11.01.2002

Das Stottern der Geschichte

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Das Stottern der Geschichte

Von ABDOURAHMAN A. WABERI *

ICH bin im Jahr 1965 in Dschibuti geboren, fünf Jahre nach der Unabhängigkeit einiger afrikanischer Kolonien, und lebe seit über fünfzehn Jahren in Frankreich. Vor zehn Jahren habe ich in einer Kleinstadt in der Vendée geheiratet, wo der Algerienkrieg wie überall im Land Metastasen gebildet hat, und oft erlebe ich, dass Leute von diesem Krieg sprechen wie von etwas Fernem, verschwommen und fassbar zugleich.

Die französisch-afrikanischen Beziehungen werden erst dann zur Ruhe kommen, wenn die Erinnerung an die Kolonialzeit von allen Beteiligten, Franzosen wie Afrikanern, ausgegraben, anerkannt und akzeptiert ist. Aber ich bin überzeugt, dass sie früher oder später an die Oberfläche kommt. Das Ballett der schmerzhaften Erinnerungen hat, zaghaft zwar, seinen Tanz begonnen. Seit einer Weile vergeht in Frankreich kein Tag, an dem nicht irgendeine Seite der Kolonialgeschichte wieder aufgeschlagen würde. Das offizielle Frankreich flickt, was aufgerissen wird, und vertagt die Debatte auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Doch die Tatsachen zeigen sich eigensinnig, das Verdrängte kehrt mit Macht zurück.

Die Medien weiden sich daran, heben die Debatte jedoch nicht auf ein angemessenes Niveau. Die Generation der Wehrdienstleistenden im Algerienkrieg, die jetzt fast in den Sechzigern ist, wird das Schweigen nicht ewig wahren. Ein Experte des französischen Fernsehens fragt sich: Diese „jungen Männer Anfang zwanzig, freundlich, aufmerksam, zuvorkommend, diese Generation, die sagt, sie habe ihre Pflicht getan. Sich nichts vorzuwerfen. Und macht sich doch nichts als Vorwürfe. Weil sie dort in Algier und in den Bergen einen Teil ihrer Menschlichkeit verloren hat“ (Alain Rémond, Télérama 2686, 4. Juli 2001).

Vor allem diese Generation (und ihre Kinder) hat an der Sendereihe von Daniel Mermet über den Algerienkrieg („Là-bas si j’y suis“ auf France Inter) mitgewirkt. Und vor allem sie war es, die die unzähligen auf den Markt kommenden Bücher über die Folter und andere Aspekte dieses Kriegs kauften. Wie immer bei solchen Sendungen äußerten sich die Interviewten gereizt, von allen Seiten ertönten Anschuldigungen und Beschimpfungen. Die Geständnisse des Foltergenerals Aussaresses waren der Funke im Pulverfass. Sein Ausschluss aus der Ehrenlegion und die Anklage gegen ihn vor Gericht vernebeln nur einmal mehr, worum es eigentlich geht. General Aussaresses ist ein drittklassiger Pinochet, eine gerade recht kommende Inkarnation „des Bösen“, schlimmer noch: eine Figur, die das Spiel bereitwillig mitspielt. Es scheint ihm zu gefallen, sich vor der Kamera zu entblößen. Sogar ein fünfjähriges Kind begreift, dass sich die Folter in Algerien nicht auf diesen einäugigen Greis reduzieren lässt, dass sie ein in sich logisches System bildete, ein System der permanenten Gewalt, das mit der Eroberung Algeriens begann und das auch anderswo anzutreffen war: in Indochina, Madagaskar, Kamerun. Die Folter ist die Speerspitze des Kolonialismus. Und – in den Worten des algerischen Historikers Mohammed Harbi – „der Kolonialismus ist die Barbarei im Dienst wirtschaftlicher und strategischer Interessen, im Dienst der Großmachtbestrebungen der europäischen Nationen. Er ist ein Kernbestandteil der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts.“ Nichts ist billiger, als von einem Aussaresses darüber Rechenschaft zu verlangen.

