15.03.2002

Aristoteles in Amerika

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Aristoteles in Amerika

UNTER dem Eindruck der Ereignisse vom 11. September plädiert die Chikagoer Philosophin Martha Nussbaum dafür, die nationale Selbstwahrnehmung neu zu reflektieren und mehr Mitgefühl zu entwickeln: mit den Angehörigen der Feuerwehrleute, mit dem Taxifahrer, der ein Sikh ist, ebenso wie mit all jenen, die in fernen Ländern unter den Kriegsfolgen leiden. Eine Erziehung zum Mitgefühl aber basiert darauf, Wissen über andere Länder und Kulturen so zu vermitteln, dass diese auch emotional zur Kenntnis genommen werden können. Es ist einer der ersten Texte, der sich differenziert mit den notwendigen Konsequenzen aus den Anschlägen beschäftigt.

Von MARTHA NUSSBAUM *

Nach dem 11. September hatten wir alle heftige Gefühle – Furcht, Wut, Trauer, Erstaunen. Und diese Gefühle galten unserem Land. Unsere Medien präsentieren die Katastrophe als eine Tragödie, die unserer Nation widerfahren ist, und dass wir es so sehen, ist wohl ganz natürlich. Das Gleiche gilt für den Krieg. Man nennt ihn „Amerikas neuen Krieg“, und im Zentrum aller Medienberichte steht die Frage, was die Ereignisse für uns und unser Land bedeuten. Wir halten sie für wichtig, weil sie uns betreffen. Weil es nicht einfach um das Leben von Menschen geht, sondern um das Leben von Amerikanern. Allerdings hat die Krise unseren Wahrnehmungshorizont in einer Hinsicht auch erweitert. Wir merken, dass wir Sympathie für Menschen empfinden, die uns vorher nie in den Sinn gekommen waren: für die New Yorker Feuerwehrleute, für den schwulen Rugbyspieler, der mit anderen Passagieren das vierte Flugzeug von seinem Ziel abgebracht hat; für Familien unterschiedlichster nationaler und ethnischer Herkunft, die ihre Angehörigen verloren haben. Zuweilen sehen wir unsere Nachbarn arabischer Abstammung mit neuer Aufmerksamkeit oder wir empfinden Mitgefühl für einen Taxifahrer, der Sikh ist und uns von Kunden erzählt, die ihm sagen, er solle gefälligst in „sein Land“ zurückgehen. Wo er doch als politischer Flüchtling in die USA gekommen ist, um der Verfolgung im Punjab zu entgehen. Manchmal überwindet unser Mitgefühl sogar die größte aller Mauern – die nationalen Grenzen. So hat der 11. September etwas bewirkt, was viele Feministen vorher erfolglos zu bewirken versucht hatten: Viele Menschen in den USA entwickelten Sympathie für die Frauen und Mädchen in Afghanistan.

Allzu oft bleiben unsere Vorstellungen allerdings auf die lokale Ebene beschränkt. Je verstörter wir sind, desto größer wird diese Neigung. Überschwemmungen, Erdbeben, Wirbelstürme oder Hungersnöte haben bisher die heile Welt der Amerikaner nicht zu erschüttern vermocht oder eine vergleichbare Welle des Mitgefühls ausgelöst. Auch auf das Elend, das unschuldigen Menschen im aktuellen Krieg wiederfährt, reagieren wir nur sporadisch.

Schlimmer noch: Das Gefühl, dass einzig das „wir“ zählt, droht ein imaginäres, dämonisiertes „sie“ hervorzubringen. […] Die Wut auf die Terroristen ist völlig angemessen, genauso wie der Wunsch, sie vor Gericht zu stellen. Aber es besteht immer die Gefahr, dass das Denken in den Kategorien von „wir“ und „sie“ umschlägt in einen Wunsch nach Demütigung „des Anderen“. Der Patriotismus kann leicht dazu verführen, Amerika unbedingt als großen Triumphator sehen zu wollen.

Das Gefühl des Mitleids ist wahrscheinlich Teil unseres genetischen Erbes. Doch das bedeutet nicht, dass das Mitgefühl gleich das Denken ausschaltet. Vor langer Zeit schon bemerkte Aristoteles, dass menschliches Mitgefühl in der Regel auf drei Erkenntnissen beruhe: erstens, dass einem anderen Menschen etwas wirklich Schlimmes widerfahren ist; zweitens, dass dieser nicht oder nicht vollständig für dieses schlimme Ereignis verantwortlich ist; und drittens, dass auch wir gegen derartiges Unglück nicht gefeit sind. Demnach ist Mitgefühl das psychologische Bindeglied zwischen unserem Eigeninteresse und dem realen Wohl und Wehe einer anderen Person. Mitgefühl ist folglich ein moralisch wertvolles Gefühl – wenn es richtig verstanden wird. Aber häufig gehen die Gedanken, die dieses Gefühl hervorrufen, in die Irre – und damit auch das Gefühl selbst. Dann nämlich, wenn es nicht gelingt, das Schicksal anderer Menschen über die Entfernung hinweg mit der eigenen aktuellen Situation und den eigenen Verwundbarkeiten in Beziehung zu setzen. (Rousseau etwa hat behauptet, Könige hätten kein Mitgefühl mit ihren Untertanen, da sie darauf setzten, nie als einfache Menschen den Schicksalsschlägen des Lebens unterworfen zu sein.) Manchmal kommt Mitgefühl auch deshalb nicht auf, weil wir gar nicht wahrnehmen, wie schlimm eine Situation ist – Hungersnöte etwa oder Krankheiten von Menschen, die uns fern sind.

