16.11.2001

Kriegskorrespondenz

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Kriegskorrespondenz

Brief von Eugène-Emmanuel Lemercier an seine Mutter, 22. Februar 1915:

„Du kannst dir nicht vorstellen, meine geliebte Mutter, was die Menschen in der Lage sind, einander anzutun. Seit fünf Tagen schon sind meine Schuhe mit menschlicher Hirnmasse beschmiert, seit fünf Tagen zertrete ich Brustkörbe, stoße ich auf Innereien. Die Männer essen das Wenige, was sie haben, gleich neben den Leichen. Das Regiment war heldenhaft: Es ist kein Offizier mehr da.“

Lettres d’un soldat, Chapelot, 1916, S. 135.

Brief von Henri Barbusse an seine Frau, 21. Juni 1915:

„Sogar im Laufgraben waren Leichname, die man weder herausziehen noch begraben kann (bisher war dafür keine Zeit) und auf die man tritt,wenn man vorbeimuss. Einer von ihnen, er hat eine Maske aus Schlamm und zwei Löcher an Stelle der Augen, hat seine Hand hängen lassen, nun ist sie von den Stiefeln der in einer langen Reihe durch den Graben hastenden Soldaten halb zerfetzt. Man konnte ihn sehen, an dieser Stelle ist der Graben bedeckt, und da haben wir kurz hingeleuchtet, nur eine Sekunde. Ist es nicht makaber, diese Toten, die einfach so wie nichtsnutze Sachen behandelt werden?“

Lettres de Henri Barbusse à sa femme, 1914–1917, herausgegeben von Ernest Flammarion, Paris, 1937, S. 151.

Brief von Maurice Genevoix, 1915:

„Dieser Krieg ist unwürdig: Ich war vier Tage lang mit Erde, Blut und Hirnmasse besudelt. Ich habe einen Flatschen Eingeweide mitten ins Gesicht bekommen, und eine Zunge, an der noch ein Rachen hing, flog mir an die Hand. [. . .] Ich bin angewidert, taumelnd vor Abscheu.“

Zitiert in: Les Éparges (1923), Ceux de 14 (1949), Flammarion, 1990, S. 614.

Brief von Fernand Léger an Louis Poughon, 30. Oktober 1916:

„Sobald man die Zone verlässt, in der es noch Wege gibt, tauchen die menschlichen Überreste auf. Ich habe wahrhaftig die seltsamsten Dinge gesehen. Menschenköpfe, die, fast mumifiziert, aus dem Schlamm herausragen. Ganz klein sehen sie aus in diesem Erdenmeer. Wie Kinder. Vor allem die Hände sind unglaublich. Es gibt Hände, von denen hätte ich am liebsten ein genaues Foto gemacht. Das ist das Ausdrucksvollste überhaupt. Manche haben die Finger im Mund, von den eigenen Zähnen abgebissen. Ich hatte das schon am 13. Juli in Argonne gesehen: Einer, der es vor Schmerz nicht aushält, stopft sich die Hände in den Mund. Fast eine Stunde lang hatte ich jede Minute damit zu tun, bloß nicht zu ertrinken (denn du weißt ja, dass zahlreiche Verwundete in den Löchern der 380er ertrinken, die drei Meter tief und voller Wasser sind). [. . .] Solche Dinge muss man wissen.“

Fernand Léger, une correspondance de guerre, Les Cahiers du Musée national d’art moderne, Sonderdruck/Archiv, 1997, S. 66.

Worte eines Unbekannten

Ausspruch eines Fürsorgezöglings einige Sekunden vor seinem Tod am 22. Mai 1916:

„Schreibt Herrn Mesureur, dass G. in Verdun gestorben ist, verloren gegangen auf einem großen Schlachtfeld, wie er einmal auf der Straße gefunden worden ist.“

La dernière lettre écrite par des soldats français tombés au champ d’honneur, 1914–1918, Flammarion, 1921, S. 129)

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001