Die Sehnsucht nach dem Wunderbaren
AUCH Erwachsene brauchen Märchen. Die Faszination, die von irrealen Welten im Breitwandformat ausgeht, hat in den letzten Jahren nicht nachgelassen – sosehr sich auch der Publikumsgeschmack verändert haben mag. Fantasy und Mystizismus feiern im Kino Triumphe und schaffen ein kollektives, fast weltweites Gefüge von Bildern und Vorstellungswelten. Für die Zuschauer, so die These des Psychoanalytikers Serge Tisseron, bietet das Kino des Wunderbaren nicht nur Ablenkung von alltäglichen Schwierigkeiten, sondern auch einen Ausweg aus der Vereinzelung. Die Bilder der eigenen Fantasie, der Angst und der Träume verlieren ihren Bann und ihre Unheimlichkeit.
Von SERGE TISSERON *
Warum rennen alle Leute in „Harry Potter“, „Herr der Ringe“ und „Krieg der Sterne“? Warum ziehen Märchenwelten, die in den letzten zwanzig Jahren völlig aus der Mode gekommen schienen, derzeit ein so breites Publikum aller Altersstufen an? Zumal „Harry Potter“ und „Herr der Ringe“ bereits als Romane große Erfolge feierten. Wie also kann man sich diese Begeisterung unserer Zeitgenossen für das Märchenhafte erklären?
Offensichtlich sind die Menschen begierig darauf, und das nicht nur im Bereich der Bilder – auch wenn sich in der heutigen Gesellschaft – der Logik des Profits und der Zauberkräfte Hollywoods sei Dank – alles ums Bild dreht. Aber waren unsere Vorfahren so anders? Nicht das Bedürfnis nach dem Wunderbaren hat sich geändert, lediglich die Wege, die sich dieses Bedürfnis sucht, sind andere. Zwei Faktoren dürften dabei eine Rolle spielen: zum einen die langsame und konstante Entwicklung über die letzten hundert Jahre hinweg, zum anderen die plötzliche Veränderung im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 11. September.
Wenn ein Kind sich vor der Trennung von den Eltern fürchtet, greift es zu Geschichten, in denen ein Bärenkind seine Mutter verliert … und wiederfindet. Wenn es sich Sorgen macht, dass seinem kleinen Bruder oder seiner kleinen Schwester etwas zustoßen könnte, beruhigt es die Geschichte von dem Küken, das nach einem Unfall gesund gepflegt wird. Und wenn es sich fürchtet, wegen autoerotischer Handlungen imaginäre Strafen zu erleiden, gibt es da eine kleine Geschichte, in der eine dicke Eidechse ihren Schwanz verliert … und ihn zur allgemeinen Freude am Ende wiederfindet.
In diesen Geschichten ist alles, was ein Kind fürchtet – und gleichzeitig oft herbeisehnt – in eine ferne Welt verlegt, so dass seine Ängste zwar angesprochen, aber auch ausreichend abgewandelt werden und es sich ihnen „von der Seite her“ – sprich: ohne sich konfrontieren zu müssen – nähern kann. Für den Erwachsenen ist es nicht anders. Jedes fiktionale Schau-Spiel beruht auf der Inszenierung einer Welt, die gleichzeitig nahe ist und doch der realen Welt entrückt. So entsteht gleichzeitig die unentbehrliche Nähe zu den fesselnden Bildern auf der Leinwand und die nicht minder notwendige Distanz, die uns das Vergnügen erst ermöglicht. Wir können die Geschichten ja gerade deshalb genießen, weil wir gewiss sind, dass sich – zumindest für uns – die Dinge in Wirklichkeit anders abspielen. In diesem Spannungsfeld spielt die Unterscheidung zwischen dem, was als Wirklichkeit denkbar ist und was nicht, eine wichtige Rolle.
