14.12.2001

„Mein Land ist nicht die Zapfsäule Amerikas“

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„Mein Land ist nicht die Zapfsäule Amerikas“

SADDAM HUSSEIN sei äußerst gefährlich, befand unlängst George W. Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und fügte hinzu: gefährlich für sein Volk, für die Region wie für die USA. Während der Krieg in Afghanistan seinem Ende entgegengeht, verkünden die USA, dass der gegen den Terrorismus fortgesetzt werde. In Washington diskutiert man derzeit die nächsten Ziele – und somit die Irakfrage. „Wir könnten die UN-Waffeninspekteure wieder ins Land lassen, sobald die Sanktionen gegen uns aufgehoben sind“, erklärte der irakische Außenminister und machte deutlich, dass sein Land eine amerikanische Militäraktion befürchtet. Eine solche Aktion würde freilich die arabische und islamische Welt, die über die Tatenlosigkeit der Amerikaner in Palästina ohnehin empört ist, weiter gegen die USA aufbringen und die Position der Machthaber am Golf schwächen.

Von unserem Korrespondenten ÉRIC ROULEAU

Zu den Bündnispartnern, auf die sich Washington derzeit bedingungslos verlassen kann, gehören Bahrein, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate. Die drei Golfstaaten bieten ideale Voraussetzungen. Sie glauben, auf die USA als Schutzmacht angewiesen zu sein, und sind darum bereit, auf ihrem Territorium zu akzeptieren, was immer ihnen von Uncle Sam angedient wird – Soldaten und Militäreinrichtungen, Agenten von CIA und FBI und in deren Gefolge die Waffenhändler und anderweitigen Spezialisten. Auch im Bereich der Globalisierung legen sie ein mustergültiges Verhalten an den Tag: Sie haben sich ein neoliberales Wirtschaftssystem zugelegt und der Wall Street hunderte von Milliarden Dollar anvertraut. Auf Zuruf sind sie bereit, die Interessen der westlichen Industrien über ihre eigenen zu stellen und den Ölpreis auf einem „vernünftigen“ Niveau zu halten. Außerdem kaufen sie fleißig Produkte mit dem Label „made in USA“.

Doha hat unlängst die vierte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) ausgerichtet. Die Herrscher und Eliten der Golfstaaten, überwiegend an britischen und amerikanischen Universitäten ausgebildet, schätzen privat den westlichen Lebensstil, lieben New-Orleans-Jazz und Hollywoodfilme und begeistern sich für Pragmatismus, Erfindergeist und Tatkraft der amerikanischen Nation. Nach den Anschlägen vom 11. September schlossen sich die drei Staaten erwartungsgemäß der Antiterrorkoalition an, um unter dem Banner der „dauerhaften Freiheit“ gegen den Terrorismus zu Felde zu ziehen.

Rasch stellt der ausländische Beobachter jedoch fest, dass der Schein trügt, und beginnt den unermesslich tiefen Abgrund zu ahnen, der diese muslimischen arabischen Gesellschaften von den USA trennt – von der Außenpolitik und der globalen Strategie der Supermacht Amerika, um es genauer zu sagen. Vom Staatschef bis zum einfachen Bürger sind sich alle erstaunlich einig in der Kritik, die mehr oder minder differenziert vorgetragen wird und deren Stoßrichtung auch davon abhängt, ob man sich mit einem Liberalen, einem Nationalisten oder einem Islamisten unterhält – die grundsätzlichen Argumente allerdings bleiben die Gleichen. Man ist dann aber doch erstaunt, aus dem Munde des Emirs von Katar, Scheich Hamad bin Chalifa, den Satz zu hören: „Mein Land ist nicht die Zapfsäule Amerikas.“ Oder die schroffen Worte an die Adresse eines ranghohen Gastes aus Frankreich: „Ich bin keine Marionette Washingtons und werde es niemals sein.“

Vor kurzem kam der Herrscher dieses schwerreichen Emirats – mit einem der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt – äußerst enttäuscht von einem Besuch in Washington zurück. Er empfand es geradezu als erniedrigend, wie man ihn dort empfangen hatte. Neben anderen Demütigungen hatten seine Gesprächspartner von ihm verlangt, den einst von ihnen hochgelobten Fernsehsender al-Dschasira gleichzuschalten – er war die Glanzleistung jener Liberalisierung gewesen, die der Emir unter US-Anleitung ins Werk gesetzt hatte. Außerdem musste er erleben, dass man sich schlicht weigerte, ihm irgendeinen Beweis dafür vorzulegen, dass Ussama Bin Laden die Verantwortung für die Anschläge vom 11. September trage. „Ich habe nach wie vor große Zweifel“, erklärte er im privaten Gespräch und erläuterte eine Reihe durchaus plausibler anderer Möglichkeiten.

