Die Macht und der Glaube
Der gute Vorsatz, einen „Kampf der Kulturen“ zu vermeiden, kennzeichnet die westliche Politik seit dem 11. September. Die „Allianz gegen den Terror“ kann nur zusammengehalten werden, wenn in islamischen Ländern wie Pakistan und Ägypten die Regime ihren Völkern glaubhaft machen könnten, dass es sich um keinen christlichen „Kreuzzug“ handelt. Ob das gelingt, hängt nicht nur von der Kriegsführung in Afghanistan ab, sondern auch von der Wahrnehmung in den westlichen „Kulturnationen“. Hier wird sich ein differenziertes Bild der „islamischen Welt“ nur entwickeln, wenn es gelingt, jenseits der religiösen Dimension für jedes einzelne Land die soziale Dynamik und die ökonomischen Probleme differenziert zu analysieren.
Von ERIC ROULEAU *
MAN dürfe den Islam nicht mit dem Terrorismus gleichsetzen, mahnen die politischen Führer des Westens. Doch so einfach lässt sich das Problem nicht aus der Welt schaffen. Der bewusste oder unbewusste Rassismus droht sich angesichts einer verschreckten und verunsicherten öffentlichen Meinung noch viel stärker auszubreiten. Ohnehin bestehende Vorurteile gegen den Islam, Klischeevorstellungen und Unwissenheit tragen allesamt dazu bei, die These von einer Konfrontation der Religionen und Kulturen zu bestätigen. So entsteht das unbestimmte Gefühl, die demokratischen „Kulturnationen“ des „Westens“ hätten nun einen „Krieg“ (oder gar einen „Kreuzzug“) gegen die „totalitären“ und „fanatischen“ Muslime eröffnet. Diese Wahrnehmung erscheint sogar plausibel, haben doch die Terroristen ihrerseits den heiligen Krieg (Dschihad) gegen die „ungläubigen Kreuzfahrer“ ausgerufen, die angeblich die Gemeinschaft der Muslime unterdrücken. Diese bestürzend komplementären Wahrnehmungsmuster haben die gefährliche Wirkung, die Kluft zwischen zwei Kulturen und zwei Welten zu vertiefen, zwischen den Reichen und den Armen, die von Frustration und aufgestauten Hassgefühlen zerfressen werden.
Im Westen tragen Politiker und Medien – mit lobenswerten Ausnahmen – in doppelter Weise zu dieser Polarisierung bei: zum einen, indem sie die religiösen Überzeugungen der Terroristen in den Vordergrund stellen und deren politische Motive ausblenden, zum anderen, indem sie sprachlich die unterschiedlichen Dimensionen des Problems, die sie eigentlich auseinander halten wollen, dann doch wieder vermischen. So produziert die willkürliche und unterschiedslose Verwendung der Begriffe „Islam“, „Fanatismus“, „Terrorismus“ und „Fundamentalismus“ allemal Verwirrung, im schlimmsten Fall fördert sie antiislamische rassistische Vorurteile. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop hat ergeben, dass jeder zweite Franzose das Wort „Islam“ mit Fanatismus assoziiert (Le Monde, 5. Oktober 2001).
Das Operieren mit Begriffen wie „Fundamentalismus“ und „Integralismus“, die als „protestantische“ beziehungsweise „katholische“ Erscheinungen dem Islam gleichermaßen fremd sind, muss zwangsläufig zu destruktiven Missverständnissen führen. Dasselbe gilt für den Begriff „Islamismus“, der von einigen Islamwissenschaftlern hilfsweise eingeführt wurde, während andere den Begriff des „politischen Islam“ für genauer halten. Auch bei der Einordnung islamistischer Parteien und Bewegungen zeigt sich, dass jede Verallgemeinerung erneut zu Verwirrung und falschen Gleichsetzungen führt, denn diese Gruppierungen sind extrem verschieden und haben oft nur den Bezug auf die Religion des Propheten gemein, die sie aber ganz unterschiedlich, wenn nicht gegensätzlich interpretieren – was auch erklärt, warum sie im politischen Spektrum von ganz rechts bis ganz links angesiedelt sind.
