14.12.2001

Christian Boltanski

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Christian Boltanski

„Für mich gibt es im Leben eines Künstlers nur sehr wenige wirklich kreative Augenblicke, in denen er sein Vokabular neu erfindet. Ich hatte davon zwei. Zuerst die späten Sechzigerjahre, und dann sorgte der Tod meines Vaters für ein solches kreatives Schlüsselmoment.“

Der Künstler Christian Boltanski (geb. 1944 in Paris), von dem diese Worte stammen, hat seit 1968 ein Werk geschaffen, dessen universelle Bildsprache ob ihrer schlichten Intensität in Bann zieht. Der erste der beiden „kreativen Augenblicke“ dürfte Ende der 60er-Jahre ein Besuch im Pariser „Musée de l’homme“ gewesen sein, wo er kleine – nutzlos gewordene, von vergangenem Leben erzählende – Gebrauchsgegenstände in den Vitrinen sah. Hier artikulierte sich das „Gewicht der Zeit“, hier entstand das „Vokabular“ der Archivierung von Erinnerung, die Rekonstruktion und Zerstörung zugleich ist. Der zweite „kreative Augenblick“ war der Tod seines Vaters (B.: „Und wenn dein Vater stirbt, übernimmst du seine Nachfolge“). Damals begann er damit, das Thema seiner jüdischen Herkunft und des Holocaust in seinen Werken zu verdichten.

Boltanski sammelt und sortiert mit größter Sorgfalt – Fotos, Kleidungsstücke, Kindheitsbilder, Schuhe und andere Erinnerungsgegenstände. Er löst sie aus dem Zusammenhang und führt sie in seinen Werken einer anderen, universellen Erinnerung zu. Dabei bedient er sich der Mittel der Kunst seiner Zeit: er minimalisiert, konzeptualisiert, formalisiert, collagiert, poetisiert – und arbeitet dabei – der Arte povera verwandt – immer wieder mit Abwandlungen einzelner Ideen und Materialien. „La vie impossible de Christian Boltanski“ lautete der Titel der ersten Ausstellung, mit der er seine Erfindung der Erinnerung begann.

Mit der massenhaften Präsentation von Fotos und Gegenständen bringt er das Individuelle nicht zum Verschwinden, sondern gerade erst zum Vorschein. Etwa wenn er in „Les enfants de Dijon“ (B: „Die Kindheit ist immer das Erste, was stirbt“) Gruppenfotos zerschneidet, die einzelnen Köpfe vervielfacht und jede der Reproduktionen, mit einem (Lebens-)Licht versehen, einzeln an die Wand hängt (s. Seite 15) oder wenn er lauter getragene Schuhe von der Decke herunterhängen lässt, was den Betrachter an die Schuhberge aus den Lagern erinnert und ihm gleichzeitig die Frage aufdrängt, welcher der Schuhe ihm selbst vielleicht passen könnte.

Christian Boltanski hat in diesem Jahr zwei Preise in Deutschland erhalten: Den Kaiserring der Stadt Gosslar und den Kunstpreis der Nord/LB. Da Preise Einschnitte im Leben eines Künstlers sind – Boltanski spricht ironisch von „enterrements“ (dt: Beerdigungen) –, hat er in der Anhaltischen Gemäldegalerie in Dessau mit der Collage „La vie impossible“ seinen frühen Arbeiten ein dekonstruktives Denkmal gesetzt (s. Seite 8). M. L. K.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von M.L.K.