15.02.2002

Fairer als al-Qaida und Taliban

zurück

Fairer als al-Qaida und Taliban

Von NIELS KADRITZKE

DIE Internationale erkämpft das Menschenrecht. Der alte Traum droht wahr zu werden. Was Generationen von Sozialisten erstrebten, wird jetzt von George W. Bush in Angriff genommen. In seiner „State of the Union Address“ vom 29. Januar 2002 gelobte er, die Prinzipien zu verteidigen, die „gleichermaßen für alle Menschen in aller Welt gelten“, also „Freiheit und Gerechtigkeit“ samt den „unveräußerlichen Prinzipien der Menschenwürde“. Zu Letzteren zählte Bush „the rule of law“ und „equal justice“ – also das, was wir Rechtsstaat nennen.

Ein globaler Feldzug für den Rechtsstaat – wer wollte nicht dabei sein? Doch zuvor wäre zu klären, ob alle Beteiligten unter „justice“ dasselbe universale Prinzip verstehen. Das sollten sich zumal die Europäer fragen, die es den USA überlassen, die Feinde zu definieren, die Einsätze zu planen und die Waffen zu bestimmen.

Rechtsstaat ist, wenn Rechtsverletzungen nach gerechten und berechenbaren Maßstäben geahndet werden und auch der Rechtsbrecher als Mensch mit Menschenrechten gilt – selbst der Al-Qaida-Kämpfer. War diese universale Idee gemeint, als Bush am 29. Januar die Prinzipien von „rule of law“ und „equal justice“ pries? Die Antwort enthält der Satz, der sich rhetorisch an die Terroristen richtet: „You will not escape the justice of this nation.“

Von „equal justice“ ist keine Rede mehr. Al-Qaida und Taliban droht Bush vielmehr mit „justice of this nation“. Das klappt rhetorisch, weil „to bring to justice“ zweierlei heißen kann. Zum einen: Der Angeklagte kommt vor seinen gesetzlichen Richter, um in einem rechtsstaatlichen Verfahren verurteilt – oder freigesprochen – zu werden. Zum zweiten: DenVerbrecher ereilt sein gerechtes Schicksal. Nur im Licht der zweiten Bedeutung wird klar, warum die meisten US-Bürger nicht nachvollziehen können, dass es in Europa überhaupt eine Debatte über den Status und die Behandlung der Gefangenen von Guantánamo gibt.

Das humanitäre Kriegsrecht, kodifiziert in den Genfer Konventionen, soll die latente Anarchie des Krieges bändigen. Wenn dieser völkerrechtliche Kodex im Hauptquartier des „humanitären Feldzuges“ ignoriert wird, steht mehr auf dem Spiel als die Behandlung der Gefangenen von Guantánamo. Die Willkür, mit der Washington völkerrechtliche Statuten behandelt, stellt rechtsstaatliche Grundprinzipien gleich mehrfach in Frage.

Zum einen haben wir es mit dem ersten Fall von Offshore-Justiz zu tun. Guantánamo ist juristisch exterritoriales Gelände; wo kein Richter ist, kann kein Kläger sein. Zum Zweiten maßt sich die Bewachernation an, den völkerrechtlichen Status der Gefangenen eigenmächtig („unilateral“) zu definieren. Das heißt, die unveräußerlichen Rechtsansprüche, die Gefangene nach internationalem Recht haben, werden ihnen von den USA nach Belieben verwehrt oder gewährt. Die Frage etwa, ob ein nicht uniformierter „Kombattant“ als Kriegsgefangener zu behandeln sei, hat gemäß der Dritten Genfer Konvention ein „kompetentes Gericht“ zu entscheiden. Bis zu diesem Entscheid genießt der Betroffene nach Artikel 5 „den Schutz dieser Konvention“, mithin die Rechte eines Kriegsgefangenen. Im Fall der Käfigmenschen von Guantánamo wurde die Rolle der „kompetenten Gerichtsinstanz“ vom US-Verteidigungsminister usurpiert. So hat es jedenfalls sein Präsident verfügt, der damit gegenüber dem internationalen Recht die Auslegungskompetenz eines Ober-Ajatollah beansprucht.

