16.11.2001

The Quintet of the Unseen

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The Quintet of the Unseen

Man stelle sich vor, man steht vor dem Isenheimer Altar und plötzlich wird man gewahr, wie sich die in Leid und Trauer die Hände ringenden Figuren am Fuße des Kreuzes bewegen. Langsam, unmerklich verrenkt die zum Himmel flehende Maria Magdalena die Arme, verliert, weil sie in ihrem Gottvertrauen das Geschehene nicht fassen kann, ihre Fassung, ebenso wie Maria, die in den Armen des Evangelisten Johannes zu Boden gleitet.

Vielleicht kann man so beschreiben, was man nicht beschreiben kann: die Videoarbeit des amerikanischen Künstlers Bill Viola (geb. 1947) „The Quintet of the Unseen“, die in diesem Jahr auf der Biennale in Venedig zu sehen war.

Fünf alltäglich gekleidete Personen stehen hell erleuchtet vor einem schwarzen Hintergrund. Ihre Körper und Gesichter sind nichts als Trauer, Schrecken, Furcht und Entsetzen, und während durch die Eindringlichkeit des Bildes (wie schon in den Bildern der Renaissance) Mitgefühl evoziert wird, erkennt man plötzlich, dass die Personen gar nicht „nur“ dastehen, sondern sich unmerklich verändern, so wie Gefühle sich unmerklich verändern. Die Frau mit dem roten Kleid verschränkt die Hände im Schmerz, der Mann im schwarzen Hemd beugt sich ein wenig nach vorne, greift sich an den Hals und öffnet seinen Mund wie zu einem Schrei. Der Mann rechts im blauen Hemd fasst den Schwarzen am Arm, um ihn zu halten, während der Mann, der die Gruppe überragt, gleichgültig zur Seite schaut, bevor er sich, tröstend beinahe, der Frau mit dem grünen Kleid zuwendet. Doch die Menschen bewegen sich nicht einfach, vielmehr sorgt die extreme slow motion des Videos dafür, dass man den Eindruck hat, hier werden Menschen von Emotionen bewegt, hier agieren – so könnte man sagen – die Gefühle selbst.

Das, was Schrecken, Entsetzen, Furcht und gleichgültiges Wegsehen ausgelöst hat, ist „unseen“, nicht sichtbar. Es zeigt sich wie auf einem Gemälde lediglich im Arrangement der Personen, in den Lokalfarben der Kleider, in den bis zur Erstarrung verlangsamten Gesten. Die Verkehrsgeräusche, die man im Hintergrund hört, betten das Geschehen in einen Alltagsraum, eine Landschaft.

„Das nicht Sichtbare zu sehen ist eine Fähigkeit, die im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert zu entwickeln bleibt“, sagt Viola, der den Einzug der bewegten Bilder in die Kunst mit der Entdeckung der Zentralperspektive verglichen hat. Fünf Stills aus „The Quintet of the Unseen“ stellen wir hier vor.

M. L. K.

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von M. L. K.