Beispielhaft kann man die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen islamistischen Richtungen im Iran studieren. Als der Imam Chomeini 1979 die Macht übernommen hatte, zeigte sich rasch, dass seine schärfsten Gegner nicht die weltlichen Parteien waren, sondern bestimmte islamistische Gruppierungen, darunter liberal gesinnte (die von einzelnen Großajatollahs gestützt wurden), aber auch sozialdemokratisch oder marxistisch orientierte. Nachdem das Chomeini-Regime mit seinen Gegnern abgerechnet hatte, hat sich neuerdings ein Konflikt zwischen zwei großen Strömungen herausgebildet: zwischen dem totalitären Lager um den „geistlichen Führer“ Ajatollah Ali Chamenei (das eindeutig in der Minderheit ist) und der demokratisch und weltlich orientierten Bewegung unter Führung des Staatspräsidenten Mohammad Chatami. Die gesellschaftlichen Gegensätze zeichnen sich auch innerhalb der Geistlichkeit ab, in der sich Reformisten und Konservative unversöhnlich gegenüberstehen – beide gestützt auf ihre sehr unterschiedliche Auslegung der heiligen Schriften.
Die Türkei ist ein weiteres Land mit muslimischer Bevölkerung, in dem die islamistische Bewegung, unter verschiedenen Namen, schon seit einem halben Jahrhundert eine politische Rolle spielt. Sie achtet die Gesetze und bekennt sich zu den weltlichen Prinzipien des kemalistischen Staates, dem sie zugleich vorwirft, den Grundsatz der staatlichen Neutralität in religiösen Angelegenheiten zu missachten, wie er etwa in Frankreich und den Vereinigten Staaten gilt. Diese „Islam-Demokraten“, wie sie in der Türkei, in Anspielung auf die europäischen „Christ-Demokraten“ gelegentlich genannt werden, sind im Parlament und in den Gemeinderäten stark vertreten. Sie stellten Minister in verschiedenen Koalitionsregierungen, und ihr ehemaliger Vorsitzender Necmettin Erbakan (dem inzwischen die Bürgerrechte aberkannt wurden) stand von 1996 bis 1997 als erster Islamist an der Spitze einer Regierungskoalition.
Dass sich die Islamisten diskriminiert fühlen, hat sie paradoxerweise zu Vorreitern der Demokratisierung gemacht, die sich für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union und für die Achtung der Menschenrechte einsetzen.
Islamisten als Bündnispartner?
AUCH in Ägypten gibt es eine Reihe islamistischer Organisationen mit unterschiedlichsten Zielen, die aber bis auf eine oder zwei Ausnahmen einen friedlichen Reformkurs verfolgen. Das gilt auch für die bedeutendste und älteste Gruppierung, die Muslimbrüder, die sich sowohl gegen die Gewalt und die islamistische Diktatur im Sudan wie gegen die „Verbrechen“ der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) in Algerien ausgesprochen haben. Dennoch haben Teile der Muslimbrüder die politische Grundhaltung der Bruderschaft als zu konservativ empfunden und die politische Partei Wasat („die Mitte“) gegründet. Das Programm dieser Partei formuliert Pluralismus und Menschenrechte als wichtige Prinzipien – was mit einer Frau und einem koptischen Christen in der Führung deutlich wird. Das andere Extrem verkörpert der von Dr. Zawahiri geführte islamische Dschihad, der sich inzwischen Ussama Bin Ladens Terrororganisation al-Qaida angeschlossen hat.
Es gibt etliche weitere Beispiele für die unterschiedlichen Ausprägungen des politischen Islam in den Ländern zwischen Atlantik und Persischem Golf. Seit 1928 in Ägypten die Muslimbruderschaft gegründet wurde, die sich zunächst regional stark ausbreitete, später aber ihre Vormachtstellung verlor, haben die islamischen Bewegungen vielfache Wandlungen und bemerkenswerte Entwicklungen durchlaufen. Den ersten Wendepunkt markierte die schmachvolle Niederlage der arabischen Armeen im Sechstagekrieg gegen Israel, im Juni 1967. Danach begann der Niedergang der nationalistischen und sozialistischen Kräfte, denen man die Schuld an diesem Debakel gab. Gedemütigt, verzweifelt und orientierungslos, suchte die Bevölkerung der arabischen Länder Zuflucht im Glauben. Die Islamisten nutzten, da sie von den meisten Regimen in den Untergrund gedrängt worden waren, zur Verbreitung ihrer Botschaft Moscheen und die unzähligen Vereine und Wohlfahrtseinrichtungen, die sie gegründet hatten.
