14.12.2001

Es geht nicht um Bin Laden

zurück

Es geht nicht um Bin Laden

Von SAAD MEHIO *

BEGRIFFE wie „islamische Geopolitik“ und „regionales traditionelles System“ stehen bei arabischen Intellektuellen des Nahen Ostens hoch im Kurs. Und das aus gutem Grunde, denn mit diesen Begriffen arbeiten die Intellektuellen heraus, auf welch skrupellose und unmoralische Weise der Westen und seine despotischen arabischen Bündnispartner auf die islamische Karte gesetzt haben. „Islamische Geopolitik“ meint dabei den Einsatz der Religion als politische Waffe, während die Rede vom „regionalen traditionellen System“ die konservative, sterile und fundamentalistische Version des Islam bezeichnet, die während des gesamten Kalten Krieges das Feld der ideologischen und politischen Macht besetzt hielt.

Heute werden diese beiden eng verschränkten Begriffe von arabischen Modernisierern und liberalen Nationalisten häufig sogar überstrapaziert, was von deren latentem Groll gegen die Amerikaner herrühren dürfte. Diese Intellektuellen glauben, eigentlich müssten die USA nach dem unglaublich brutalen Akt des 11. September Schuldgefühle und Reue empfinden. Denn im Nachhinein müsste ihnen klar geworden sein, welch großer strategischer Fehler es war, dass sie in den 1950er-Jahren im Nahen Osten den traditionellen Islam gegen die arabischen nationalistischen Bewegungen unterstützt haben.

Dieser Fehler war in der Tat enorm. US-Autoren wie Eugene V. Rostow, Donald Neff und Evan M. Wilson haben in ihren Publikationen dargelegt, dass ein Konflikt zwischen den USA und der arabischen Welt damals keineswegs unvermeidlich gewesen ist. Das Ägypten Nassers etwa wollte durchaus einen Ausgleich mit den Amerikanern, und die Regierungen Eisenhower und Kennedy wären ihrerseits ebenfalls zu einem Bündnis mit den arabischen nationalistischen Bewegungen bereit gewesen, denn sie erkannten deren Modernisierungskraft und hielten sie für geeignet, die arabische Welt in das politische Weltsystem zu integrieren.

Dass in Wirklichkeit das genaue Gegenteil geschah und es zum Konflikt kam, rührte daher, dass einflussreiche Regierungsvertreter in Washington Nassers Streben nach Unabhängigkeit als antiwestliche Feindschaft missverstanden – vor allem in der Hochzeit des Kalten Krieges und nach dem Suez-Feldzug von 1956. Damals suchten die USA andere Verbündete in der Region, die weniger auf Unabhängigkeit bedacht waren und eher bereit, Anweisungen unhinterfragt Folge zu leisten; so kam die Idee auf, die traditionellen islamistischen Bewegungen zu unterstützen, um so das atheistische Sowjetimperium mit einem Gürtel von gläubigen muslimischen Regimen zu umgeben, der sich vom Persischen Golf und dem Indischen Ozean nach Westen bis Nordafrika und nach Osten bis Südostasien erstrecken sollte.

Mit diesem Konzept glaubten die USA die Türen der Sowjetunion im muslimischen Zentralasien eindrücken zu können. Als sie den Arabismus à la Nasser für tot erklärten, war das eigentliche Vorspiel zum Junikrieg 1967 eingeläutet, der dem nasseristischen Modernisierungsmodell endgültig den Garaus machte und den islamistischen Traditionalismus in all seinen Schattierungen zur freien Entfaltung kommen ließ.

Die geförderten muslimischen Diktaturen – nicht nur in der arabischen Welt – überließen das Feld der Erziehung und der Kultur den Islamisten. Damit entrichteten sie für ihre politische Legitimierung durch den Westen einen denkbar geringen Preis: Die Massen sollten in Unwissenheit gehalten und, all ihre Hoffnungen auf das Leben nach dem Tode richtend, daran gehindert werden, einen politischen und ökonomischen Fortschritt gegen die Eliten durchzusetzen.

Nach diesem – äußerst verkürzten – historischen Rückblick kommen wir auf die beiden entscheidenden Fragen: Wie muss man heute die Konzeptionen, Ideen und geostrategischen Erwägungen einschätzen, die Washington mit seiner Politik der letzten fünfzig Jahre verfolgt hat? Und welche Konsequenzen könnten die grauenvollen Anschläge vom 11. September für diese Konzeptionen und Erwägungen haben?

Was die erste Frage anbetrifft, so ist in den letzten Jahren offensichtlich geworden, dass die USA ihre frühere Politik überdenken müssen. Zwei Elemente kennzeichneten diese Politik: ein pragmatisches Verhältnis zum Öl und zum globalen Ölmarkt zum einen und zum anderen ein exzessives Engagement für Israel. Auch nach dem Ende des Kalten Krieges hielt Washington zur Aufrechterhaltung des Status quo am „Bündnis“ der westlichen Demokratie mit der arabischen Autokratie fest. Im Interesse der Aufrechterhaltung dieses Bündnisses schloss Washington auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die arabische Welt von der sich allenthalben anbahnenden demokratischen Revolution aus und ignorierte die inneren Vorgänge in der Region, solange diese den heiligen Zwillings-Gral – die Ölversorgung und Israel – nicht gefährdeten.