Die Attentate vom 11. September nun haben die Lage verändert. Solange die USA als unverwundbares Land galten, rannte die Bevölkerung dort in Katastrophenfilme, in denen Flugzeugentführungen und terroristische Angriffe auf das Pentagon vorgeführt wurden. Doch seit dem 11. September verbieten sich derartige Filme, weil sie nicht länger als außerwirkliche Fiktionen, sondern als Abbilder der Wirklichkeit wahrgenommen werden. Stattdessen entschieden sich die Zuschauer für „Die fabelhafte Welt der Amélie“ und deren Nirgendwo-Montmartre, für „Herr der Ringe“ und „Harry Potter“, Filme nach dem Rezept der Märchen: „Es war einmal in einem fernen Land zu einer fernen Zeit – da lebte …“
Doch diese Erklärung reicht nicht aus. Diese Filme zeigen ja nicht nur Ereignisse aus völlig imaginären Räumen und Zeiten, sie verzichten auch größtenteils auf jede realistische Darstellung von Gewalttaten und Ängsten, wie wir sie aus der heutigen Zeit kennen. Also: Nicht nur der äußere Rahmen, auch der Inhalt ist anders. Der 11. September steht jedoch für eine Krise spezieller Art: An jenem Tag haben die Amerikaner vielfältige Ängste, deren Gründe nicht immer klar definiert waren (etwa Arbeitslosigkeit, Armut oder Unsicherheit), eingetauscht gegen eine einzige konkrete Angst – und diese trägt die Züge Bin Ladens.
Das Verhältnis zu fiktiven Bildern ist bekanntlich verschieden, je nachdem ob ein Zuschauer durch sie einem Unbehagen entrinnt, das er kaum als solches wahrnimmt, oder aber ob er bestimmten Sorgen entkommen will, die er klar benennen kann und deren Ursprung er kennt. Wenn sein Unbehagen diffus und nur schwer zu benennen ist, sucht der Zuschauer nach Filmen oder Theaterstücken, die dem Unbehagen einen Inhalt geben können. Denn wenn etwas Undefinierbares schmerzliche Gefühle auslöst und man zudem nicht weiß, wie man diese beherrschen soll, sucht man Abhilfe, indem man sie zumindest für die Dauer des Stückes an klare Ursachen bindet. Wer sich also erniedrigt fühlt, ohne seine Situation benennen zu können, geht in Filme, in denen er sich entweder mit dem Opfer oder mit dem Täter identifizieren kann; und wer sich ungeliebt fühlt, ohne dass er weiß, warum, geht in Filme, in denen die Hauptperson in schwierige Gefühlslagen gerät, egal aus welchen Gründen; nur offensichtlich müssen sie sein.
Bilderkur und Alltagsnöte
DAS ist eine der Wirkungsweisen, wie fiktive Bilder unser alltägliches Unbehagen kurieren können. Sie ermöglichen uns, Angst, Wut oder Abscheu zu empfinden und diese Gefühle uns nahe Stehenden mitzuteilen – auch wenn wir diese Gefühle aus Gründen entwickeln, die mit denen unserer Wirklichkeit nichts zu tun haben. In den meisten Alltagssituationen hingegen, in denen wir diese Gefühle empfinden, können wir sie oft nur schwerlich erkennen und noch weniger jemandem mitteilen.
Wenn ein Zuschauer die Gründe seines Unbehagens und die möglichen Abhilfen erkannt hat – anders gesagt, wenn sein persönliches Unbehagen durch eine gesellschaftliche Haltung sanktioniert ist –, sucht er eher nach Stücken, die ihn zum Lachen, Weinen oder Sichfürchten bringen. So will er der aus einer realen, zur Genüge bekannten Lage geborenen Angst, dem Schrecken, der Abscheu entkommen. Hier geht es nicht mehr darum, das empfundene Unbehagen an einer bestimmten Ursache festzumachen, denn diese ist ja bekannt, sondern darum, das Gefühl vorübergehend zu vergessen. Und dabei wirkt das Wunderbare Wunder.
Vor dem 11. September empfanden viele Amerikaner Beunruhigung, ohne genau zu wissen, warum – wie es uns allen im Umgang mit alltäglichen Schwierigkeiten geht. Also versuchten sie weniger, der Beunruhigung zu entfliehen, als vielmehr, sie vorübergehend an irgendeinem konkreten Grund festzumachen, und sei es nur für die Dauer eines Films oder Stücks. Gewalttätige Spielfilme, über die man hinterher miteinander reden konnte, waren sehr gefragt. Seit dem 11. September sammelt sich alles Böse in der Gestalt Bin Ladens – und die Amerikaner suchen nach Bildern, die ihnen Ablenkung bieten.