Aus Überzeugung oder taktischem Kalkül übernahmen sie in ihren politischen Parolen die Programmatik ihrer einstigen Konkurrenten. In ihren Kampagnen kamen in der einen oder anderen Form auch nationalistische, antiimperialistische oder soziale Forderungen vor: Man wetterte gegen das Unrecht, die Korruption, die Gewaltherrschaft der regierenden Oligarchen. Der Rahmen des politischen Islam bot nahezu die einzige Möglichkeit, gegen die Verhältnisse zu protestieren und Forderungen zu stellen. Sieht man von den theologischen Bezügen ab, waren die Erklärungen von Imam Chomeini den Aufrufen von Führern der Dritten Welt, etwa denen des einstigen ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abdel-Nasser, zum Verwechseln ähnlich. Der Führer der iranischen Revolution konnte damit jenes Feld besetzen, das ihm der Schah hinterlassen hatte, nachdem er alle Gruppierungen der demokratischen Opposition, von rechts bis links, zerschlagen hatte.
Ganz offensichtlich fand das politische und soziale Programm der Islamisten, so demagogisch es vorgetragen wurde, in der Bevölkerung weit mehr Anklang als die religiöse Botschaft, die zumeist frauenfeindlich war und einen repressiven Sittenkodex propagierte. Nur so dürfte der Aufschwung der Islamisten zu erklären sein, der sich erst vollzog, nachdem sie sich zu Kämpfern für die nationale Sache gewandelt hatten. Sie erhielten allerdings auch Unterstützung, vor allem finanzieller Art, von Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten, die sich von der Beseitigung gegnerischer Regime eine Konsolidierung ihrer Position versprachen. Diese Freigebigkeit zahlte sich letzten Endes wenig aus, weil die Geberstaaten nicht begriffen, dass der politische Islam in seiner neuen Form auch ihren eigenen Regimen nicht unbedingt gewogen war.
Wo sie die Bedrohung erkannten, versuchten die arabischen Regime, die Islamisten durch teilweise äußerst brutale Verfolgung oder durch Instrumentalisierung und Integration in die staatlichen Institutionen auszuschalten. So wurden etwa die Islamisten im Libanon, in Jordanien, in Kuwait und in Jemen erfolgreich eingebunden. Dort sitzen sie im Parlament, in einigen Fällen stellten sie auch Minister. Dagegen wurden sie in Syrien durch entsetzliche Massaker dezimiert, in Tunesien und im Irak gnadenlos unterdrückt. In Algerien hat die Fraktion der éradicateurs innerhalb des Regimes, die für die völlige Auslöschung der Islamisten eintritt, bislang nur erreicht, dass ein äußerst blutiger Konflikt sich endlos hinzieht.
Es ist auch keineswegs so, dass der Konflikt zwischen Islamisten und Machthabern identisch ist mit der Konfrontation von Gegnern und Befürwortern eines weltlichen Staates. Auch in einigen der Staaten, die den politischen Islam bekämpfen, sind die heiligen Schriften des Islam die Grundlage von Verfassung und Gesetzgebung. Andere Staaten wiederum tun alles, um die Islamisierung so weit voranzutreiben, dass zwischen dem Regime und seinen islamistischen Gegnern kaum noch ein Unterschied auszumachen ist. Die besten Beispiele dafür sind Saudi-Arabien und Ägypten. Mit wenigen Ausnahmen haben alle Staaten der Region zeitweise mit den Islamisten paktiert und sie als Alliierte gegen noch gefährlichere Gegner benutzt. Der ägyptische Präsident Anwar al-Sadat zum Beispiel protegierte sie in den Siebzigerjahren, um die linken Nasseristen und die Kommunisten in Schach zu halten – absurderweise waren es dann Islamisten, die Sadat 1981 ermordeten. Sein Amtsnachfolger Hosni Mubarak ließ von der Verfolgung der Islamisten eine Zeit lang ab, als diese sich im Kampf gegen die Sowjetunion in Afghanistan engagierten – auch er wurde dann 1995 Ziel eines islamistischen Attentats. König Hussein von Jordanien stützte sich in Konflikten mit Gruppen, die seine Macht bedrohten, wiederholt auf die Islamisten, und auch der jemenitische Staatspräsident Abdallah Saleh nahm im Krieg gegen die marxistische Führung von Südjemen islamistische Bündnispartner in Anspruch. Ebenso hielt es der frühere sudanesische Präsident Dschaafar al-Numeiri: Er brauchte die Islamisten, um sich der Parteien zu erwehren, die gegen seine absolutistische Herrschaft antraten, und um die christlich-animistischen Rebellenbewegungen im Süden des Landes niederzuhalten.
