14.12.2001

Kein Kriegsverbrechen ohne Krieg

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Kein Kriegsverbrechen ohne Krieg

DER Präsident der USA hat sich an die Spitze der Bewegung gesetzt, die im Kampf gegen den Terrorismus den Rechtstaat – zumindest für Ausländer – abzuschaffen plant. Wichtige rechtsstaatliche Grundsätze und selbst das Prinzip der Gewaltenteilung werden durch die vorgeschlagenen Regeln ausgehebelt. Angesichts der geplanten US-Militärtribunale, die ein deutscher Kritiker „die amerikanische Variante der Scharia“ nennt, dürfen rechtsstaatlich verfasste Länder eigentlich keine mutmaßlichen Terroristen an die USA ausliefern. Die könnten allerdings theoretisch in jedem Land der Erde abgeurteilt werden.

Von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU *

Aus heutiger Sicht ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sich Ussama Bin Laden jemals vor einem Gericht wird verantworten müssen. Wenn doch, so würde sich in einem solchen Prozess erweisen, dass ausgerechnet Staaten, die sich die Erfindung des Rechtsstaats zugute halten, für einen solchen Fall strafrechtlich nicht gewappnet sind. Ein Prozess gegen Bin Laden würde aber auch die gefährlichen Liebschaften von gestern mit dem Todfeind von heute ans Licht bringen. Genau das möchten viele vermeiden, die nicht beim Paktieren mit dem Verbrechen erwischt sein wollen.

Damit die Justiz im Fall der Flugzeugentführungen vom 11. September aktiv werden kann, muss man die Taten zunächst angemessen kategorisieren, das heißt als nationale oder internationale Verbrechen bzw. als Kriegsverbrechen oder Terroranschläge qualifizieren. Sodann muss man diese Verbrechen konkreten Personen anlasten. Und wenn es noch lebende Mittäter gibt, ist ihnen ihre mutmaßliche Komplizenschaft nachzuweisen. Am Ende muss in einem öffentlichen Gerichtsverfahren – unter Einhaltung aller rechtsstaatlichen Kriterien, die sich unsere Demokratien im Namen der Freiheit auf die Fahnen schreiben – ein unanfechtbares Urteil gefällt werden. Dies könnte dazu beitragen, ein gewisses Maß an Vernunft in eine chaotische Welt zu bringen.

Von alledem ist aber keineswegs die Rede! Tatsächlich erleben wir eine gigantische Pressekampagne, die sich auf die emblematische Figur Ussama Bin Laden fokussiert. Wir sehen einen Krieg gegen das Land, das ihm Unterschlupf gewährt, und den Erlass des amerikanischen Präsidenten vom 13. November 2001, der es gestattet, Ausländer schon bei Verdacht auf terroristische Aktivitäten zu verhaften und durch Militärgerichte zu verurteilen.

Die juristischen Probleme, die sich bei einem solchen Prozess stellen würden, kann jeder ermessen, der trotz der publizistischen Gehirnwäsche einen klaren Kopf behalten hat. Zum einen herrscht immer noch große Ungewissheit über die genauen Umstände der Attentate vom 11. September; zum anderen beobachten wir, wie sich eine Sicherheitsideologie ausbreitet, deren beunruhigendster Ausdruck die Reaktivierung von Militärgerichten durch den US-Präsidenten ist, denen aber das internationale Strafrecht nur ungewisse Alternativen entgegenstellen kann.