Doch parallel zu diesem speziellen Phänomen gibt es (wie eingangs gesagt) ein anderes, untergründigeres, das zum Erfolg des Märchenhaften – und das wohl auf lange Sicht – beigetragen hat: Die Entdeckung des Unbewussten und dessen Vulgarisierung haben die Beziehungen zwischen individuellen Vorstellungen und der kollektiven Vorstellung erschüttert. Der Mensch ist – angefangen bei den allnächtlichen Traumbildern – tatsächlich erfüllt von Bildern. Ohne Vorstellung fühlt der Mensch sich leer, doch wenn er mit Bildern gefüttert ist, fürchtet er das Alleinsein. Vorstellung ist nur dann etwas Beruhigendes, wenn man die Gewissheit hat, dass man sie mit anderen teilt. Lange Zeit funktionierte das, indem die Produktion eigener Vorstellungen in den Kontext der großen Religionen eingebettet war. Die Priester hatten von jeher die Macht, Bilder aus dem Bewusstsein der Einzelnen in den vorgegebenen Rahmen zu überführen, und Ereignisse, die diesen Vorstellungen zugrunde lagen, als Zeichen der Götter zu deuten.
Im Katholizismus waren die Bilder der Einsamkeit und Verzweiflung untrennbar assoziiert mit den letzten Momenten von Jesus am Kreuz. Bilder vom Weltuntergang oder einer allgemeinen Katastrophe wurden unmittelbar mit denen von der Sintflut oder dem Jüngsten Gericht in Verbindung gebracht. Und die Träume von Leid und Schmerz waren verknüpft mit den Martyrien der großen Heiligen.
Noch deutlicher wird die Eingrenzung der individuellen Vorstellung durch die kollektive, wenn es um deren nächtliche Produkte geht. In fast allen Kulturen wurden Träume als eine (Glück oder Verderben verheißende) außermenschliche Eingebung verstanden: als Kommunikation mit den Toten, als Begegnung mit dem Jenseits oder als Prophezeiung. Diese Eingrenzung hatte somit gemeinhin zwei Aspekte: die Kontrolle über die Verbreitung von Bildern und die Kontrolle des Bewusstseins.
Seit Kaiser Konstantin beschäftigten sich alle Machthaber mit der Kontrolle der Verbreitung von Bildern. Aber diese Kontrolle war vor allem deshalb wirksam, weil es zahlreiche Prozeduren gab, mittels deren man jedes einzelne Bewusstsein auf seine Richtigkeit hin überprüfen konnte. Die durch die Zentralgewalt oktroyierten Darstellungen waren also traditionell nicht von dem Instrumentarium zu trennen, mit dem Bewusstseinsinhalte der Einzelnen an das Herrschaftsmodell angeglichen und mit dem diese Angleichung auch kontrolliert wurde: Kurz gesagt, ohne Priester, die die Vorstellungen jedes einzelnen Gläubigen auf dem rechten Weg hielten, wäre eine Kontrolle der Verbreitung von Bildern unmöglich gewesen. Spezialist dafür war die Inquisition, und lange Zeit ermöglichte das Ritual der Beichte den Priestern, die Produkte der individuellen Vorstellungen in den von den Mächten des Glaubens definierten Formen zu halten.
Heute gibt es diese Kontrolle nicht mehr. Und je weniger unsere Zeitgenossen von einer Übereinstimmung individueller und kollektiver Vorstellungen überzeugt sind, desto mehr suchen sie – aus einem Gefühl des Mangels heraus – nach Bildern, die eine universelle Vorstellung zeugen. Es geht um nichts Geringeres als die Gewissheit, Teil der Menschheit zu sein.
Schon im 19. Jahrhundert brachte das Schwinden religiöser Einflüsse „Traumdeutungen“ hervor, die die Traumproduktion des Einzelnen auf eine Art gemeinsames Reservoir zurückführten, in welchem sich jeder wiedererkennen oder verankern konnte. Die galoppierende Traumdeuterei der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war nichts anderes als ein Versuch, die religiöse Lesart von Träumen durch eine laizistische zu ersetzen. Auf die weitere Lockerung der religiösen Kontrolle über das Bewusstsein braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden.
