15.02.2002

Beide Völker können sich ihre Nachbarn nicht aussuchen

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Beide Völker können sich ihre Nachbarn nicht aussuchen

EINEINHALB Jahre nach dem Gipfel von Camp David im Juli 2000 stellen auch israelische Stimmen in Frage, was seither immer wieder behauptet wurde. Weder lässt sich der Vorwurf aufrechterhalten, Jassir Arafat habe die „großzügigen Vorschläge“ von Ehud Barak zurückgewiesen, noch ist Arafat aus der Logik der Oslo-Verträge ausgebrochen. Arafat bleibt unentbehrlich, wenn Israel überhaupt noch einen Friedensprozess will, argumentiert Jossi Beilin, ehemals Justizminister in der Regierung Barak. Doch um Arafats Autorität zu retten, muss es einen Palästinenserstaat geben. Damit widerspricht Beilin der Regierung Scharon, die Arafat mit ihrer Belagerungspolitik politisch erdrosseln will.

Von JOSSI BEILIN *

Seit dem Beginn der zweiten Intifada im September 2000 sind einige neue Fragen laut geworden: Gibt es für Israel noch einen Partner im Friedensprozess? War die Entscheidung richtig, 1993 die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) anzuerkennen? Und war es richtig, 1994 der Einsetzung Jassir Arafats als Chef einer Palästinensischen Nationalbehörde in den besetzten Gebieten zuzustimmen und ihm die Befehlsgewalt über zehntausende von Polizeikräften zu überlassen?

Für viele lautet die Antwort eindeutig: Nein. Diese Stimmen kommen natürlich aus dem Lager der politischen Rechten, die nie an den Oslo-Prozess geglaubt hat, aber durchaus auch von der Linken. Dort ist der wichtigste Vertreter dieser Haltung der frühere Ministerpräsident Ehud Barak, der den Palästinensern die Schuld an seiner vernichtenden Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen 2000 gibt. Barak hat sich ernsthaft um den Ausgleich mit Syrien und den Palästinensern bemüht und wollte im Falle seines Wahlsiegs die Gespräche mit Arafat wieder aufnehmen und den Dialog fortsetzen, der beim Camp-David-Gipfel begonnen hatte und im Dezember 2000 auf der Grundlage der Vorschläge von US-Präsident Clinton sowie im Januar 2001 bei den Verhandlungen in Taba fortgeführt worden war. Aber auch Barak kam zu dem Schluss, dass der Präsident der Autonomiebehörde kein Friedenspartner mehr sei. Dieser Sinneswandel verdankt sich nicht dem Ausbruch der neuen Intifada und auch nicht den anhaltenden Schwierigkeiten bei den politischen Gesprächen, sondern allein Baraks schwerer Wahlniederlage im Februar 2001.

So ist Barak nun zum Kronzeugen der Rechten geworden – und zum Hauptproblem für das Lager der Friedensbefürworter. Er hatte maßgeblichen Anteil an der unseligen Entscheidung der Arbeitspartei, sich an der Koalitionsregierung von Ariel Scharon zu beteiligen. Und er hat den neuen Ministerpräsidenten sogar noch rechts überholt, als er ihn dafür kritisierte, seinen Sohn und Außenminister Peres zu Arafat entsandt zu haben. Denn für Barak ist Arafat eben kein Friedenspartner mehr; man darf mit ihm also keinerlei Kontakte pflegen.

Die Regierung Scharon bezog die Position, Arafat nicht mehr als Gesprächspartner zu akzeptieren und der Autonomiebehörde die Unterstützung des Terrorismus zu unterstellen, und setzte daraufhin Arafat in Ramallah fest, das er nicht einmal verlassen durfte, um an den Weihnachtsfeierlichkeiten in Bethlehem teilzunehmen. Man geht davon aus, dass Arafat letztlich keinen Friedensvertrag mit Israel anstrebt. Und dass man deshalb wohl besser abwarten sollte, bis sich ein neuer Gesprächspartner im palästinensischen Lager findet, wobei man womöglich auch ein wenig nachhelfen könnte.

Spätestens nach dem 11. September waren einige ausländische Regierungsvertreter, insbesondere in den USA, nur zu gern bereit, diese Haltung zu unterstützen. Auch sie hielten Arafats Regime für korrumpiert und in Gewalt und Terror verstrickt und befanden, Israel solle den „realistischen“ Schluss ziehen, dass mit Arafat nun einmal kein Frieden zu machen sei und man sich einen anderen Verhandlungspartner suchen müsse.

