16.11.2001

Medaillen und Frequenzen

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Medaillen und Frequenzen

Von DEJAN ILIC *

WENN die jüngste Vergangenheit für die Menschen nicht zu einem existenziellen Thema geworden ist, so hat dies sehr viel mit der Wirkung der Medien zu tun. Bei seinem jüngsten Besuch in den USA wurde der serbische Ministerpräsident aufgefordert, sich über die unabhängigen elektronischen Medien in Serbien zu äußern und insbesondere über den Rundfunk- und Fernsehsender B 92. Dabei lassen wir einmal die Frage beiseite, ob es besonders klug war, sich bei einem vom Ökonomischen dominierten Besuch auf dieses Thema einzulassen. Aber er hat es nun einmal getan und uns damit die Möglichkeit gegeben, auf eine Frage zu kommen, die für die serbische Gesellschaft in ihrer aktuellen Umbruchsituation – neben den ökonomischen Problemen – von ganz entscheidender Bedeutung ist. Ich meine die Frage, warum der Sender B 92 von der Regierung Djindjić keine Sendefrequenz von nationaler Reichweite bekommen hat. Die Antwort des Herrn Djindjić lautete, für das, was der Sender B 92 in den Neunzigerjahren geleistet hat, könnte man ihm eine Anerkennungsmedaille verleihen, aber man könne ihm wegen dieser Verdienste keine Privilegien einräumen. Und schon gar nicht könne er aufgrund seiner früheren Leistungen eine dauerhafte Frequenz beanspruchen.

Wenn wir etwas genauer betrachten, was Herr Djindjić mit dieser Äußerung sagen wollte, kommen wir nicht umhin, sie so zu interpretieren: Der serbische Ministerpräsident ist der Meinung, dass alle Menschen, die gegen das Milošević-Regime gekämpft haben und deshalb gesellschaftliche, rechtliche, politische und wirtschaftliche Nachteile hinnehmen mussten, eine Medaille verdienen. Und dass andererseits all jene, die mit demselben Regime kollaboriert haben und sich aufgrund dessen eine privilegierte Position verschaffen konnten, alles behalten sollen, was sie in dieser Position absahnen konnten und künftig noch absahnen können – wenn auch ohne Medaille. Ich bin sicher, dass Herr Djindjić dies nie aussprechen würde, wenn ihm bewusst wäre, was er in Wirklichkeit gesagt hat. Aber es war ihm nicht bewusst. Damit hat er sich in einem Augenblick, da die serbische Gesellschaft alles versucht, eine stabile Demokratie und einen Rechtsstaat aufzubauen, und da sich so viele von uns beharrlich bemühen, die Menschen zur Teilnahme am politischen Leben zu ermutigen, auf eine Weise geäußert, die allen Bemühungen um eine Demokratisierung den Boden entzieht. Denn im Grunde hat Djindjić gesagt: Wenn die Bürger es mit einem kriminellen Regime zu tun haben, tun sie besser daran, zu kollaborieren und von dieser Kollaboration zu profitieren, als gegen dieses Regime zu kämpfen und am Ende – wenn sie Glück haben – eine Medaille zu empfangen. Auf völlig unbeabsichtigte Weise hat Herr Djindjić sich damit zu einem der wichtigsten Probleme der heutigen serbischen Gesellschaft geäußert: zum Problem von Schuld und Verantwortung.

Es wäre falsch, zu behaupten, dass in Serbien die Frage nach Schuld und Verantwortung für das Geschehen auf dem Balkan in der öffentlichen und politischen Debatte überhaupt nicht gestellt wird. Im Gegenteil. Seit den frühen Neunzigerjahren erörtern viele Menschen immer wieder die sehr allgemeine Frage nach der moralischen Dimension der Kriege, an denen die Serben beteiligt waren. Dabei fragten sie auch nach der moralischen Dimension der Verbrechen, die in diesen Kriegen begangen wurden. Darüber hinaus wurden auch Abhandlungen und Bücher gegen den ethnisch geprägten Hass und gegen die national motivierten Gewalttaten veröffentlicht.

Doch irgendwie haben diese Stimmen und Zeilen die Mehrheit der serbischen Bevölkerung nicht erreicht. Das mag auch daran liegen, dass die einflussreichsten elektronischen Medien und die auflagenstärksten Publikationen, aber auch die prominentesten so genannten Intellektuellen blind für alles waren, was der anderen Seite widerfahren ist, und es leider noch immer sind. Wenn die verantwortlichen Publizisten und Intellektuellen über Schuld und Verantwortung reden, meinen sie immer nur das Leid, das dem serbischen Volk angetan wurde, und zwar durch frühere serbische Regime oder durch benachbarten Staaten und Nationen.