Ein neues Phänomen entstand und trug dazu bei, individuellen Vorstellungswelten eine radikale Subjektivität zuzuweisen: die Psychoanalyse. Mit ihr sind erstmals in der Geschichte Tagträumereien, Nachtträume, Phantasmen und Fantasien als rein innerpsychisch generierte Bilder verstanden worden. Natürlich sind hier auch „soziale“ Kräfte am Werk, denn es geht schließlich um kulturelle Verbote, doch die daraus entstehenden Darstellungen sind äußerst persönlich, auf jeden Einzelnen bezogen. Im Unterschied zu C. G. Jung, der davon ausging, dass die Produkte der Vorstellung einem transkulturellen Schema folgten, konzedierte Freud zwar einige allen Menschen gemeinsame phantasmagorische Szenen, verteidigte jedoch zeitlebens die nicht reduzierbare Besonderheit jedes einzelnen psychischen Produkts.
Das Problem ist: Je individualisierter die Vorstellungswelt wurde, je mehr sie allein der Psyche des Individuums überantwortet wurde, desto mehr steigerte sich bei den Zeitgenossen die Angst, zwar nicht den Kopf, aber jenes Minimum an kollektiven Fixpunkten zu verlieren, die einen als Teil einer Gruppe ausweist. Die Zunahme der Borderline-Persönlichkeiten in den Achtzigerjahren hatte unter anderem damit zu tun. Anders als beim Neurotiker, der sich nicht vom Druck der sozialen Zwänge lösen kann, ist die Borderline-Persönlichkeit von diesen auf dramatische Weise befreit. Während Ersterer darunter leidet, dass er nie den Helm lüften kann, der ihn zu erdrücken droht, fürchtet Letzterer, dass seine Umgebung ihn wegen seiner Originalität fallen lässt.
Ja, die Psychoanalytiker haben die Priester ersetzt, doch was Foucault auch immer behaupten mag: Sie sind andere Priester. Selbst wenn die Texte, auf die der Analytiker zurückgreift, eher an ein Glaubens- denn an ein Wissenschaftsgebäude denken lassen und selbst wenn der Analytiker – wie der Priester – daran arbeitet, dem Einzelnen das Schuldgefühl zu nehmen, interessiert er sich doch mehr für die individuelle Ausprägung der Vorstellungen eines Menschen als dafür, wie diese in ein vorgefertigtes Modell einzupassen seien.
Das Problem liegt darin, dass heutztage jeder, der dem subjektiven Charakter seiner inneren Bilder ausgeliefert ist, mit einer Einsamkeit konfrontiert ist, die für unsere Vorfahren unvorstellbar war – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen. Den Wunsch, die Fäden der individuellen Vorstellung an eine große kollektive Vorstellungswelt zu knüpfen, äußert sich in heutiger Zeit in einer Tendenz zu Religionen, die die individuelle Vorstellungswelt zwingender eingrenzen, als es der christliche Glaube vermag. Das gleiche Bedürfnis treibt die Menschen auch in die wunderbaren Märchenfilme. Da das Instrumentarium der Bewusstseinskontrolle nicht mehr existiert, müssen unsere Zeitgenossen (mangels anderer Quellen) vorgeblich universelle Bilder suchen, um ihr eigene Vorstellung zu beleben.
Zum ersten Mal in der Geschichte hat nun ein Land – die USA – den Wunsch und die Möglichkeit, seine Bilder und Träume der ganzen Welt aufzunötigen. Doch die Filme besäßen nicht diese massenhafte Anziehungskraft (die ihnen ja erst das Geld und die Macht einbringt), wenn nicht ein großer Teil unserer Mitmenschen dies wollte: eintauchen in eine kollektive Vorstellungswelt, die so groß sein soll wie die ganze Welt.
dt. Marie Luise Knott
* Kinderpsychiater, Psychoanalytiker, Schriftsteller. Autor u. a. von „Die verbotene Tür. Familiengeheimnisse und wie man mit ihnen umgeht“, München (Kunstmann) 1998 und „Phänomen Scham“, München (Reinhardt) 2000.