In Israel sah es kaum anders aus. Solange die Muslimbrüder in den besetzten Gebieten vor allem gegen Jassir Arafats PLO antraten, in der sie eine aus Nationalisten und Marxisten zusammengewürfelte Bande von Verrätern an der islamischen Sache sahen, erhielten sie diskrete Unterstützung von der jeweiligen israelischen Regierung. Wie kurzsichtig diese Politik war, musste die israelische Führung dann aber 1987 einsehen, als die Bruderschaft mit Beginn der ersten Intifada die Hamas ins Leben rief. Diese islamistische Bewegung hat sich bis heute der Befreiung Palästinas durch Terrorismus und bewaffneten Kampf verschrieben.
Auch die USA reagierten ähnlich wie Israel und die arabischen Staaten. Lange Zeit sah man in Washington die Islamisten als natürliche Bündnispartner: Sie waren unversöhnliche Feinde der „kommunistischen Atheisten“ und Verfechter der Marktwirtschaft, womit sie sich aus amerikanischer Sicht ihren Platz in der „freien Welt“ verdient hatten. Also behandelte man sie nachsichtig und machte sie zu Bundesgenossen. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs unterhielten die USA eine unverbrüchliche Allianz mit Saudi-Arabien, dem Stammland des fundamentalistischen wahhabitischen Islam. Im Kampf gegen den Nasserismus und gegen das sowjetische „Reich des Bösen“ fanden sich während der Fünfziger- und Sechzigerjahre verschiedene islamische Staaten und islamistische Bewegungen als Hilfstruppen im amerikanischen Lager. Damals sah man den „Kampf zwischen Gut und Böse“ in seiner ersten Fassung.
Die Situation änderte sich grundlegend durch drei aufeinander folgende Ereignisse: die Vertreibung der Roten Armee aus Afghanistan, den Golfkrieg und die Auflösung des sowjetischen Imperiums. Seitdem konnte sich in den afghanischen Bergregionen eine neue Spielart des Islamismus entwickeln. Seine Träger waren die Mudschaheddin, die sich nicht mehr als eingeborene Hilfstruppen der USA verstanden. Ussama Bin Laden und seine zukünftigen Anhänger waren überzeugt, dass sie durch heldenhaften Kampf und große Opfer ein islamisches Land befreien könnten. Für diese Kämpfer, von denen sich viele als Märtyrer verstanden, muss die Enttäuschung nach ihrem Sieg umso größer gewesen sein, als sie keinerlei Anerkennung oder Entschädigung bekamen, in der Regel ohne Arbeit und Einkünfte blieben und auch keine Pläne für ihre Integration in die Gesellschaft entwickelt wurden. Die USA, die sich letztlich doch ein wenig in der Pflicht fühlten, versuchten mit sanftem Druck, einige widerstrebende Regierungen zu bewegen, diese heiligen Krieger wieder aufzunehmen. Vergebens – mit der Folge, dass sich diese dann ganz der Gewalt verschrieben: in Algerien, in Kaschmir, in Palästina, im Libanon und in Ägypten und später in Bosnien und Tschetschenien. Als Ägypten sich weigerte, Scheich Omar Abdel Rahman aufzunehmen, der in die Ermordung von Präsident Sadat verstrickt war, wurde ihm 1991 in den USA politisches Asyl gewährt. Zwei Jahre später organisierte der blinde Scheich den ersten Anschlag auf das World Trade Center in New York, was ihm eine langjährige Haftstrafe einbrachte.
