Kriegsziele
Von IGNACIO RAMONET
SEIT in Afghanistan der erste Konflikt des 21. Jahrhunderts begonnen hat, muss man fragen, welche Kriegsziele die Vereinigten Staaten von Amerika verfolgen. Ein erstes Ziel gab die amerikanische Führung bereits am Tag nach den grauenhaften Anschlägen vom 11. September bekannt: Man wolle das Al-Qaida-Netzwerk zerschlagen und „tot oder lebendig“ Ussama Bin Laden ergreifen, den mutmaßlichen Verantwortlichen jenes Verbrechens, bei dem tausende ums Leben kamen und das durch nichts zu rechtfertigen ist. Dieses Ziel ist leichter formuliert als erreicht; und das, obwohl das Kräfteverhältnis der beiden Kontrahenten eindeutiger nicht sein könnte. Denn erstmals in der Geschichte des Krieges kämpft ein Staat nicht gegen einen anderen Staat, sondern gegen einen einzelnen Mann.
Washington hat alle ihm zur Verfügung stehenden Kräfte mobilisiert und müsste angesichts der erdrückenden Überlegenheit seiner Waffensysteme eigentlich den Sieg davontragen. Gleichwohl gibt es in der Geschichte genügend Beispiele dafür, dass Großmächte nicht in der Lage waren, mit einem schwächeren Gegner fertig zu werden. Die Militärgeschichte lehrt, dass in einem asymmetrischen Kampf der Stärkere manchmal nicht das Geringste erreichen kann. Der britische Historiker Eric Hobsbawm erinnert (in la Repubblica vom 18. September) an ein nahe liegendes Beispiel: „Dreißig Jahre lang ist es einer Armee wie der IRA gelungen, die britische Staatsmacht in Atem zu halten. Die IRA gewann zwar nicht die Oberhand, aber sie wurde auch nicht besiegt.“
Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten sind wie die vieler anderer Länder darauf zugeschnitten, Krieg gegen fremde Staaten zu führen, nicht aber gegen einen „unsichtbaren Feind“. Doch in dem Jahrhundert, das soeben begonnen hat, werden zwischenstaatliche Kriege zunehmend anachronistisch. Der erdrückende Sieg im Golfkrieg 1991 erweist sich als trügerisch. Anthony Zinni, General der US Marines, erklärt (in El Mundo vom 29. September): „Unsere Offensive im Golfkrieg war siegreich, weil wir das Glück hatten, den einzigen Bösen auf dieser Welt zu treffen, der dumm genug war, den Vereinigten Staaten in einem symmetrischen Konflikt die Stirn zu bieten.“ Gleiches ließe sich über Milošević im Kosovokrieg von 1999 sagen.
Einen Konflikt neuen Typs zu beginnen ist leichter, als ihn zu beenden. Selbst der massivste Einsatz militärischer Mittel führt nicht zwangsläufig zum Erfolg, wie die Intervention in Somalia im Jahre 1993 klar gemacht hat. Die US-Regierung weiß also, dass der Beginn eines Kriegs gegen Afghanistan – unter dem berechtigten Vorwand, dass dieses Land Bin Laden beherbergt – der leichtere Teil der Operation ist. Und dass sie in den kommenden Wochen gewinnen muss – mit so wenigen Verlusten wie möglich. Doch mit dem Sieg über eines der widerwärtigsten Regime dieser Erde ist das eigentliche Kriegsziel keineswegs erreicht: die Gefangennahme Ussama Bin Ladens.
DAS zweite Kriegsziel – die Zerschlagung des „internationalen Terrorismus“ – scheint zu hoch gesteckt. Dies gilt vor allem, weil Terrorismus ein unklarer Begriff ist.
Seit 200 Jahren werden damit alle möglichen Bewegungen bezeichnet, die aus hehrer oder eigennütziger Motivation versuchten, die politische Ordnung gewaltsam zu verändern. Die Erfahrung zeigt, dass Gewalt in manchen dieser Fälle notwendig war. „Im Kampf gegen Tyrannen sind alle Mittel gerechtfertigt“, schrieb schon 1792 Gracchus Babeuf. Viele, die früher als „Terroristen“ galten, waren später geachtete Staatsmänner. Um nur einige Beispiele zu nennen: Menachem Begin, der einst Chef der Irgun war, brachte es zum Ministerpräsidenten Israels; Abdelaziz Bouteflika, Partisan im algerischen Unabhängigkeitskrieg, wurde später Präsident seines Landes; und Nelson Mandela, der Anführer des ANC, wurde Präsident Südafrikas und Friedensnobelpreisträger.
Der derzeitige Krieg und die damit einhergehende Propaganda vermitteln den Eindruck, es gäbe nur einen Terrorismus: den islamistischen. Dies ist offenkundig falsch. Auch in der nichtmuslimischen Welt sind nach wie vor „terroristische Gruppen“ am Werk: Man denke an die ETA in Spanien, die IRA und die Unionisten in Nordirland, die Farc und die paramilitärischen Gruppen in Kolumbien, die tamilischen Befreiungstiger in Sri Lanka und andere.
Fast alle politischen Zirkel haben sich im Laufe der Geschichte irgendwann auf den Terrorismus als Prinzip des politischen Handelns berufen. Die erste Theorie über den Terrorismus entwickelte der deutsche Radikaldemokrat Karl Heinzen bereits in seinem 1848 erschienenen Essay „Der Mord“. Laut Heinzen sind alle Mittel heilig, um die Herstellung demokratischer Verhältnisse zu beschleunigen: „Und wenn ihr den halben Kontinent in die Luft sprengen und ein Blutbad anrichten müsst, um die Partei der Barbaren zu vernichten, so tut es ohne Gewissensbisse. Wer sein Leben nicht in Freuden drangäbe für die Befriedigung, eine Million Barbaren ausgerottet zu haben, ist kein wahrer Republikaner.“
Ironischerweise zeigt gerade dieses Beispiel, dass auch der vornehmste Zweck nicht alle Mittel heiligt. Von einer auf einem Blutbad begründeten Republik – sei sie säkular oder religiös –, haben die Bürger das Schlimmste zu befürchten. Aber auch der von Washington erklärte Krieg gegen den „Terrorismus“ ist ganz und gar nicht geeignet, Vertrauen zu erwecken – zu furchtbar sind seine Fehlentwicklungen und die Angriffe auf unsere Grundfreiheiten.