Praktisch folgten aus dieser Politik unter anderem zwei Dinge: Nachdem die sowjetische Invasion 1989 in Afghanistan zurückgeschlagen war, wandte Washington dem Land wieder den Rücken; ferner schien der Kampf zwischen Modernisierung und Tradition, zwischen Demokratie und Tyrannei im Nahen Osten die USA in keiner Weise zu berühren. Selbst als die US-Außenpolitik ein gewisses Interesse an den Problemen des Nahen Ostens vortäuschte – etwa als Präsident Clinton den Makler für ein Abkommen zwischen den Palästinensern und den Israelis zu spielen versuchte –, folgte das Spiel den alten Regeln: Die US-Regierung unterstützte die arabische Autokratie (in diesem Fall Jassir Arafat), obwohl es die Möglichkeit gehabt hätte, innerhalb der palästinensischen Gesellschaft und innerhalb des Parlaments der Autonomiegebiete die demokratischen Kräfte zu unterstützen.

Doch – und nun kommen wir zur zweiten Frage – dieses ganze auf Pragmatismus und Ignoranz errichtete Gebäude brach am 11. September in sich zusammen, wie die Türme des World Trade Center. Starr vor Entsetzen erkannten die Amerikaner plötzlich, dass unter den arabischen Diktaturen Monster herangezüchtet wurden, die die USA an ihrem wundesten Punkt zu treffen vermochten – mitten im eigenen Lande. Plötzlich spürten die Amerikaner am eigenen Leibe, wie sich der traditionelle Islam in die zerstörerische Kraft des Fundamentalismus verwandeln kann. Mit entsetzlichen Folgen für alle, einschließlich der USA.

Am deutlichsten zeigte sich diese Wirkung jedoch in Pakistan und Afghanistan: Die Milliarden von Petrodollars, die an mehr als 7 500 Koranschulen in Pakistan flossen, halfen, hunderttausende von talibs (das paschtunische Wort für „Schüler“) auszubilden, die nur noch den Gegensatz von „wir“ und „die“ kennen. Und die von der Mathematik bis zum Fernsehen alles verachten, was mit Modernität zu tun hat. In dieser Umwelt entstanden die Taliban, die „afghanischen Araber“, die militanten Kaschmirkämpfer, die tschetschenischen Extremisten. Und diese Umwelt hat auch Bin Laden hervorgebracht. Aber mittlerweile hat sich gezeigt, wie faustisch der Pakt ist: Der Westen hat sich sein eigenes Monster erschaffen – ganz wie vormals der ägyptische Staatspräsident Anwar as-Sadat, als er sich auf ein Bündnis mit den Islamisten gegen die ägyptische Linke und die Nationalisten einließ. Nun kämpft der Westen ums Überleben – gegen einen Feind, den er selbst schuf.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Anfang der 90er-Jahre forderte Paul Kennedy in seinem Buch „Preparing for the Twenty-First Century“ (dt. „In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert“, Frankfurt [Fischer] 1993) vom Westen zweierlei: zum einen ein Eingeständnis, welche Verbrechen er in den letzten 400 Jahren gegen den arabischen Osten begangen hat; zum anderen eine Art „Re-Education“ der arabisch-muslimischen Welt im Sinne von Demokratie und Freiheit. Auch für Farid Zakaria, Herausgeber der Zeitschrift Foreign Affairs, besteht die einzige Lösung darin, die muslimische Welt in die Moderne zu integrieren, was allerdings mit Respekt und Würde zu erfolgen habe. Und selbst Samuel Huntington weist die Vorstellung zurück, dass es sich bei dem jüngsten Konflikt um jenen „Zusammenprall der Kulturen“ handele, den er in seinem berühmten Buch prophezeit hat. Auch er schließt die Möglichkeit nicht aus, dass der Islam mit der westlichen Demokratie vereinbar sei. Ermutigende Gedanken! Aber eben zunächst schöne Theorien, die der Umsetzung in handfeste politische Strategien harren.

Der eigentliche Krieg derzeit wird nicht in Afghanistan ausgetragen, sondern in den Herzen und Köpfen der Menschen. Der Sieg über die Taliban reicht nicht; der Westen muss vielmehr zuallererst die Herzen und Köpfe jener Araber erobern, denen Bin Ladens Söldner ebenso zuwider sind, wie sie die „McWorld“ der neoliberalen Globalisierung hassen. Für die Vereinigten Staaten ist jetzt vielleicht der Augenblick gekommen, die politische Strategie der letzten fünfzig Jahre ernsthaft zu überdenken. Eine solche selbstkritische Rückbesinnung könnte mit dem Eingeständnis beginnen, dass die Bekämpfung des Nasserismus ein fataler Fehler gewesen ist. Warum sollte Washington gerade an diesem Punkt beginnen? Weil ein geläuterter, durch eine gesunde Dosis demokratischer und liberaler Prinzipien aufgebesserter Nasserismus möglicherweise für die arabisch-muslimische Welt der einzige Weg in eine moderne Gesellschaft und eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz ist. Zumal alle anderen Ideologien gescheitert sind.

Benjamin Barber, Autor des Buchs „Jihad Vs. McWorld“ (dt. „Coca-Cola und Heiliger Krieg“, München 2001), schrieb: „Auf lange Sicht kann Krieg den Terror nicht besiegen, weil Gewalt nicht über die Furcht siegen kann. Das kann nur die Demokratie leisten.“ Das könnte ein guter Ratschlag für einen Westen sein, der die letzten fünfzig Jahre damit zugebracht hat, sich mit arabischen und muslimischen Diktatoren an den sonnigen Stränden des Mittelmeeres zu vergnügen.

Aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Libanesischer Journalist.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von SAAD MEHIO