Zyklischer Antiamerikanismus
DER Golfkrieg von 1990 bis 1991 führte in der gesamten arabisch-muslimischen Welt zu Massenprotesten. Die Menschen gingen dabei jedoch nicht aus Sympathie für Saddam Hussein auf die Straße, sondern um gegen die einseitige Haltung Washingtons zu protestieren, gegen eine Politik, in der mit „zweierlei Maß“ gemessen wurde. Empört fragte man sich fast überall in den islamistischen und nationalistischen Medien, warum Irak wegen seines Einmarschs in Kuwait mit Sanktionen belegt wurde, während Israel seit Jahrzehnten ungestraft arabisches Territorium besetzt halten durfte. Nach welcher Logik funktionierte ein Embargo, das im Lauf der Jahre zum Tod von hunderttausenden irakischer Kinder führte? Und was brachte die Amerikaner dazu, direkt nach dem Krieg in mehreren Golfstaaten, vor allem in Saudi-Arabien, militärische Stützpunkte einzurichten, wenn nicht die Absicht, unpopuläre und in einigen Fällen vom Sturz bedrohte Herrscher zu schützen? Die alleinige Supermacht USA, die nach dem Zerfall der Sowjetunion den Beginn einer neuen Weltordnung verkündet hatte, wurde so zur bevorzugten Zielscheibe sämtlicher Islamisten – auch jener, die unter dem Label Bin Laden firmierten.
Die Feindschaft gegen die Außenpolitik der USA ist gewiss keine arabisch-muslimische Erbkrankheit, auch wenn das gerne so dargestellt wird. Antiamerikanische Ressentiments manifestieren sich inzwischen weltweit, in Afrika, Lateinamerika und Asien – auch in Europa, und dort nicht nur in der muslimischen Bevölkerung. Diese ablehnende Haltung ist aber keineswegs unumstößlich. In der neueren Geschichte gab es immer wieder Zeiten, in denen die Amerikaner in der arabischen Welt sehr populär waren. Das gilt zum Beispiel für Präsident Wilson, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs allen kolonisierten Völkern die Befreiung versprach, oder auch für Präsident Roosevelt, der sich 1944 gegenüber König Ibn Saud verpflichtete, die arabischen Staaten an der Lösung des Palästinaproblems zu beteiligen. Nach dem Zweiten Weltkrieg galten die USA als Gegner des britischen und französischen Kolonialismus, im Suezkrieg 1956 rief Eisenhower Großbritannien, Frankreich und Israel zur Beendigung der militärischen Operationen gegen Ägypten und zum sofortigen Truppenrückzug auf. In solchen Zeiten hätte eine Figur wie Bin Laden keine Chance gehabt.
Um einen inneren Zusammenhang zwischen Terrorismus und Islam zu konstruieren, waren die Medien bereit, bis ins 11. Jahrhundert zurückzugehen und auf die Verbrechen der Sekte der Assassinen zu verweisen. Jeder ernsthafte Historiker wird natürlich klarstellen, dass solche Parallelen zu den Unternehmungen Bin Ladens völlig unsinnig sind. Tatsächlich ist der Terrorismus ein globales Phänomen, es gab und gibt ihn überall auf der Welt, in so unterschiedlichen Ländern wie Deutschland, Japan, Italien, Argentinien oder Griechenland. Seine so genannte islamische Variante ist erst vor kurzem entstanden, zuvor war er nacheinander oder gleichzeitig palästinensisch, israelisch, ägyptisch oder jemenitisch, er war eine dauerhafte oder lediglich sporadische Erscheinung, er hatte individuelle, nationalistische oder staatliche Ursprünge und suchte seine Ziele zumeist im eigenen Land.
Dagegen ist der Terrorismus der Organisation al-Qaida, die Ussama Bin Laden am Ende des antisowjetischen Kriegs in Afghanistan gründete, von ganz anderer und ganz eigenständiger Qualität. Ihr Terror richtet sich fast ausschließlich gegen US-amerikanische Interessen, sein Wesen und sein Rekrutierungsfeld sind transnational, denn al-Qaida handelt im Namen der Umma, der über fünf Kontinente verteilten „Gemeinschaft der Muslime“. Dieser Terrorismus ist mithin „globalisiert“, er agiert weltweit – nach Auskunft des US-Außenministeriums in mehr als fünfzig Staaten – und bedient sich solcher Methoden und Techniken, die erst durch die Globalisierung Verbreitung fanden. Seine Gefolgsleute kommen aus dem Mittelstand und sind nicht selten mit der westlichen Kultur aufgewachsen, sie organisieren sich in kleinen Gruppen, handeln fast autonom – nur geleitet von den allgemeinen Direktiven eines „Zentrums“, das schemenhaft bleibt, sich von keinem Staat instrumentalisieren lässt und für seine Logistik und Finanzierung ausschließlich auf private Initiativen, auf Wohlfahrtseinrichtungen und reiche Spender zurückgreift.