Deshalb ist das Bild über die tatsächlichen Ereignisse der letzten zehn Jahre immer noch reichlich vage. Genau dies schafft den Raum für neue Manipulationen der nationalen Gefühle. Ganz deutlich wurde dies in den Reaktionen auf die Ereignisse vom 11. September. Obwohl sich niemand in Serbien über die Tragödien von New York und Washington freute, dominierte doch ganz allgemein das Gefühl, dass sich hier „eine höhere Gerechtigkeit“ vollzogen habe. Diese Stimmung drückte die Meinung aus: Die Amerikaner wurden für das bestraft, was sie den Serben angetan haben oder eben anderen Völkern, die sich ihnen entgegenzustellen wagten. Auf der anderen Seite machten sofort Geschichten die Runde, die Verbindungen zwischen Ussama Bin Laden und den Regimen in Kroatien, Bosnien und Albanien oder auch mit den Kosovoalbanern behaupteten. Auf einmal hatten die ganzen Schrecken des vergangenen Krieges – abgebrannte Häuser, Massengräber, Flüchtlingsströme – einen höheren Sinn erlangt: Sie gehörten zum serbischen Kampf gegen das ultimative Übel. Verstärkt wurde diese pervertierte Wahrnehmung durch täglich neue Bilder von zivilen Opfern der Bombenangriffe in Afghanistan. Die Logik, die hinter dieser Wahrnehmung steckt, lautet: Wenn die Amerikaner solche Dinge tun dürfen, dann dürfen wir das auch. Selbst der frühere Präsident Jugoslawiens hielt es für angebracht, den internationalen Gerichtshof in Den Haag darüber zu informieren, dass Bin Laden während des Konflikts in Südserbien in Albanien gesehen wurde. In diesem Augenblick, fügte er hinzu, würden albanische (also islamische) Terroristen in der Gegend Bujanovac und Presevo immer noch serbische Menschen foltern, vergewaltigen, umbringen. Obwohl die albanische Führung und serbische Politiker diese Behauptungen sofort zurückwiesen, hatte Milošević es erneut geschafft, seine größte Fähigkeit zu demonstrieren – nämlich das Unglück anderer Menschen zu manipulieren

Vor etwa neun Monaten hatte es den Anschein, als werde sich im Hinblick auf diese Probleme etwas Entscheidendes ändern. Zu Beginn des Jahres 2001 ergriff der heutige Präsident Jugoslawiens die Initiative zur Gründung der so genannten Wahrheits- und Versöhnungskommission. Aber dann wurden alle diejenigen schrecklich enttäuscht, die gedacht hatten, dass die serbische Gesellschaft endlich bereit sein würde, ihre eigene Verantwortung für die schrecklichen Ereignisse einzugestehen. Die erste offizielle Verlautbarung der Mitglieder dieser Kommission machte ganz deutlich, dass sie in Wahrheit das Ziel verfolgten, die Serben vor der Beschuldigung in Schutz zu nehmen, sie seien aktiv an der Zerstörung des früheren Jugoslawien und an den darauffolgenden Auseinandersetzungen beteiligt gewesen. Auf diese Weise verpassten Herr Koštunica und seine Wahrheitskommission die Gelegenheit, mit ihrer finsteren Vergangenheit zu brechen. Und so fanden wir uns, statt uns einen politischen Raum für unser eigenes künftiges Verhalten zu schaffen, in einem wahren Teufelskreis wieder: Auf der einen Seite schoben wir die Schuld für alles, was seit den 1990er-Jahren schief gelaufen war, auf die kommunistische Vergangenheit; auf der anderen Seite wollten wir unsere Vergangenheit komplett entsorgen mit der Begründung, dass wir uns jetzt auf die Wirtschaft konzentrieren müssen. Beides macht es uns unmöglich, die nationalistischen Denkweisen in Frage zu stellen, die uns in den Konflikten der 1990er-Jahre als Vehikel gedient hatten. Denn diese Denkweisen lassen sich weder vollständig durch das kommunistische Erbe erklären, noch werden sie durch das Primat der Ökonomie einfach zum Verschwinden gebracht.

Zur Reise unseres Ministerpräsidenten in die USA ist vielleicht noch eine weitere Anmerkung von Interesse. Zwei Wochen vor dieser Reise hatte der Sender B 92 einen ganz besonderen Gast nach Belgrad eingeladen. Herr Hartmut Topf ist ein Nachkomme der Besitzer einer Firma mit dem Namen J. A. Topf & Söhne. Herr Topf hat in Serbien drei Vorträge gehalten und eine Reihe von Interviews gegeben. Dabei schilderte er seine Erfahrung, wie er entdeckt hat, dass er der Nachfahre von Leuten ist, die Verbrennungsöfen für Konzentrationslager gebaut haben. Einer der wichtigsten Punkte, die er bei seinen Vorträgen hervorhob, war die Tatsache, dass die Arbeiter der Firma Topf & Söhne ihre Tätigkeit als eine völlig normale angesehen hatten. Sie unternahmen sogar besondere Anstrengungen, um ein besseres und effektiveres Produkt herzustellen. Herr Topf verlas auch einige Brief, die Angestellte der Firma Ende 1944 und Anfang 1945 an ihre Kollegen in anderen Ländern und bei Partnerunternehmen geschrieben haben, und zwar mit der Bitte, sie und ihre Familien zu unterstützen, weil die Firmengeschäfte nicht mehr so gut gingen. Diese Vorträge und Interviews gehörten zu einem großen Projekt, das der Sender B 92 entworfen hat. Es will dazu beitragen, das Bewusstsein zu entwickeln, dass das Böse sich meistens mit alltäglichen, „normalen“ und „pragmatischen“ Gründen drapiert. Irgendwann wird Herr Djindjić auch dieses Projekt mit einer Medaille auszeichnen.

dt. Niels Kadritzke

* Journalist bei der Belgrader Literaturzeitschrift „Rec“ und Mitarbeiter von B 92. Dieser Beitrag erscheint nur in der Ausgabe für Deutschland und Luxemburg.

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von DEJAN ILIC