Solche Bedenken werden von der Öffentlichkeit geteilt: Nach Umfragen hält die Mehrheit der Bevölkerung in der Region den Führer der al-Qaida-Organisation nicht für den Urheber der Attentate, und sieht ihn im Übrigen auch nicht als religiöse Autorität. „Bin Laden ist nichts weiter als ein Hochstapler“, meint Scheich Sultan Bin Sayed, stellvertretender Ministerpräsident von Abu Dhabi. „Nur der Westen hat ihn zum islamischen geistlichen Führer erklärt.“ Und der Herausgeber einer großen Tageszeitung in Dubai findet auch Bin Ladens Vorwürfe gegen Israel wenig überzeugend: Es sei schließlich bekannt, dass die palästinensischen und libanesischen Widerstandsorganisationen von dem saudischen Milliardär keinen Dollar und keine Patrone gesehen hätten.

Bin Laden – der Hochstapler

KEIN Mensch glaubt hier an ein ernsthaftes politisches Konzept Bin Ladens, außer vielleicht das einer Destabilisierung der arabischen Regime, allen voran Saudi-Arabiens, dem seine besondere Verachtung gilt. Aber dieser „Hochstapler“ ist äußerst populär, er wird als „Robin Hood“ und als „arabischer Che Guevara“ bezeichnet. Die Faszination, die er auf die Massen ausübt, erklärt man sich daraus, dass er es als Einziger wage, die größte Weltmacht herauszufordern, ihr Heuchelei, Parteilichkeit und Ungerechtigkeit vorzuwerfen. „Hat nicht auch Che Guevara überall in der Dritten Welt Millionen Anhänger gefunden, die keine Kommunisten waren?“, fragt Scheich Saud, Sohn des Emirs von Ras al-Chaima und ein politisch einflussreicher Mann, der in den USA studiert hat.

Die Regierungen haben sich jedenfalls bemüht, die Anweisungen aus Washington für den Kampf gegen den Terrorismus genau zu befolgen. Den US-Streitkräften wurde jede Unterstützung zuteil, man arbeitete eng mit CIA und FBI, aber auch mit den britischen und französischen Geheimdiensten zusammen. In den Vereinigten Emiraten wurden nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Taliban-Regime hunderte Personen verhaftet („in Schutzhaft genommen“, wie es offiziell hieß), unter ihnen etwa hundert Militärangehörige. Man führte gemeinsam mit US-Geheimdienstlern scharfe Verhöre durch, afghanische und pakistanische Staatsbürger, die im Verdacht standen, mit Bin Laden zu sympathisieren, mussten das Land verlassen, und Imame, die sich einer Zensur ihrer Freitagspredigt verweigerten, erhielten Hausarrest. Der bekannte Islamist Hassan Alkim, persönlicher Berater des Erbprinzen von Ras al-Chaima, verlor trotz Bekenntnisse zur Demokratie seine Universitätsprofessur für Internationale Beziehungen. Immerhin darf Alkim, der ebenfalls in Großbritannien und den USA studiert hat, weiterhin seine wöchentliche Kolumne in der halbamtlichen Tageszeitung Al-Ittihad schreiben.

Derart drakonische Maßnahmen mussten die Regierungen von Bahrain und Katar nicht ergreifen. In Bahrain bestehen sunnitische und schiitische islamistische Bewegungen, die jedoch den Terror grundsätzlich ablehnen und auch noch nie Anschläge ausgeführt haben. Die meisten von ihnen treten seit einem Vierteljahrhundert gemeinsam mit weltlichen Parteien für die Einführung eines demokratischen Mehrparteiensystems ein, sind aber zugleich dem Herrscher des Emirats treu ergeben, der Anfang 2001 das politische System liberalisiert hat. Bahrain ist ein Touristenparadies, wo man den westlichen Verhaltensweisen mit Offenheit und Toleranz begegnet – hunderttausende von Muslimen, vor allem aus Saudi-Arabien kommen regelmäßig nach Bahrain, um dort jene Freiheiten zu genießen, die ihnen zu Hause verwehrt sind.

