Der Gegner
Von IGNACIO RAMONET
WIR schreiben den 11. September. Einige Flugzeugpiloten verlassen den vorgesehenen Kurs und steuern zu allem entschlossen aufs Stadtzentrum zu. Im Visier haben sie die Symbole einer verhassten Gesellschaftsordnung. Kurz darauf Explosionen, berstende Fassaden, Gebäude, die in einem Höllenlärm zusammenstürzen, staubbedeckte Überlebende, die sich zu retten versuchen. Die Medien übertragen die Tragödie live.
New York im Jahr 2001? Nein, Santiago de Chile, anno 1973. Mit tatkräftiger Hilfe der Vereinigten Staaten von Amerika stürzt General Augusto Pinochet den sozialistischen Staatschef Salvador Allende und hetzt die Luftwaffe auf den Präsidentenpalast. Der Angriff, der Dutzende von Toten hinterlässt, ist der Beginn einesfünfzehn Jahre währenden Terrorregimes.
Den unschuldigen Opfern der abscheulichen Attentate von New York und Washington gebührt unser Mitgefühl, den Hinterbliebenen das Mitleid. Doch es läßt sich nicht bestreiten, dass die Viereinigten Staaten – wie jeder andere Staat der Welt – keinesfalls im Stande der Unschuld sind. Waren sie nicht an zahllosen politischen Gewalttaten beteiligt, die gegen das Völkerrecht verstießen und häufig auch klandestin abliefen: in Lateinamerika, in Afrika, im Nahen Osten, in Asien? Gewalttaten mit unzähligen Toten, „Verschwundenen“, Gefolterten, Eingekerkerten und Vertriebenen?
Die Reaktionen der westlichen Staatsführungen und Medien, die sich in proamerikanischen Solidaritätsbekundungen schier überschlagen, sollte diese grausame Realität nicht vergessen machen. In weiten Teilen der Welt, insbesondere in den Ländern des Südens, kam in der öffentlichen Meinung zu den verdammenswürdigen Attentaten häufig ein untergründiges Gefühl zum Ausdruck, das sich auf den Punkt bringen ließ: „Was den Menschen da passiert ist, ist sicher traurig, aber irgendwie haben die es doch verdient.“
Will man eine solche Reaktion verstehen, sollte man sich vielleicht ins Gedächtnis rufen, dass die USA in den Jahren des Kalten Kriegs einen Kreuzzug gegen den Kommunismus führten. Dabei mutete die Kommunistenhatz bisweilen wie ein regelrechter Vernichtungskrieg an. Im Iran wurden Tausende von Kommunisten liquidiert, in Guatemala 200 000 Linksoppositionelle ermordet, in Indonesien kamen fast eine Million Kommunisten ums Leben. In jenen Jahren wurden die finstersten Seiten im Schwarzbuch des US-Imperialismus geschrieben, auf denen nicht zuletzt die Gräueltaten des Vietnamkrieges verzeichnet worden sind.
Schon damals ging es um den Kampf „zwischen Gut und Böse“. Nur galt die Unterstützung von Terroristen aus der Perspektive Washingtons nicht per se als moralisch verwerflich. Der Geheimdienst CIA organisierte im Auftrag der US-Regierung Attentate auf offener Straße, Flugzeugentführungen, Sabotageakte und Meuchelmorde – in Kuba gegen das Regime Fidel Castros, in Nicaragua gegen die Sandinisten, in Afghanistan gegen die sowjetischen Truppen.
Gerade in Afghanistan förderte Washington mit Unterstützung zweier nicht besonders demokratischer Staaten – Saudi-Arabien und Pakistan – in den Siebzigerjahren die Aufstellung islamistischer Brigaden, deren Mitglieder – die so genannten freedom fighters – in der gesamten arabisch-moslemischen Welt rekrutiert wurden. In diesem Zusammenhang engagierte und instruierte die CIA bekanntlich auch den aus Saudi-Arabien stammenden und mittlerweile berühmt-berüchtigten Ussama Bin Laden.
NACH dem Zerfall der Sowjetunion 1991 avancierten die USA zur alleinigen Supermacht und drängten die Vereinten Nationen de facto an den Rand des Weltgeschehens. Sie versprachen eine „Neue Weltordnung“, die gerechter sein sollte als die alte, in deren Namen sie auch den Krieg gegen den Irak unternahmen. Hingegen agierten sie im Nahostkonflikt weiterhin höchst einseitig für die Interessen Israels und zu Lasten der Rechte der Palästinenser. Gegen den Irak hielten sie trotz internationaler Proteste die strikte Embargopolitik durch, die das Regime völlig ungeschoren lässt, aber tausende unschuldige Menschen das Leben kostet. All dies hat die Öffentlichkeit in den arabisch-moslemischen Ländern verbittert und den Boden geschaffen, auf dem ein radikal antiamerikanischer Islamismus gedeihen konnte.
Wie Frankenstein müssen die Vereinigten Staaten nun erleben, wie sich ihr ureigenes Geschöpf Ussama Bin Laden mit wahnsinnigen Gewalttaten gegen sie selbst wendet. Aber der Gegenschlag, den die USA begonnen hat, stützt sich erneut auf die Kooperationsbereitschaft zweier Staaten, die seit dreißig Jahren unentwegt an den weltweiten Netzen des Islamismus weben und bei Bedarf auch vor terroristischen Methoden nicht zurückschrecken: Saudi-Arabien und Pakistan.
Die alten Füchse des Kalten Krieges, die den US-Präsidenten George W. Bush umgeben, sind über die aktuelle Wendung der Dinge zweifellos nicht ganzunglücklich. Schließlich liefern ihnen die Attentate vom 11. September die strategischen Voraussetzungen, die ihnen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor zehn Jahren abhanden gekommen waren. Nun haben sie wieder, was sie brauchen: einen Gegner.
Damit droht sich alles zu wiederholen, einschließlich einer neuen Form der Hexenjagd à la McCarthy – bei der diesmal die Globalisierungsgegner die Zielscheibe abgeben. Wem der Antikommunismus am Herzen lag, der wird auch am Antiislamismus seine Freude haben.