16.11.2001

Kultur als Erfordernis der „Realpolitik“

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Kultur als Erfordernis der „Realpolitik“

VOM Dialog der Kulturen ist dieser Tage die Rede, aber auch vom Ende einer Kultur, die sich monologisierend in die Lust einer globalisierten Welt hineinfantasierte. Weite Teile der Welt sind verelendet, ein Großteil der Erdbevölkerung bekommt nur die Schattenseiten einer solchen Lust zu spüren. Vielleicht ist es weniger die Besinnung auf die eigenen Wurzeln als vielmehr die trotzige Ahnung, es müsse noch anderes geben als die „Transformation des Durstes in ein Bedürfnis nach Coca-Cola“, die dazu führt, dass dieser Tage vermehrt vom Kampf der Kulturen zu hören ist. Offen bleibt, ob wir der Einsicht folgen können, dass Kulturen ihre Stärke erst durch die Begegnung mit anderen Kulturen entfalten.

Von CONSTANTIN VON BARLOEWEN *

Das Ende der starren Umklammerung im Ost-West-Konflikt markiert keineswegs den Neubeginn einer vielleicht gar stabilen Weltordnung, sondern gibt lediglich den Blick frei auf eine grundsätzlich andere Unübersichtlichkeit der Welt. Die Theorie der Modernität zählt hierbei zu jenen Theorien, die universelle Anwendbarkeit anstreben.

Einerseits erleben wir die Globalisierung auf dem Feld der digitalen Kommunikation, der Medientechnologien und der Finanzen, andererseits erleben wir – einem anthropologischen Thermostaten gleich – eine Fragmentarisierung und Balkanisierung im politischen Bereich durch die ethnisch-religiösen Konflikte weltweit, durch die säkularen und religiösen Nationalismen und die fundamentalistischen Prägungen aller religiösen Schattierungen, die Staaten vom Zerfall bedrohen. Wir begegnen neuen Feindbildern in der Geopolitik und der Geokultur: Es ließe sich von einer Ethnisierung der internationalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen sprechen.

Zugleich sind wir Zeuge der Verelendung und wirtschaftlichen Marginalisierung weiter Teile der Welt, in Afrika südlich der Sahara, aber auch in Teilen Lateinamerikas und in Teilen Asiens und des Vorderen Orients. Die Weltpolitik kreist zunehmend um einen archimedischen Punkt: das Verhältnis zum Anderen, die Verknüpfung von Fremd- und Selbstbildern, wobei moderne Identitäten dezentrierter, schließlich disparater werden. Wir sehen ein Aufflammen von kollektiven Identitäten und Konflikten weltweit, die verstärkt kulturell-religiöse Merkmale aufweisen, nachdem das identitätsstiftende Feindbild des Ost-West-Dualismus verschwunden ist. Kulturelle Globalisierung ist heute in den widersprüchlichen Kontext nationalstaatlicher Abgrenzungen und daneben nationenübergreifender politischer, technologischer und wirtschaftlicher Prozesse eingebettet. Es stellt sich die Frage, wie eine Konvergenz zwischen traditioneller kultureller Erinnerung und technologischer Erneuerung, zwischen traditioneller Kultur und Modernisierung aussehen kann.

Die Großakteure der internationalen Politik und Wirtschaft üben auf die außereuropäisch-amerikanische Welt einen vehementen exogenen Modernisierungsdruck aus. Das Phänomen der Modernisierung ist deshalb so konfliktträchtig, weil im Zuge dieser Modernisierung die herkömmlichen wirtschaftlichen Grundlagen und Werte in Frage gestellt werden. Kulturen und Gesellschaften, die den Modernisierungsschüben ausgesetzt sind, geraten verstärkt mit sich in Konflikt. Mentale Brüche steigen eruptiv auf und fordern geradezu das Menschenrecht auf kulturelle Entwicklung. Kulturkämpfe als virulente politische und wirtschaftliche Auseinandersetzungen über die Frage öffentlicher Ordnung werden eine weltzivilisatorische Realität. Dies führt zu einer Mobilisierung der Identitätspolitik in allen Gründerreligionen und Kulturen. Das Aufbegehren gegen eine westliche Modernität und die politische Instrumentalisierung der Identität führen zu fundamentalistischen Konflikten.