In Katar gibt es keine Bewegungen im Namen der Religion des Propheten, und die Einzelnen, die sich zu dieser Richtung bekennen – spöttisch als die „Islamisten im Mercedes“ bezeichnet – treten in keiner Weise offensiv auf. In den Korridoren der Macht sind sie allerdings durchaus präsent. So hat sich Scheich Fahd, der jüngste Sohn des herrschenden Emirs, mit „Afghanen“ umgeben, mit Arabern also, die in den 1980er-Jahren als Glaubenskrieger gegen die sowjetische Besatzungsmacht in Afghanistan kämpften. Die Herrscherfamilie ist zerstritten, sie zählt in ihren Reihen auch einige „Modernisierer“, an deren Spitze der Emir selbst steht. Hamad Ibn Isa al-Chalifa, bekannt für seine Liebe zu Frankreich, wird unterstützt von seiner streitbaren Gattin, Scheicha Moza a-Misnad und seinem Außenminister Scheich Hamad Bin Jassem. Der Innenminister, auch er ein Mitglied der Herrscherfamilie, wurde kaltgestellt, weil seine allzu konservativen Haltungen der Liberalisierung des öffentlichen Lebens hinderlich waren. Obwohl die strenge wahhabitische Schule des Islam Staatsreligion ist, können die Bürger Bahrains in der Öffentlichkeit Alkohol erwerben, und die Frauen müssen keinen Schleier tragen.

Islamistische Aktivitäten sind mit Geschick unterdrückt worden, ein anderes Problem jedoch bleibt ungelöst: die verdeckte Finanzierung terroristischer Gruppen. Zweifelhafte Konten einzufrieren hat sich in Bahrain als weitgehend wirkungslos erwiesen, weil es dort dutzende von ausländischen Banken gibt, die ihren Firmensitz offshore haben und nicht der staatlichen Aufsicht unterliegen. In Katar versichern die Vertreter des Bankwesens, zumeist Angehörige der Herrscherfamilie, ihre Kunden seien bis auf wenige Ausnahmen über jeden Verdacht erhaben. Und in den Vereinigten Arabischen Emiraten wurden die Konten von 149 Banken „unter Aufsicht gestellt“, mit der Drohung, sie einzufrieren, sollten sich verdächtige Geldbewegungen zeigen.

Aus US-amerikanischer Sicht stehen auch die äußerst vermögenden islamischen Wohlfahrtseinrichtungen im Verdacht, subversive Bewegungen zu finanzieren. Dabei dürfen die Regierungen am Golf nicht aus dem Blick verlieren, dass diese Institutionen in zweifacher Hinsicht eine wichtige Rolle spielen. Zum einen helfen sie den Armen in der muslimischen Welt, vornehmlich durch die Finanzierung von Infrastrukturprojekten, aber auch durch direkte Zuwendungen an Familien in Not. Zum anderen unterstützen sie auf unterschiedliche Weise die „Glaubenskrieger für die Freiheit“ in einer Reihe von Ländern, so in Tschetschenien, auf dem Balkan, im Kaukasus und in Palästina. Vermutlich werden dabei auch Gelder für moralisch zweifelhafte Zwecke abgezweigt – was sich jedoch kaum beweisen lässt. Zum Missfallen ihres amerikanischen Verbündeten haben die Regierungen vor dieser äußerst heiklen Frage kapituliert.

Erfolgloser Kampf gegen die Geldwäsche

ALS ebenso erfolglos erweist sich der Kampf gegen die Geldwäsche. Vor allem der Hafen von Dubai, einschlägig bekanntes Steuerparadies für Anleger und Spekulanten, sicherer Hort und Umschlagplatz für Kapital aus zweifelhaften Quellen, ist Schauplatz von Dreiecksgeschäften, bei denen Schmuggelware und Rauschgift nach allen Regeln der internationalen Mafias umgesetzt werden. Hier treffen sich die Interessenten aus aller Welt, von Moskau bis Kapstadt, von Texas bis Indien. Der Chefdiplomat der Emirate, Scheich Hamdan bin Sayed, ist verärgert: „Wieso regen sich alle über Dubai auf? Im Zeitalter der Globalisierung bildet dieser Hafen nur ein Glied in einer langen Kette von Finanzplätzen, die von New York über Genf, Singapur und Hongkong bis nach London reicht.“ Mit anderen Worten: Die Terroristen der unterschiedlichsten Richtungen müssen sich um die Finanzierung ihrer Aktivitäten keine Sorgen machen, ganz gleich was mit Bin Laden und seinen Komplizen geschehen wird.

Obwohl das Taliban-Regime kaum Sympathien genießt, stößt der US-Militärschlag gegen Afghanistan bei der Mehrheit der Bevölkerung (laut Umfrage sind es 80 Prozent) auf Ablehnung, und auch die Staatsführungen haben ihre Vorbehalte. Öffentlich ist keines der drei Länder für die Intervention der USA eingetreten. Man ist überzeugt, dass sie keine Abhilfe schaffen kann – selbst wenn sie erfolgreich sein wird. In Doha erklärt der Chefdiplomat Katars im Gespräch, er habe „Verständnis dafür, dass die Amerikaner ihre Toten rächen“, aber er fürchte die „katastrophalen“ Folgen eines lang andauernden Kriegs, vor allem Staatskrisen in Pakistan und Saudi-Arabien .