Eine Aburteilung der Verbrecher (die am Steuer der vier Flugzeuge saßen) und ihrer mitfliegenden Komplizen ist unmöglich, weil diese sich gemeinsam mit ihren Opfern getötet haben. Über die Motive der Selbstmordattentäter können wir also nur spekulieren. Käme es dennoch zu einem juristischen Verfahren, würden wir auch auf eine große Ungewissheit stoßen, was die Identität der Selbstmordattentäter und ihre Staatsangehörigkeit betrifft, aber auch ihre möglichen Verbindungen zu Organisationen außerhalb der Vereinigten Staaten. Zwar sind die Verbindungen nach Saudi-Arabien offenbar ohne große Mühe zurückzuverfolgen, doch es gibt eine ganze Reihe von Netzwerken, die gewaltsame Aktionen vorbereiten, und die berühmten Beweise, dass diese Netzwerke irgendwo zentral zusammenlaufen und von einem einzigen Mann befehligt werden, wurden nie veröffentlicht. Die britische Regierung hat in ihrer Erklärung vor dem Unterhaus zwar behauptet, Beweise für die Schuld Bin Ladens zu besitzen, fügte aber sogleich hinzu, dieses dokumentarische Material sei für die Durchführung eines Gerichtsverfahrens nicht brauchbar. Man gibt also nur vor, etwas zu wissen. Denn man will nicht über die Hauptsache reden: die militärische, wirtschaftliche, finanzielle und kulturelle Hegemonie über den Rest der Welt diskutieren. Man will nicht darüber reden, dass Millionen von Menschen ohne Zukunftschancen sind. Denn hier liegen die wahren Wurzeln des Terrorismus.

Das soll uns nicht hindern, die wichtigsten juristischen Fragen zu klären: Handelt es sich um ein nationales Verbrechen, bei dem das amerikanische Strafrecht Anwendung findet, oder um ein internationales? Welche Aspekte der Tat lassen den Schluss zu, es handele sich um ein internationales Verbrechen? Und um welche Kategorie von internationalem Verbrechen? Was kann man tun angesichts der bescheidenen Möglichkeiten, die das Völkerrecht in strafrechtlicher Hinsicht bietet?

Auf den ersten Blick – und trotz ihrer gigantischen Dimensionen – betreffen die Verbrechen die USA: Durchgeführt wurden sie mittels nationaler Fluggesellschaften, also amerikanischer Flugzeuge, die von US-Flughäfen zu Zielen innerhalb der Vereinigten Staaten gestartet sind. Die klassische juristische Lösung besagt, dass in erster Linie das nationale Strafrecht zuständig ist. Demnach wäre der Staat, auf dessen Territorium die Taten begangen wurden, zur Einleitung eines Strafverfahrens innerhalb des von ihm selbst gesetzten rechtsstaatlichen Rahmens berechtigt. Die Staatsangehörigkeit der 19 unmittelbaren Täter spielt dabei keine Rolle. Nimmt man an, dass Ausländer in anderen Staaten an der Vorbereitung der Attentate beteiligt waren, muss sich der betroffene Staat auf Grundlage bestehender internationaler Abkommen der polizeilichen und juristischen Unterstützung dieser anderen Staaten versichern, um die mutmaßlichen Komplizen zu identifizieren, ihre Auslieferung zu fordern und sie vor die eigenen Gerichte zu stellen.

In gewisser Weise hat sich George W. Bush für diese Lösung entschieden, indem er die US-amerikanische Justiz für zuständig erklärte. Damit gerät er jedoch in schärfsten Widerspruch zu seinen eigenen Aussagen, die er seit dem 11. September ständig wiederholt: Die ganze Welt sei von den Ereignissen in den USA betroffen und alle Staaten müssten an der Bestrafung dieser Taten mitwirken. Wenn Bush amerikanische Tribunale fordert, dementiert er genau diesen internationalen Aspekt der Taten.

Militärtribunal als Umgehung der Justiz

HAT man sich für die nationale Lösung entschieden, ist die Tatsache, dass es sich um Militärtribunale, also um Sondergerichte und um nichtöffentliche Verfahren handelt, in erster Linie eine Sache des amerikanischen Volkes, das sich äußern muss, ob es die angekündigte Einschränkung seiner Rechte und Freiheiten akzeptieren will. Dennoch sind auch die übrigen Staaten von dieser Entscheidung berührt, und zwar im Hinblick auf die Regelungen der internationalen Menschenrechtskonvention (Internationales Abkommen über bürgerliche und politische Rechte von 1966, Artikel9 und 10). Hier sind auch die Rechte der Strafverteidigung festgeschrieben, die zu respektieren die Signatarstaaten sich gegenseitig verpflichtet haben. Einer Auslieferung in die USA fehlt also die rechtliche Grundlage, wenn diese Garantien eines rechtsförmigen Verfahrens im Vorfeld abgeschafft sind.

