die erste konzentrierte sich auf Saudi-Arabien – einen Staat, den der US-Ölkonzern Aramco zur Wahrung seiner Interessen erfunden hatte. Als der bittere Bürgerkrieg innerhalb der Stammesföderation mit dem Sieg der Familie al-Saud endete, gelangte damit der Wahhabismus, eine besonders rabiate und puritanische Variante des Islam, an die Macht. Er stammt aus dem 18. Jahrhundert, und seinen Gründer Ibn Abdul Wahhab darf man sich als muslimischen Vorfahren des nordirischen Reverend Ian Paisley oder der irren fundamentalistischen Fernsehprediger in den USA vorstellen. Wahhab predigte den permanenten Dschihad gegen gemäßigte islamische Reformer und Ungläubige. Er erlangte die Gunst des örtlichen Herrschers Mohammed Ibn Saud, dem der heilige Eifer ins Konzept seiner militärischen Eroberungspläne passte. Heute ist der Wahhabismus in Saudi-Arabien Staatsreligion. Dank der Einnahmen aus dem Ölgeschäft wird er in die ganze Welt exportiert und wirkt in vielen muslimischen Gesellschaften als Humus für den Extremismus. Das gilt auch für Pakistan und seine Koranschulen, in denen sich die Taliban formierten. Doch der Kopf dieses Kraken ist intakt, und seine Tentakel reichen in alle Ebenen der saudischen Gesellschaft.
Die zweite Strategie des Westens gegenüber dem Islam konzentriert sich auf Israel, den verlässlichsten Nahost-Verbündeten der USA. Historisch gesehen war das Verhältnis zwischen Muslimen und Juden meist relativ entspannt. Im muslimischen Spanien wurden die Juden von den jeweiligen Herrschern beschützt. Saladin rang den Kreuzfahrern Jerusalem ab und brachte Muslime und Juden zurück in die Stadt. Nach dem Sieg der Reconquista in Spanien fanden die Juden Zuflucht und Asyl im Osmanischen Reich. Die nakba des Jahres 1948 sorgte für den ersten wirklichen Bruch zwischen Juden und Arabern. Mit ihrem verdrängten Schuldbewusstsein gegenüber den vertriebenen Palästinensern wurden die zionistischen Führer immer kriegerischer, arroganter und fanatischer – sowohl 1956 als auch 1967, und so verhalten sie sich auch heute.
Der Westen tut nichts, um einen lebensfähigen und unabhängigen palästinensischen Staat zu garantieren, weil er seinen militärischen Arm in der Region nicht schwächen will. Das ist der tief sitzende Grund für die Unzufriedenheit vieler Menschen in Ägypten und Saudi-Arabien – also in den Ländern, aus denen die Flugzeugentführer stammten. Die Politik des Westens und die doppelten Maßstäbe, die ihr zugrunde liegen, sind eine der Wurzeln der gegenwärtigen Krise. Ein neuer Krieg würde lediglich bewirken, dass die Ströme der Bitterkeit über die Ufer treten.
aus dem Engl. von Herwig Engelmann
* Pakistanischer Schriftsteller, lebt in London.