Zum Dritten ist für die Käfigmenschen die Unschuldsvermutung entfallen. Für Präsident Bush sind die Gefangenen, die in Afghanistan und nicht etwa auf einem Flughafen in den USA festgenommen wurden, einfach „Killer“. Sein Verteidigungsminister nennt sie Leute, die man „nicht frei auf der Straße herumlaufen lassen“ dürfe. Der Gedanke, dass einer der Gefangenen sich als „nicht schuldig“ herausstellen könnte, ist in diesen Köpfen wegzensiert. Diese massive Vorverurteilung ist für die rechtsstaatliche Qualität der Verfahren deshalb so vernichtend, weil die Exekutive der USA über die vom Präsidenten verfügten „militärischen Sondertribunale“ zum Herrn der Verfahren geworden ist: Verteidigungsminister Rumsfeld ernennt nicht nur die Militärrichter der Tribunale, sondern segnet am Ende des Verfahrens auch deren (Todes-)Urteile ab.

Damit tritt die erste Gewalt den Guantánamo-Häftlingen als dritte Gewalt gegenüber. Die Staatsräson der USA hat über den Rechtsstaat gesiegt. „Justice“ heißt nicht mehr „rule of law“. „Justice“ bedeutet, dass die Terroristen ihr gerechtes Schicksal ereilt. Ein texanischer Journalist stellte seinem Präsidenten am 28. Dezember 2001 die Frage: „Wenn die Todesstrafe bei den Sondergerichten ein einstimmiges Richtervotum erfordert, haben Sie dann nicht die Sorge, dass einige Terroristen der Hinrichtung entgehen könnten?“

Die Logik dieser Frage ist vom Geist der Lynchjustiz angehaucht. Doch das ignorierte der Präsident in seiner erstaunlichen Antwort: „Letzten Endes wird unser System fairer sein als das System Bin Ladens und der Taliban. Das ist sicher. Die Gefangenen, die wir festnehmen, werden vor Gericht sehr viel bessere Chancen haben, als sie Mr. Bin Laden unseren Bürgern gewährt hat, die im World Trade Center oder im Pentagon waren.“

Diese Antwort hat in Europa seltsamerweise keine Schlagzeilen gemacht. Der Oberbefehlshaber im Krieg gegen den Terrorismus verleiht sich stolz den Fairnesspokal, als ob man in einer gemeinsamen Liga spiele. Doch der Rechtsstaat ist mehr als das Prinzip, mutmaßliche Terroristen nicht so zu behandeln wie diese ihre Opfer. Er ist ein Wert, der die demokratische Qualität der eigenen Gesellschaft definiert. Und ein Wert, der auf völkerrechtliche Ebene ausgedehnt werden muss, um dem Kampf gegen den Terrorismus universale Legitimität zu verleihen.

Präsident Bush hat am 29. Januar auch die Globalisierung seiner Auffassung von „justice“ angekündigt: „Einige Regierungen werden angesichts des Terrors ängstlich reagieren. Aber niemand darf sich täuschen: Wenn sie nicht handeln, wird Amerika es tun.“ Dieser Handlungsdrang nimmt auf die Souveränität anderer Staaten so wenig Rücksicht wie auf den eigenen Rechtsstaat und das Völkerrecht. Das hat die US-Regierung bereits exemplarisch bewiesen. Das Oberste Gericht von Bosnien verfügte am 17. Januar die Freilassung von sechs algerischen Islamisten, die von den USA als Terroristen betrachtet werden. Das Urteil erfolgte aufgrund mangelnder Beweise, denn die US-Stellen hatten ihr Belastungsmaterial für geheim erklärt. Auch der bosnische Menschengerichtshof – zur Hälfte mit internationalen Richtern besetzt – untersagte die Auslieferung der Männer. Die beiden höchsten Rechtsinstanzen Bosniens hatten offenkundig „zu ängstlich reagiert“, deshalb warteten US-Spezialeinheiten vor dem Gefängnis von Sarajevo auf die Islamisten, die inzwischen in Guantánamo einsitzen.