Agierten die Terroristen von einst im Namen von Organisationen, die sich zugleich gewaltfrei in der politischen Öffentlichkeit betätigten, so verfügen die Anhänger Bin Ladens, so weit erkennbar, über keinen organisierten Rückhalt in der Bevölkerung islamischer Länder. Sie sind sozusagen Entwurzelte, die den Anspruch erheben, in Wort und Tat die Weltgesamtheit der etwas über eine Milliarde Muslime aller Glaubensrichtungen zu vertreten.
Die höchsten geistlichen Autoritäten des Islam, der Sunniten wie der Schiiten, haben die Selbstmordattentate vom 11. September praktisch einmütig verurteilt – was von den westlichen Medien freilich weitgehend ignoriert wurde. In feierlichen Erklärungen oder beim Freitagsgebet in den Moscheen erklärten sie das Massaker an Unschuldigen für ebenso unvereinbar mit Geist und Buchstaben der heiligen Schriften des Islam wie den Selbstmord der Attentäter, den jede der drei großen monotheistischen Religionen verbietet. Welchen Wert soll man also den Fatwas beimessen, in denen Bin Laden und seine Mitstreiter zum Dschihad aufrufen? Deren Autorität als Religionsgelehrte scheint äußerst zweifelhaft. Ähnliches gilt für das wenig sittenstrenge Verhalten der Luftpiraten. Zwei von ihnen sollen vor ihrer Schreckenstat in Florida in Bars gesessen und Alkohol getrunken haben.
Auch die islamistischen Bewegungen der arabischen Welt haben sich, bis auf wenige Ausnahmen, zu den Ereignissen geäußert. So hat etwa die al-Nahda, die tunesische Untergrundorganisation von Rached Ghannouchi, in einem Kommuniqué die Terroraktionen „rückhaltlos verurteilt“, und zwar als „barbarische Handlungen, die durch nichts zu rechtfertigen sind“ und die „nicht den Muslimen zugeschrieben werden dürfen“. Andere islamistische Organisationen zogen es vor, sich weniger deutlich, aber ebenso ablehnend gegen „alle Gewalttaten, von wem sie auch ausgehen“, zu äußern.
Statt sich auf den Islam und seine angebliche Nähe zu Fanatismus und Terrorismus zu konzentrieren, sollte man sich vielleicht eher mit der geistigen Verfassung der Massenmörder vom 11. September befassen. Man sollte über die Faszination des Todes nachdenken, für die nicht nur Bin Laden steht, sondern der auch einige Sekten in Europa und den USA erlagen und dadurch traurige Berühmtheit erlangten. Und man sollte sich fragen, was das Glücksgefühl bedeutet, das Selbstmordattentäter vor ihrer Tat offenbar beseelt.
Nun wird Bin Laden zwar von den Islamisten und den islamischen Religionsgelehrten abgelehnt und implizit als Ketzer betrachtet, dennoch scheint er Verständnis und Sympathie in verschiedenen, nicht nur muslimischen Gesellschaften zu finden. Dies überrascht wenig: Menschen, die sich entrechtet und von der Globalisierung benachteiligt fühlen, die sich als Opfer eines arroganten Hegemonialstrebens der Vereinigten Staaten sehen, mögen von den religiösen Haarspaltereien und den abscheulichen Methoden von al-Qaida wenig halten – dennoch haben sie die politische Botschaft offenbar verstanden. Eine Botschaft, von der die éradicateurs des Feldzugs „Dauerhafte Freiheit“ nichts wissen wollen – auf die Gefahr hin, dass sie der Behauptung Recht geben, es handle sich um einen Krieg der Religionen.
dt. Edgar Peinelt
* Journalist