Konkurrierende Modernisierungslogiken

DIE wachsende kulturelle Vielschichtigkeit wirft die Frage auf, wie die Welt mit der Vielfalt der Identitäten auskommen soll. Kultur ist zunehmend ein kontroverser ordnungspolitischer Faktor, von Tschetschenien bis zum Kosovo oder zu Mazedonien. Auf der anderen Seite führt die Wahrnehmung der Unterschiede zwischen Kulturen erst zu der Forderung nach der Errichtung jenes interkulturellen Dialogs, der einer staatlich-politischen Regelung vorausgehen muss und folglich weltpolitisch so dringlich ist – vor allem seit das große Schisma aus der Welt zunehmend verschwindet.

Die Welt gleicht einem Feld disparater Kräfte, die ihre Kreise ziehen und eine plötzliche, kaum zu bremsende Schubkraft entwickeln. Die Totalität ist außer Kontrolle geraten. Die Globalisierung führte nicht zu einer „kulturellen Vereinigung“, wohl aber zu einer technischen Vereinheitlichung, einer Einheitlichkeit ohne wirkliche Einheit. Es entstand keine Kultur globaler Sicherheit, sondern eine Ansammlung von Möglichkeiten, die verschiedenartige Identitäten erlauben. Es lässt sich der Begriff der „absoluten Gegenwart“ prägen: Die heutige Kultur ist nicht mehr die Kultur eines Ortes, sie ist die Kultur einer Zeit. Die fundamentalistischen Tendenzen resultieren wesentlich als Formen eines Antimodernismus. Kulturelles Selbstbewusstsein wird zum Sprungbrett für politische Feindbilder um der Macht der Identität willen. In den verschiedensten Weltkulturen wird ein Selbstbewusstsein radikalisierender Strömungen entfacht, wobei sich die Suche nach neuen Quellen der Identitäten als universell kennzeichnen lässt. Die fundamentalistischen Tendenzen sind hierbei die Extremform der Politisierung des kulturellen Unterschieds. Jeder Modernisierungsdynamik entspricht eine eigene Modernisierungslogik. Der Pol der einheitlichen Universalität ist in der Weltzivilisation verloren gegangen, er wurde ersetzt durch die Vielheit der Universalitäten, die miteinander konkurrieren.

Die Wirtschaftskrisen der letzten Jahre, vor allem 1997 und 1998 in Asien, Russland und Brasilien, führten bei den Global Players zu keiner wirklich tiefen Selbstkritik und einer tiefen Strukturanalyse der hintergründigen Faktoren. Eines wurde freilich deutlich: Das zentrale Credo, der Liberalismus der weltweiten Wirtschaftsentwicklung in seiner puren positivistischen Form, war kein unfehlbares Dogma, er konnte in Unkenntnis der kultur- und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen nicht bedenkenlos in alle Volkswirtschaften der Welt implantiert werden. Die Werte der Kultur wurden auch für den Fluxus des internationalen Finanzkapitals zur primordialen Voraussetzung. Eine wirklich realistische Einschätzung würde folglich bedeuten, dass alle auf Wirtschaft und Politik einwirkenden Faktoren – somit auch Kultur und Religion – in das Kalkül der Sicherheitsstrategien und Risikofaktoren mit einfließen. Es ist die Rede von einem „Frühwarnsystem“, und Roman Herzog sprach sogar von der Kultur als einem „sicherheitspolitischen Imperativ“.

Wir müssen uns doch die ebenso einfache wie elementare Frage stellen: Warum ist eine Entwicklung in Europa oder Nordamerika möglich, die in Kenia, in Saudi-Arabien oder in Brasilien so nicht oder nur anders möglich ist? Es geht darum, alle denkbaren Faktoren, die staats- und wirtschaftstragende Bedeutung haben, wirklich zu verstehen. Die Dimension der Kulturgeschichte erweist sich als realpolitisch unterschätzt und zugleich als unverzichtbar, um dem tatsächlichen inneren Movens einer Gesellschaft und ihrer Wirtschaft näher zu kommen. So wurde versäumt, die vor allem langfristig wirksamen, hintergründigen kultur- und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen mit ins Kalkül zu ziehen, wodurch das Unvermögen der finanziellen Großakteure zutage trat, ganzheitliche Perspektiven zu berücksichtigen.