Es wäre allerdings ein schlimmer Fehler, wenn Israel bei dieser Haltung bliebe. Arafat als Verhandlungspartner abzuschreiben könnte das Land in eine Katastrophe stürzen: Es gäbe für lange Zeit keine Hoffnung mehr auf Frieden und Normalisierung des Alltags, die innere Sicherheit wäre stärker gefährdet denn je, und überdies würden sich die wirtschaftlichen Probleme verschärfen, die sich Israel durch die politische Krise eingehandelt hat. 26 Jahre hat man gebraucht, um einen Friedenspartner zu finden, der in der Lage war, im Westjordanland und im Gaza-Streifen als Ordnungsmacht aufzutreten. Deshalb sollte man diesen Partner nun nicht leichtfertig aufgeben.

In einem Friedensvertrag hätte eigentlich Jordanien, nachdem es den Krieg von 1967 geführt und verloren hatte, seine westliche Hälfte Cisjordanien zurückerhalten müssen. Mehrere israelische Regierungen, unter Levi Eschkol, Golda Meir und Jitzhak Rabin, boten König Hussein ein Abkommen an, das die Rückgabe von 70 Prozent des Westjordanlands beinhaltete. Aber der „kleine König“ forderte den vollständigen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus diesem Gebiet. Mehr als zwanzig Jahre später, am 31. Juli 1988, hielt er dann seine historische Rede, in der er alle Ansprüche auf das Westjordanland aufgab und die Gründung eines Palästinenserstaats propagierte.

Während der Verhandlungen, die 1978 und 1979 über die Zukunft der Sinai-Halbinsel geführt wurden, wies Ägypten das großzügige Angebot des israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin zurück, den Gaza-Streifen zurückzugeben. Staatspräsident Anwar al-Sadat erklärte damals, er wolle das Gebiet den Palästinensern überlassen.

Auch mit anderen Gesprächspartnern hat es Israel versucht: Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre hoffte man noch darauf, dass palästinensische Führungspersönlichkeiten im Westjordanland den Anspruch erheben würden, für die Nation Palästina zu sprechen. Doch diese Männer, wie zum Beispiel Scheich Dschaabri, der Bürgermeister von Hebron, waren dazu nicht bereit. Anfang der Achtzigerjahre verfolgte der damalige Verteidigungsminister Ariel Scharon den Plan, in den arabischen Dörfern eine proisraelische palästinensische Organisation aufzubauen. Doch diese „Liga der Dörfer“ unter der Führung von Mustafa Dudin erwies sich als hoffnungsloses Unterfangen: Keine ernst zu nehmende politische Fraktion war bereit, die Organisation als Vertretung der Palästinenser anzuerkennen. Die Bemühungen verliefen rasch im Sande.

Während der Vorbereitungen zur Konferenz von Madrid (1991) legte die Regierung Schamir Wert darauf, dass die Bewohner des Westjordanlands und des Gaza-Streifens nur in einer gemeinsamen jordanisch-palästinensischen Delegation unter Leitung eines Jordaniers repräsentiert waren. Allerdings konnte niemandem verborgen bleiben, dass diese Palästinenser in engem Kontakt zur PLO-Führung in Tunis standen und ihre Anweisungen von Jassir Arafat erhielten. Mit anderen Worten: Die Einwohner der besetzten Gebiete wollten nicht als Vertreter des palästinensischen Volkes auftreten.

Erst als wir im Januar 1993 die Geheimverhandlungen in Oslo aufnahmen, trafen wir endlich auf anerkannte Vertreter der palästinensischen Seite, die bereit waren, Verantwortung für das Westjordanland und den Gaza-Streifen zu übernehmen und dort in Koexistenz mit Israel den Staat des palästinensischen Volkes zu begründen. Im Rahmen des Oslo-Prozesses war es ein bedeutender Erfolg, ein „Gegenüber“ gefunden zu haben, einen Verhandlungspartner, der die Legitimation der Palästinenser besaß und in dieser Rolle einen Vertrag unterschrieb, der auf das Ende eines Konflikts hoffen ließ, von dem der ganze Nahen Osten betroffen war.

