14.12.2001

Rechtsstaat für Terroristen

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Rechtsstaat für Terroristen

ANGENOMMEN, Ussama Bin Laden und weitere mutmaßliche Hintermänner der Terroranschläge vom 11. September würden festgenommen: Wo könnte ihnen der Prozess gemacht werden? Und was wären die Anklagepunkte? Das Problem beginnt mit der Definition des Straftatbestands. Zwar wurden die Begriffe „Terrorismus“, „terroristische Akte“ oder „Terrororganistionen“ seit dem 11. September in zahlreichen Beschlüssen nationaler Parlamente und Regierungen verwendet, wie auch in zwei völkerrechtlich verbindlichen Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats. Doch auf eine genaue Definition konnte sich die Staatengemeinschaft bis heute nicht einigen. Strittig ist vor allem die Unterscheidung zwischen verbrecherischem Terrorismus und legitimer Gewaltanwendung durch Freiheitskämpfer. Auch verlangen einige UNO-Mitgliedstaaten, nicht nur Individuen und Gruppen, sondern auch Staaten als potenziell terroristische Täter in die Definition aufzunehmen.

Am Definitionsstreit scheiterte Ende September in der UNO-Vollversammlung erneut der Versuch, eine weitgehend ausgehandelte Antiterrorismuskonvention fertig zu stellen. Auch die bislang existierenden zwölf „Antiterrorismusinstrumenten“ der UNO (Vereinbarungen, Resolutionen und Deklarationen, die in den letzten 40 Jahren jeweils in Reaktion auf spezifische Taten, wie etwa die Flugzeugentführungen der PLO in den 60er-Jahren, entstanden sind) enthalten keine allgemein gültige Terrorismusdefinition.

Für eine Strafverfolgung mutmaßlicher Hintermänner der Anschläge vom 11. September ist das Fehlen einer Terrorismusdefinition allerdings kein unüberwindbares Hindernis. Die Anschläge lassen sich als „Verbrechen gegen die Menschheit“ (crimes against humanity) klassifizieren. Das lässt sich überzeugend begründen, wie es bereits die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, zahlreiche Völkerrechtler sowie amnesty international und Human Rights Watch getan haben. Crimes against humanity sind seit den Prozessen von Nürnberg und Tokio völkerrechtlich verbindlich definiert. Sie wurden 1993/94 als Straftatbestand (neben „Völkermord“, „Kriegsverbrechen“ und mit Einschränkungen auch „Angriffskrieg“) in die Statuten der Ad-hoc-Tribunale der UNO zu Jugoslawien und Ruanda aufgenommen, wie auch in das 1998 vereinbarte Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH). Der IStGH, dessen Statut im Fall einer Einigung der UNO auf eine Terrorismusdefinition um diesen Straftatbestand erweitert werden sollte, wäre für einen Prozess gegen Bin Laden am besten geeignet.

Allerdings ist das IStGH-Statut noch nicht von den erforderlichen 60 Unterzeichnerstaaten ratifiziert – nicht zuletzt, weil die USA massiven Druck auf zahlreiche Staaten ausüben, dem IStGH nicht beizutreten. Doch selbst wenn die noch fehlenden 17 Ratifizierungen demnächst erfolgen sollte, könnte ein Prozess gegen die Hintermänner des 11. September nicht vor dem IStGH stattfinden, weil dessen Statut ein Rückwirkungsverbot enthält.

Ein Prozess gegen Bin Laden und andere wäre also vor einem internationalen Gericht nur möglich, wenn der UNO-Sicherheitsrat wie im Fall Jugoslawien und Ruanda unter Kapitel 7 der UNO-Charta ein Ad-hoc-Tribunal einrichten würde. Diese Absicht hat bislang jedoch noch kein Mitglied des Sicherheitsrats erkennen lassen. Und das bisherige Verhalten der Bush-Regierung lässt erwarten, dass sie einen entsprechenden Beschluss des Sicherheitsrates durch ihr Veto verhindern würde.