In Wirklichkeit lässt sich aber die These, das Verbrechen falle in die Zuständigkeit der nationalen Gerichtsbarkeit, nicht aufrechterhalten. Trotz der noch unspezifizierten Untersuchungsergebnisse ist eine internationale Dimension der Attentate durchaus plausibel. Aber das Völkerrecht ist auf einen solchen Fall nicht eingerichtet und bleibt ohnmächtig, weil die großen westlichen Staaten der Globalisierung freien Lauf gelassen haben – statt Gesetze zu entwickeln, durch die man sie eingrenzen und ihre Fehlentwicklungen verhindern könnte.

Da es sich nicht um Handlungen eines Staates gegen einen anderen handelt, lassen sich die Attentate nicht als Aggression, Bedrohung des Weltfriedens oder Verletzung des Friedens einstufen, für die der UN-Sicherheitsrat zuständig wäre. Der hat zwar die Attentate in seiner mehrdeutig formulierten Resolution 1368 als Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit bezeichnet, daraus aber keine Konsequenzen im Sinne seiner eigenen Verantwortlichkeit gezogen.

Es bleibt also dabei, dass diese Verbrechen einen internationalen Charakter haben, ohne unter die dafür vorgesehenen Kategorien zu fallen. Es sind keine Kriegsverbrechen, denn es gab keinen Krieg. Und die Definition für Verbrechen gegen die Menschlichkeit müsste sehr weit gefasst werden, um die Attentate darunter zu subsumieren. Hier liegt der Ursprung der Verwirrung. Der Terrorismus hat sich nach und nach zu einer mörderischen Form des Widerstands gegen die weltpolitische Hegemonie entwickelt, doch kennt das Völkerrecht weder eine Definition von„terroristischer Aktion“ noch entsprechende Sanktionen. Die Gründe dafür sind bekannt. Die Übermacht des Westens stützt sich ihrerseits auf Gewalt, und der Staatsterrorismus (nicht nur von Israel in Form von außergerichtlichen Morden praktiziert) ist eine Realität, die sich in einer völkerrechtlichen Definition des Terrorismus schwerlich ausklammern ließe.

Die Großmächte haben die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs nach Kräften behindert. In der Form, wie es ihn dem Römischen Statut vom Juli 1998 gemäß geben wird, besitzt er keine rückwirkende Befugnis. Im Übrigen hat die Clinton-Regierung den Vertrag zwar unterzeichnet, aber der US-Kongress will ihn nicht ratifizieren. Aber letzten Endes sind die Verbrechen, für die man diesen Gerichtshof ins Leben gerufen hat, auch nicht mit denen vom 11. September gleichzusetzen. Man müsste das Statut also ergänzen. Fragwürdig wäre auch eine Lösung nach dem Vorbild der Ad-hoc-Tribunale, wie sie vom Weltsicherheitsrat für die Verbrechen in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien installiert wurden. Es bedarf einer besonderen Anstrengung der UN-Vollversammlung, um die nötige neue Sondergerichtsbarkeit (deren Statut die Verbrechen definieren müsste, für die sie zuständig ist) auf demokratischem Wege aus der Taufe zu heben.

Theoretisch ist das sicher eine denkbare Lösung für die aktuelle Rechtslücke. Sollte der Prozess wider Erwarten stattfinden, wäre damit wenigstens hinsichtlich Anklage, Beweisführung und Verfahrensregeln für einigermaßen seriöse Maßstäbe gesorgt. Die USA werden sich einem solchen Statut jedoch widersetzen. Denn es geht ihnen nur um Rache. Damit gefährden sie aber jede Form von globaler Demokratie.

dt. Sabine Jainski, Christian Hansen

* Rechtsprofessorin an der Université Paris-VII; Autorin von „Le Droit dans la mondialisation“ (Hg.), Paris (PUF) 2001.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von MONIQUE CHEMILLIER-GENDREAU