In den vergangenen neun Jahren haben beide Seiten schwerwiegende Fehler gemacht, in dieser Hinsicht ist keiner ohne Schuld. Und beide Seiten hielten sich nicht vollständig an das Friedensabkommen von Oslo. Arafat hat die zweite Intifada nicht verhindert, Israels Reaktion war überzogen – nun macht sich das Gefühl breit, in eine Sackgasse geraten zu sein. Auf dem Weg zu einer palästinensischen Staatsmacht bedeutet die Autonomiebehörde nur einen ersten Schritt, eine wichtige und interessante Etappe. Man muss jedoch ihre Schwierigkeiten und schweren Fehlentscheidungen nüchtern analysieren. Vor allem ihre engen Beziehungen zu Organisationen, die zu den Mitteln der Gewalt greifen, bleiben ein Problem und sind Wasser auf die Mühlen jener israelischen Kreise, die neue Gesprächspartner zu suchen empfehlen. Dennoch wäre es eine gefährliche und unverantwortliche Entscheidung, sich auf diesen Weg zu begeben.

Von 1974 bis zu den Oslo-Verträgen hat Jassir Arafat eine Reihe weitreichender Grundsatzentscheidungen getroffen. Sein Beschluss, den Staat Israel anzuerkennen, eröffnete Israel 1994 die Möglichkeit, einen Friedensvertrag mit Jordanien zu unterzeichnen sowie anschließend wirtschaftliche und politische Beziehungen mit den meisten Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga aufzunehmen, Vertretungen am Golf und in Nordafrika einzurichten, weltweit seine diplomatischen Kontakte zu verbessern und seine Wirtschaft zu konsolidieren. Dass Arafat als Gegenleistung lediglich eine Art Bürgermeisteramt in Gaza oder Ramallah erhält und Israel ständig um eine Reiseerlaubnis ersuchen muss, mutet geradezu absurd an. Damit kann sich Arafat nicht zufrieden geben. Was der Palästinenserführer will, ist klar: eine dauerhafte Friedensregelung mit Israel, die ihn zum Präsidenten eines Staates Palästina mit der Hauptstadt Jerusalem macht.

Natürlich ist Arafat eine problematische Führerfigur. Bei seiner Vergangenheit kann man nicht erwarten, dass er sich plötzlich wie Gandhi oder der Dalai Lama aufführt. Aber auch Ariel Scharon hat ja wenig mit Mutter Teresa gemein. Zu glauben, man könne beide einfach vergessen und auf die nächste Generation politischer Führer warten, wäre naiv: Ganz abgesehen davon, dass damit der Status quo abgelöst würde von einer Spirale der Gewalt, der Verzweiflung und Verarmung. In ein paar Jahren wird der Iran über Atomwaffen verfügen, und ein neuer Nahostkrieg könnte den Vorwand bieten, sie einzusetzen. In ein paar Jahren wird die Mehrheit aller Palästinenser westlich des Jordans leben, und wenn Israel bis dahin keine unumstrittene Grenze zu einem Palästinenserstaat hat, kann es sich auf noch schwierigere Zeiten einrichten.

Die Verhandlungen nicht abreißen zu lassen ist für beide Seiten lebenswichtig. Im Grunde sind beide Völker bereit, Frieden zu schließen und dafür einen Preis zu zahlen. Und sie können sich den Nachbarn und dessen politische Führung nun einmal nicht aussuchen. Was wäre, wenn Arafat von einem islamistischen Führer abgelöst würde, der zu Verhandlungen mit Israel nicht bereit ist? Oder von einem gemäßigten, der aber im eigenen Lager nicht über die Autorität verfügt, ein historisches Abkommen zu schließen und die dabei notwendigen Konzessionen zu vertreten? Nüchtern betrachtet bleibt beiden Seiten also nach wie vor nur eine Chance: so schnell wie möglich zu einem Friedensvertrag zu gelangen.

dt. Edgar Peinelt

* Ehemaliger israelischer Justizminister, gehörte zu den Vertretern Israels bei den Geheimverhandlungen in Oslo. Abgeordneter im israelischen Parlament. Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschien „Das Tagebuch einer verwundeten Taube“ (auf Hebräisch), Tel Aviv (Yedioth Ahronoth Books) 2001.

Le Monde diplomatique vom 15.02.2002, von JOSSI BEILIN