Der mühsame Aufbau eines bosnischen Rechtsstaates – und des rechtsstaatlichen Bewusstseins der Menschen – wurde damit um Jahre zurückgeworfen. Die Kidnapperaktion hat die politischen Investitionen von UN, EU und vielen NGOs auf einen Schlag entwertet. Doch der Fall ist über Bosnien hinaus bedeutsam. Er zeigt, dass die USA keine Rücksicht auf die komplizierten Verhältnisse in einem der heikelsten Winkel Europas nehmen. Die „justice of this nation“ hat absolute Priorität.

Die politische Klasse EU-Europas hat sich nicht getraut, am Beispiel der Entführung von Sarajevo auf ihr Verständnis von Rechtsstaat zu pochen. Würde sie das wagen, könnte sie auch nicht mehr über folgenden Grundwiderspruch hinwegsehen: EU-Europa ordnet sich im Kampf gegen den Terrorismus „bedingungslos“ einer Führungsmacht unter, die sie nach ihren eigenen Kriterien nicht in die Europäische Union aufnehmen könnte – nicht nur wegen der Haltung der USA zur Todesstrafe, sondern auch wegen ihrer Offshore-Justiz zum Sondertarif von Militärgerichten.

Aber hat nicht der Terrorismus mit dem 11. September eine neue Qualität erreicht, so dass die bestehenden internationalen Normen und Konventionen womöglich nicht ausreichen? Wer auf diese Frage eine Antwort im rechtsstaatlichen Geiste sucht, muss auf die Fortentwicklung des Völkerrechts dringen. Gerade in dieser Hinsicht ist freilich die Kluft zwischen den USA und EU-Europa nach dem 11. September noch tiefer geworden. Die Fortentwicklung des internationalen Rechts zu globalen rechtsstaatlichen Strukturen ist für Washington nicht verhandlungsfähig.

Am deutlichsten wird dies in der Haltung der USA zum Projekt des Internationalen Strafgerichtshofs, des International Criminal Court. Dieses Projekt wollen die US-Regierung torpedieren, indem sie abhängige Länder bedrängt, den ICC-Vertrag nicht zu ratifizieren. Die USA wollen nicht, dass ihre militärische Übermacht durch völkerrechtliche Regeln eingeschränkt und durch eine internationale Gerichtsinstanz kontrolliert wird. Die Supermacht will unbelastet durch völkerrechtliche Bedenken agieren können. Wie im Fall der Pharmafabrik im Sudan, die 1998 von der US-Luftwaffe bombardiert wurde, weil sie für eine „Terrorzentrale“ von al-Qaida gehalten wurde. Den Irrtum hat man in Washington offiziell nie zugegeben, von einer Entschuldigung, einer Entschädigung gar, hat man nie etwas gehört.

Im US-Kongress liegt derzeit ein Gesetzentwurf, der den Einsatz aller Mittel (auch militärischer) legalisieren soll, die nötig sind, um US-Staatsbürger auch aus dem Gewahrsam des ICC zu befreien. Hier zeigt sich die unilaterale Denkweise Washingtons so punktgenau, dass die politische Sollbruchstelle zwischen Europa und den USA kenntlich wird. Umso wichtiger ist es aus europäischer Sicht, die Kräfte in den USA zu unterstützen, die gegenüber ihre politische Elite auf universalen Rechtsprinzipien bestehen.

Le Monde diplomatique vom 15.02.2002, von NIELS KADRITZKE