Ich gehöre zu denen, die geduldig warten und erwarten, dass die Kolonialvergangenheit auf den Tisch kommt. Das Buch von Alice Cherki über Frantz Fanon („Frantz Fanon, un portrait“, [Seuil] September 2000) und die Neuauflage von Teilen seines Werks geben Anlass zu ein wenig Hoffnung. Frantz Fanon, von Beruf Psychiater, auf Martinique geboren, im Dezember 1961 im Alter von 36 Jahren als Algerier gestorben, spielt in der öffentlichen Debatte kaum noch eine Rolle. Eine Wiederentdeckung des engagierten Denkers, des für den Schmerz des Menschen empfänglichen Arztes, des Schriftstellers, der das von ihm diagnostizierte Übel als „koloniale Entfremdung“ bezeichnete, wäre in mancher Hinsicht heilsam. Man wollte Frantz Fanon nicht verzeihen, dass er das französische Kolonialsystem bloßgestellt und sein endgültiges Urteil über die Verirrungen derer gesprochen hat, die sich für Erben der Aufklärung hielten und sich gleichzeitig mit dem Empire und dessen unerschöpflichen Wohltaten aufs beste arrangierten.

Es wird doch immer wieder dieselbe Soße aufgetischt. Die politisch Verantwortlichen drehen und wenden sich heuchlerisch wie eh und je. Man beschwört die großen Prinzipien, um kein Wort über die Kolonialpolitik verlieren zu müssen, über die Reichtümer, mit denen sie Frankreich überhäufte. Entrüstung fällt umso leichter, als der Algerienkrieg im Rückblick kaum noch zu erkennen ist. So vermeidet man, den Gespenstern der Kolonialpolitik ins Auge zu sehen, die richtigen Fragen zu stellen. Mehr als 3 000 Bücher und 35 Filme sind zu dem Thema erschienen, und hunderte von Vereinen tun ihr Möglichstes, doch die Arbeit der Versöhnung ist noch lange nicht beendet. Hat nicht einmal begonnen, wie manche meinen.

Warum zum Beispiel geht es in der kollektiven Vorstellungswelt nur um die Immigration von Afrikanern, von Schwarz- und Nordafrikanern? Warum sprechen nur wenige Zeitungen über die Einwanderung aus Osteuropa oder Sri Lanka? Warum beschränkt sich die Vorstellung vom Anderen fast immer auf den ehemals Kolonisierten? Warum schließlich hat das neue Frankreich solche Schwierigkeiten, erkennbare Leitbilder hervorzubringen, das heißt, Männer und Frauen, die im politischen, medialen, geistigen oder künstlerischen Leben stehen? Warum müssen es immer Sportler sein? Man könnte geradezu von einem „Zidane-Syndrom“ sprechen, nach dem Namen des Sportlers, der den Immigrantenkindern der zweiten Generation als Integrationsmodell anempfohlen wird. Mit anderen Worten: Warum stößt sich heute der von der Aufklärung inspirierte Universalismus, der sämtliche Rechtfertigungsversuche einer angeblich „zivilisatorischen Mission“ durchzieht, an den Immigranten wie seinerzeit an den Eingeborenen? Weil sich hier eine Aporie auftut? Die unmögliche Quadratur des Kreises? Das, was Pierre-André Taguieff mit Vorliebe als „republikanisches Dilemma à la française“ bezeichnet?

Die Frage des Andersseins wurde in den ersten zwanzig Jahren nach dem Algerienkrieg auf Eis gelegt. Die wirtschaftliche Prosperität der Siebzigerjahre erklärt dies nur zum Teil. Staat und Arbeitgeber ließen sich bei der Zahl der ins Land gelassenen ausländischen Arbeitskräfte nicht lumpen. Es war die gesegnete Zeit der Fremdarbeiter, die in den Vorstädten geparkt wurden, die Zeit, da sie als stille, in der Öffentlichkeit unsichtbare Arbeitskräfte geschätzt waren. Noch wurden sie nicht verleumdet, noch nicht an der Elle der berühmt-berüchtigten „Toleranzschwelle“ gemessen, noch nicht beleidigt und mit „Lärm und Gestank“ assoziiert. Erst ihre vollkommen „integrierten“ Kinder sollten als „Franzosen nur dem Papier nach“ verschrien sein.