Die tiefe Strukturkrise der Entwicklungsgesellschaften offenbart, wie schmerzhaft der Übergang zur Moderne ist. Im Namen des totalen Weltmarkts erfassen Gesetze den gesamten Planeten. Die pulsierenden virtuellen Geldströme gehorchen einzig dem Imperativ einer ökonomischen Rationalität, einem Organismus ohne Herz und Körper, wobei das Volumen der finanziellen Transaktionen zehnfach höher ist als der reale Handelsaustausch. Es ist äußerst bedrohlich, in welchem Maße die Finanzökonomie die reale Ökonomie überragt und sich von der demokratisch legitimierten Macht und Verantwortung abgelöst hat.

Planetarität, Permanenz, Unmittelbarkeit und Immaterialität sind die bestimmenden Phänomene der digitalen und globalen Epoche. Wir erleben eine Eklipse der Vernunft und eine Flucht in immer unfassbarere politische und wirtschaftliche Unwägbarkeiten, denen eine Implosion droht, weil die großen historischen Bifurkationen sich nicht in die Zukunft extrapolieren lassen. In Anlehnung an Alexis de Tocquevilles Begriff von der Tyrannei der Mehrheit lässt sich heute von einer Tyrannei des Marktes und der Kommunikation sprechen.

Im Hinblick auf die notwendige Tiefendurchdringung einer langfristig erfolgreichen Wirtschafts- und Entwicklungspolitik gilt es, kulturelle Dominanten herauszuarbeiten und daraus operationale „Planungselemente“ abzuleiten. Immer häufiger wird von den Großakteuren der Politik und Wirtschaft die Erfahrung gemacht, dass technisch „korrekt“ geplante Vorhaben der Entwicklungspolitik ihr Ziel nicht oder kaum erreichen, dass mangelhafte Effizienz den Entwicklungserfolg vereitelt. Dies legt den Schluss nahe, dass bei den bisherigen Planungen besondere Bedingungen, die technisch nicht leicht erfassbar sind, aber entscheidende Auswirkungen haben, vernachlässigt werden. Hier treten die kulturellen Faktoren auf den Plan, die weniger eine statistische Reihe als ein flexibles symbolisches System bilden, das jeweils entwicklungsfördernd oder -hemmend wirken kann. Nur durch gezielte Analysen des kulturellen Umfelds ist die Nachhaltigkeit von Projektmaßnahmen der Entwicklungs- und der Wirtschaftspolitik gesichert. Die Ökonomie hat davon auszugehen, dass jede bekannte Realität kulturelle Realität ist in den prägenden Werten, wie sie in den Logiken des Denkens und Handelns zum Ausdruck kommen, ebenso in der Wahrnehmung, der menschlichen Erfahrung und folglich in den Aktionen, auch den wirtschaftlichen.

Ökonomie ist folglich das Ergebnis der kultur- und religionsgeschichtlichen Traditionen; es kann keine losgelöste universelle Rationalität geben, auch nicht für die Anwendbarkeit der Ökonomie. Hier liegt der Nexus zur Anthropologie. Warum etwa liegt die Sparrate in Singapur bei 50 Prozent, in Mexiko hingegen bei nur 9 Prozent? Inwieweit liegt dies an der konfuzianisch-asiatischen Tradition oder an einer überwiegend katholischen Kultur? Die Logiken des Denkens und Handelns sind raum- und zeitspezifisch. Kulturen können vergangenheits- oder zukunftsorientiert sein, wovon Investitionsfreudigkeit und Risikobereitschaft abhängen, sie können auf den „Seins“-Zustand des Hier und Jetzt konzentriert sein, gleichsam selbstgenügsam in der Kontemplation oder stark handlungsbetont. Hiervon hängen Erfindungskraft, unternehmerische Dynamik, das Vermögen zur Technologie, das Investmentverhalten und die Organisationsfähigkeit ab.

Vor allem die Kompatibilität von Technologie und Kultur und Religion ist entscheidend. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob Technologie in Lateinamerika akkulturiert werden soll mit einer vom Katholizismus geprägten starken transzendentalen Kultur, in Indien mit dem Gedanken des Karma und der Wiedergeburt und seinen Auswirkungen auf die Organisation von Arbeit, in Japan mit der Tradition des Schintoismus und dem Konsensus-Prinzip der Entscheidungsfindung oder in der nordamerikanisch-kalvinistischen Kultur mit ihrem puritanischen Erbe und der Vorstellung von diesseitigem materiellem Erfolg mit jenseitiger Gratifikation.