Einige Völkerrechtler schlagen eine andere Variante vor: ein gemeinsames Sondertribunal, das die 80 Staaten bilden könnten, deren Bürgerinnen und Bürger im World Trade Center zu Tode kamen. Doch dem dürften die USA kaum zustimmen. Realpolitisch ist damit nur ein Prozess vor einem nationalen Gericht denkbar. Und zwar in jedem Land der Erde, denn die Bestimmungen des Völkerrechts zu wie „Verbrechen gegen die Menschheit“. „Völkermord“ und „Kriegsverbrechen“ sind selbst für Nichtmitglieder der UNO (wie die Schweiz) verbindlich und Bestandteil aller nationalen Strafgesetze. Politisch wünschenswert (im Sinne einer unvoreingenommenen Justiz) wäre ein Prozess außerhalb der USA. Wobei sich angesichts der weltweiten Betroffenheit über die Anschläge vom 11. September – anders als im Lockerbie-Verfahren – kaum ein Land finden dürfte, das auch aus Sicht der Angeklagten „neutral“ wäre.

Doch auch diese Frage stellt sich realpolitisch nicht, da die Bush-Administration explizit dagegen ist, das Verfahren an ein anderes Land abzugeben. Weil die Strafgesetze der USA – im Unterschied zu den meisten anderen Staaten wie auch zum IStGH und zum Jugoslawientribunal – für Anklagepunkte wie Verbrechen gegen die Menschheit, Mord, Flugzeugentführung und Geiselnahme die Möglichkeit der Todesstrafe vorsieht, könnte die Auslieferung tatverdächtiger Personen allerdings schwierig werden. Die Regierung in Madrid hat bereits erklärt, dass sie derzeit in Spanien inhaftierte Personen mit Verbindungen zu den Anschlägen vom 11. September nicht an die USA ausliefern will.

Abgesehen von der Frage der Todesstrafe ließe sich formaljuristisch gegen einen Prozess in den USA nichts einwenden – wenn er vor einem ordentlichen Gericht stattfände, also nach den Regeln der Ziviljustiz und mit uneingeschränkter Öffentlichkeit. Die Absicht der Bush-Administration, den Prozess vor einem Militärtribunal und unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen, stößt auf gravierende juristische wie politische Bedenken bei Straf- und Völkerrechtlern, Menschenrechtsorganisationen und Politikern außerhalb wie innerhalb der USA. Zwar gibt es bislang keine völkerrechtlichen Vorschriften, die Militärtribunale verbieten oder auch nur einschränken würden. Doch auch in den USA wurde bisher immer eine formelle Kriegserklärung des Kongresses (war powers act) vorausgesetzt. Die ist im Fall des „Krieges gegen den Terrorismus“ bis heute nicht erfolgt. Die Entschließung beider Häuser des Kongresses vom 21. September zur Unterstützung der Bush-Administration war keine formelle Kriegserklärung.

Auch wenn eine solche Kriegserklärung des Kongresses vorliegen würde, blieben erhebliche juristische und politische Bedenken. Vor einem Militärtribunal sind die Rechte der Angeklagten, im Vergleich zu einem Prozess vor einem zivilen Gericht, erheblich eingeschränkt; die Anforderungen an die Eindeutigkeit, Vollständigkeit und Zweifelsfreiheit der vom Ankläger vorgelegten Beweise sind erheblich geringer. Doch selbst wenn vor einem Militärtribunal Beweise gegen Bin Laden und andere Personen präsentiert würden, die auch vor einem zivilen Gericht zu einer Verurteilung ausreichten: in der internationalen Öffentlichkeit würde sich – weit über die islamische Welt hinaus – der Verdacht festsetzen, die Angeklagten seien willkürlich, ohne ausreichende Beweise und unter Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien verurteilt worden.

ANDREAS ZUMACH

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von ANDREAS ZUMACH