Die ersten Anzeichen von Verkrampfung zeigten sich Mitte der Siebzigerjahre im Großraum Paris, auch wenn es noch nicht so weit war, dass die im parlamentarischen Halbrund sprichwörtlich dahindämmernden Abgeordneten sich gestört fühlten. Dazu bedurfte es der Europawahlen von 1984, als die „Nationale Front“ von sich reden machte, eine Partei unter Führung eines gestandenen Nostalgikers der Kolonialkriege, dessen Wahlerfolg aus der „Reaktivierung des kolonialen Imaginären“ resultierte, um eine Formulierung des Historikers Gilles Manceron zu gebrauchen.

Die Kolonialvergangenheit ist scheinbar nur schwer zu ertragen, die Intellektuellen oder die sich als solche verstehen verleugnen sie seit Jahrzehnten. Das Dritte-Welt-Denken ist tot. In anderen Worten: Die Erinnerung an die Kolonialzeit ist kein sexy Anliegen, das man gern vor sich herträgt oder gern ins Gespräch bringt. Zu viel Blut, zu viel Tränen, zu viel Schande.

Man hat aufgehört, Afrika politisch zu lesen. Die Journalisten konzentrieren sich inzwischen auf humanitäre Notlagen. Der große Medienrummel und die Unterstützungskonzerte bekannter Popgrößen anlässlich der Hungerkatastrophe in Äthiopien fielen praktisch in die gleiche Zeit wie die ersten Erfolge des „Front National“: 1984. Auf der anderen Seite der Schranke steht streitbar das Kollektiv „Égalité“ unter Leitung der aus Kamerun stammenden Schriftstellerin Calixthe Beyala und des antillischen Schauspielers Greg Germain und fordert die symbolische Begleichung einer Blutschuld. Das Fernsehen, so die Gruppe, arbeite monochrom, sei zu weiß, während die Minderheiten (die farbigen Franzosen?) in Film, Fernsehen und Werbung kaum anzutreffen seien. Um diesem Missstand abzuhelfen, organisiert das Kollektiv Märsche, verfasst Protestschreiben an die Adresse der politisch Verantwortlichen und schlägt Quotenregelungen nach amerikanischer Art vor. Andere, auch Angehörige besagter Minderheiten wie der Generalsekretär der „Bewegung gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft“ (MRAP), sehen in solchen Quoten eine Art Rassismus mit umgekehrtem Vorzeichen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das verkrampfte Verhältnis Frankreichs zur heiklen Einwanderungsfrage, die von der Linken wie der Rechten vor jeder Wahl gleichermaßen ausgeschlachtet wird, aufs unerfreulichste mit der schiefen und simplifizierenden Wahrnehmung des afrikanischen Kontinents durch die Medien verbunden ist. Anlass zu ein wenig Optimismus gibt allein die Arbeit einer Reihe junger Historiker im Umkreis der „Association Connaissance de l’Afrique Contemporaine“, darunter Nicolas Bancel, Pascal Blanchard und Sandrine Lemaire, die in einigen wenigen Presseorganen die Öffentlichkeit zumindest ansatzweise erreichen. Indes, viel bleibt noch zu tun, um die Frage der Erinnerung an die Kolonialzeit mit der gebotenen Gelassenheit zu erörtern, das Bild von Millionen von Franzosen und Immigranten neu zu zeichnen und ihnen mehr soziale Gerechtigkeit aber auch mehr Medienpräsenz zu sichern.

dt. Bodo Schulze

* Lehrer und Schriftsteller, Autor von „Die Legende von der Nomadensonne“, München (Marino) 1998.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2002, von ABDOURAHMAN A. WABERI