Es ist evident, dass die stets empirisch-analytisch-logische Technologie westlicher Prägung sich zu einer synergetischen Kraft verbündete mit dem Pragmatismus der amerikanischen Geistesgeschichte von William James bis John Dewey. Diesen Pragmatismus kennt etwa die Geistesgeschichte Lateinamerikas nicht, die über vier Jahrhunderte metaphysisch-jenseitig ausgerichtet war.

Entwicklung ist nur in der Gesamtheit eines kulturellen Erneuerungsprozesses möglich und dauerhaft, sonst bleibt sie von den entscheidenden Lebenslinien des Menschen abgesondert, ist sie nicht integriert, sondern fragmentarisiert und kann fundamentalistische und antimodernistische Tendenzen hervorrufen wie seit Jahren etwa in Algerien oder in Iran. Wirtschafts- und Entwicklungspolitik können nur gelingen, wenn auf operativer Ebene die kulturellen Faktoren herauskristallisiert werden. Nicht immer sind die Kulturen der emerging countries mit einem linearen Verständnis von Geschichte und Fortschritt kompatibel, wie es die Entstehungsgeschichte des Westens prägte, von Herodot bis Thukydides, von Vico bis Herder, von der Renaissance, der Aufklärung bis hin zur Geschichtsphilosophie Hegels. Es geht nicht um Wertung, sondern den Versuch des Verstehens, auch eines zyklischen Geschichtsverständnisses.

Die anthropologische Perspektive

KULTUR ist nicht ornamental für die Entwicklung, Kultur ist mehr als bloße Folklore: Sie ist eine entscheidende vektorielle Kraft. Es kann nur um eine integrierte und integrale Entwicklung gehen: Technologie ist nicht neutral und muss im Einklang mit Kulturtraditionen angeglichen werden, soll sie nicht die kulturelle Identität und letztlich die staatstragenden Institutionen zerstören. Technische Homogenisierung bedroht die historisch gewachsene Vielheit der Kulturen und führt schließlich zur Standardisierung und Uniformierung aller Lebensbereiche.

Ernest Gellner hat aus Anlass des 150. Geburstags des „Royal Anthropological Institute“ in London trefflich formuliert: Wo Politologen und Ökonomen in der Analyse nicht mehr weiterkommen, sind die Anthropologen aufgerufen, Antworten auf die drängenden Probleme zu finden. Dies setzt freilich voraus, dass sich die Anthropologie zum Studium der gesamten Menschheit bekennt und nicht nur dem der „anderen Kulturen“. Heute ist Modernität ein globales Phänomen, es gibt keine Nischen mehr, und folglich dürfen sich Anthropologen nicht mehr auf das Exotische der „rückständigen Kulturen der Dritten und Vierten Welt“ zurückziehen.

Der Mensch kann nach heutigem Kenntnisstand nur durch eine Gen-Kultur-Koevolution begriffen werden, die ein Paradoxon zutage fördert: zur gleichen Zeit entsteht Kultur aus der menschlichen Aktion, entsteht menschliche Aktion aus der Kultur. Gene schreiben epigenetische Regeln vor, welche die Wahrnehmung für mentales Vermögen sind und ihrerseits den Erwerb von Kultur kanalisieren. Im Vergleich zu rein biologischen Mutationen reicht die Kulturgeschichte des Menschen als Ausdruck des symbolischen Verhaltens, der ausgeprägten Sprache, der technischen Erfindungskraft und des Austauschs von Beziehungen zwischen Gemeinschaften – in der Evolution als beschleunigter Wandel verstärkt – 20 000 bis 25 000 Jahre zurück. Eine Epoche, in der die Verluste und Gewinne des höheren Paläolithikums konsolidiert waren. Dies war eine Zeit der raschen Diffusion, der schnellen Erfindungskraft, der großen künstlerischen Leistung; durch den Faktor der Kultur erhielt die rein genetische Evolution eine neue Schubkraft.

Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Tiefenperspektive für die Neubestimmung des Verhältnisses der Kulturen in der Weltzivilisation des 21. Jahrhunderts ziehen? Vor allem eine Folgerung: Den politischen Allianzen und wirtschaftlichen Kooperationen muss der Dialog der Kulturen und Religionen vorausgehen. Dies haben weitsichtige Analytiker von Georges Dumézil und Claude Lévi-Strauss bis zu dem Ökonomen Amartya Sen als friedensstiftende Verpflichtung bereits prognostiziert. Freilich, dieser Dialog ist heute gefährdeter denn je, auch der Westen wird in ihn eintreten müssen; das Alleinbestimmungsrecht lässt sich nicht mehr aufrechterhalten.

Der interkulturelle, besser der intrakulturelle Dialog wird zur Existenzmetapher einer künftigen Realpolitik. Man sollte deshalb heute und in Zukunft von einem Multiversum der Kulturen sprechen. Es ist unerlässlich, über das Verhältnis der Kulturen neu nachzudenken, auch mit Blick auf eine neue politische Weltordnung, soll sie tief- und langfristig verankert sein und nicht nur im artifiziellen Raum strategisch-militärischer Konstruktion von zweifelhafter Rechtfertigung verharren. Dies erfordert eine gleichberechtigte Erweiterung des Rationalitätskonzeptes und des Bewusstseinsbegriffs. Eine Balance, die sich einzig auf militärische Strategie begründet, wird nicht für eine dauerhafte Friedenssicherung ausreichen. Der Mensch ist nicht nur Mitglied von Staaten, sondern vor allem von Kulturen und Religionen auf der langen Reise seiner Evolutionsgeschichte; hier liegen die Tiefenstrukturen für jede langfristige Lösung.

Wir erleben heute eine gleichzeitige Vergegenwärtigung aller Kulturen und Staaten der Welt. Die Welt ist gekennzeichnet in nie bekannter Weise von einem interkulturellen Wachstum, das ein hohes Maß an Angleichungsfähigkeit fordert. Auch widersprüchliche kulturell-religiöse Charakteristika müssen vereint werden, um Konfrontationen zu vermeiden, stets auf der Suche nach jenem komplementären Element, welches das Ganze umfasst. Zwischen den Weltkulturen und Religionen müssen vergleichende Elemente herausgearbeitet werden, die zu vermitteln helfen.

Die Weltzivilisation des 21. Jahrhunderts darf keinen dogmatischen Charakter haben, sie muss dialogisch begriffen werden, nicht zentralistisch, sondern interkulturell in allen Lebensbereichen. In letzter Konsequenz stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielfalt in der planetaren Weltzivilisation der Zukunft. Sie besteht aus einem geordneten Ganzen verschiedener Teile: das Ergebnis einer historischen Diversifikation, die durch Integration im Gleichgewicht gehalten werden muss. Dieses Gleichgewicht ist heute in Gefahr, da wir über 180 Nationalstaaten in den Vereinten Nationen haben, aber mehrere Tausende von Kulturtraditionen und Religionsüberlieferungen, die folglich keineswegs kongruent mit den Staaten sein müssen.

Der Internationalismus der Weltwirtschaft kann auf Dauer nur Erfolg haben, wenn wir uns vertieft mit der Pluralität der Weltkulturen und der geschichtlichen Welten auseinander setzen in jener „absoluten Gegenwart“, die sich nicht mehr auf einen Ort konzentriert, sondern auf eine Zeit, die uns alle verschlingt.

Das Jahrhundert muss erweisen, ob wir diese Aufgabe politisch bewältigen, ob wir die Einsicht umsetzen können, dass Kulturen ihre Individualität erst durch die Begegnung mit anderen Kulturen entfalten und gestalten können. So könnte sich eine Vorskizze einer Interkulturalität als realpolitische Friedenssicherung abzeichnen, letztlich Voraussetzung des Überlebens des Menschen.

Die Begegnung von Religionen und Kulturen ist im universalhistorischen Prozess kein neues Phänomen, auch nicht das Verhältnis von Technologie und Kultur. Dennoch verschärfen sich beide in der Weltzivilisation des neuen Jahrhunderts, stellen sich mit einer unabdingbaren politischen Dringlichkeit dar. Die Evolutionsgeschichte erlaubt den Ausblick auf eine Künftigkeit, da sich hinter allen Religionen und Kulturen letztlich eine menschliche Einheit verbirgt.

* Kulturanthropologe. Autor von „Der Mensch im Cyberspace“, München (Diederichs) 1998

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von CONSTANTIN VON BARLOEWEN