In Abu Dhabi sieht Scheich Hamdan Bin Sayed ein grundsätzliches Problem: „Für uns ist das eine Frage des Prinzips“, meint der Staatsminister für Auswärtige Angelegenheiten der Emirate. „Dass sich eine Macht, gleich welche, anmaßt, ein Regime in einem anderen Land zu stürzen, und sei es noch so verabscheuungswürdig, schafft einen gefährlichen Präzedenzfall in den internationalen Beziehungen. Das erscheint uns unannehmbar.“ Der stellvertretende Ministerpräsident Scheich Sultan Bin Sayed bedauert „das einseitige Vorgehen der Vereinigten Staaten. Damit wurden die Vereinten Nationen übergangen, die für diese Angelegenheit zuständig sind und sie sicher anders und besser zu regeln vermocht hätten.“

In Manama weiß sich der Chefdiplomat Bahrains, Scheich Mohammed Bin Mubarak, mit allen seinen Amtskollegen in der arabischen Welt einig: Die USA wären besser beraten gewesen, sich zunächst mit den politischen Ursachen des Terrorismus zu befassen. Dabei spielten die Enttäuschungen, die der endlose Nahostkonflikt verursache, eine entscheidende Rolle.

Die Formulierungen, mit denen die politisch Verantwortlichen am Golf dieses Thema kommentieren, ähneln sich so sehr, dass man von einem Konsens sprechen kann: Die USA sollten unbedingt, in enger Abstimmung mit Europa und den Vereinten Nationen, eine Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt finden und verhindern, dass der Aufstand der Palästinenser weiter blutig niedergeschlagen werde. Die Demagogie des al-Qaida-Führers Bin Laden, der das parteiische Verhalten der USA zur Rechtfertigung seiner Verbrechen hernehme, dürfe nicht von der wachsenden Empörung in der arabischen Bevölkerung ablenken, die einen Nährboden für alle Formen von Extremismus bilde. Eine Regelung des Palästinakonflikts werde dagegen die Chance einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens eröffnen.

Es ist gewiss kein Zufall, dass alle Gesprächspartner irgendwann daran erinnerten, dass „der Frieden mit Israel zu den strategischen Zielen der Mitgliedstaaten der Arabischen Liga gehört“ – gemäß einer Resolution, die unmittelbar nach den Osloer Verträgen von der Liga verabschiedet wurde. „Wir versichern den Vereinigten Staaten immer wieder, dass wir bereit sind, den Staat Israel anzuerkennen und eine Normalisierung der Beziehungen zu ihm einzuleiten“, erklärt zum Beispiel der Chefdiplomat der Vereinigten Arabischen Emirate, „und zwar sobald Israel sich bereit erklärt, die besetzten Gebiete zu räumen.“ Katar hat seine wohl wollende Haltung deutlich gemacht, indem die Handelsvertretung Israels in Doha nur „vorübergehend“ geschlossen wurde – auf diese Weise konnten die israelischen Diplomaten in Erwartung besserer Zeiten im Land bleiben.

Was die Entschlossenheit der USA angeht, eine gerechte Lösung des Nahostkonflikts herbeizuführen und ihren „Krieg gegen den Terrorismus“ einzugrenzen, haben alle beschwichtigenden Erklärungen von Präsident George W. Bush und seinem Außenminister Colin Powell die Zweifel nicht zerstreuen können. Man verweist etwa auf die von 89 (der 100) Mitgliedern des US-Senats unterzeichnete Petition an Präsident Bush, den israelischen Ministerpräsidenten Scharon in seinem Kampf „gegen den palästinensischen Terrorismus“ nicht zu behindern. Vor allem fürchten die politischen Führungen am Golf, dass die USA gegen palästinensische Organisationen, wie die Hamas, den Islamischen Dschihad und die Volksfront für die Befreiung Palästinas vorgehen könnten, die in der arabischen Welt als Widerstandsbewegungen gesehen werden. Und sie fürchten weitere Militärschläge gegen Staaten, insbesondere den Irak, die nach Ansicht der USA den Terror unterstützen. Ein solches Vorgehen, so die einhellige Meinung, kann den Graben zwischen dem Westen und der arabisch-muslimischen Welt nur vertiefen; man wird mit den schlimmsten Folgen rechnen müssen.

dt. Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von ÉRIC ROULEAU