Derartige Fehlwahrnehmungen sind wahrscheinlich bereits in der Art angelegt, wie sich Mitgefühl in unserer Kindheit und später im Erwachsenenalter herausbildet: Anfangs entwickeln wir intensive Bindungen nur an unsere engste Umgebung, und erst mit der Zeit lernen wir, Mitgefühl auch für Menschen jenseits unseres unmittelbaren Umkreises zu empfinden. Für viele US-Amerikaner endet das moralische Engagement an der Grenze des eigenen Staates.

Die meisten von uns sind mit der Überzeugung aufgewachsen, dass alle menschlichen Wesen gleichwertig seien. Das lehren jedenfalls die großen Religionen der Welt und auch die meisten weltlichen philosophischen Schulen. Aber unsere Gefühle glauben es nicht. Wir trauern um Menschen, die wir kennen, nicht aber um jene, die wir nicht kennen. Die meisten von uns haben starke Gefühle für Amerika, aber eben nicht für Indien, Russland oder Ruanda. An sich ist diese Beschränktheit unseres emotionalen Vermögens wahrscheinlich in Ordnung. Von Aristoteles stammt der folgende plausible Gedanke: Würde man die Bürger in Platons idealer Polis auffordern, sich um alle Bürger in gleicher Weise zu kümmern, dann würden sie sich tatsächlich um niemanden kümmern. Sein Argument lautete, dass Fürsorge gerade in kleinen Gruppen zu erlernen sei, weil hier die emotionalen Bindungen intensiver seien. Die Lektüre von Mark Aurel kann uns in dieser Auffassung nur bestärken. Denn aus dessen stoischem Vorhaben, seine Vorstellungswelt von ihrer intensiven erotischen Bindung an die Familie und die vertrauten Orte abzulösen, wird nach und nach ein einigermaßen schockierendes Konzept – nämlich das Verbot, sein Herz überhaupt noch der Welt zu öffnen. Mark Aurel kommt zu dem Schluss, dass es nur eine Weise gebe, sich völlig neutral zu verhalten: die nämlich, den Tod im Leben anzustreben, indem man alle Menschen nur wie eine ferne und schattenhafte „Prozession von Trugbildern“ wahrnimmt. Wenn unser Zusammenleben mit anderen auch Ideale beinhalten soll – wie das Ideal der Gerechtigkeit in einer Welt der Ungerechtigkeit, das Ideal der gegenseitigen Hilfe in einer Welt, in der viele nicht haben, was sie brauchen –, dann tun wir gut daran, zumindest im Verhältnis zu unseren Familien, Nachbarn und zu unserem Land solchen Idealen entsprechend zu leben.

Doch unsere Anteilnahme sollte nicht auf das unmittelbare Lebensumfeld beschränkt bleiben. Leider neigen die Amerikaner zu solcher emotionalen Verengung. Das gilt zwar in gewisser Weise für alle Menschen, aber die Macht und die territoriale Größe der USA haben dazu geführt, dass isolationistisches Denken hier seit langem besonders stark verwurzelt ist. Als (zumindest einige) andere Länder Mittel und Wege fanden, die Juden vor dem Holocaust zu retten, verhielten sich die USA auf sträfliche Weise passiv und unbeteiligt – vor allem gemessen an ihrem Machtpotenzial. Es brauchte erst den Angriff auf Pearl Harbor, damit wir unseren Verbündeten zu Hilfe kamen. Als in Ruanda der Völkermord stattfand, hinderten uns Selbstgenügsamkeit und das Gefühl der eigenen Unverwundbarkeit daran, uns in die Lage der Menschen dort hineinzuversetzen.

Ab und zu kommt uns die löbliche Erkenntnis, dass alle Völker miteinander verbunden sind. So verstehen wir zum Beispiel, dass wir gemeinsam mit Menschen aus allen Ländern die Terroristen besiegen und vor Gericht stellen müssen. Doch dann gibt es wieder Zeiten simplifizierender Slogans („Amerika schlägt zurück“), die den Eindruck erwecken, als müssten „wir“, die Guten, einen Kreuzzeug gegen „sie“, die Bösen, führen. Womit wir zum Beispiel ignorieren, dass Menschen in allen Ländern gute Gründe zur Bekämpfung des Terrorismus haben und dass es in diesem Kampf viele aktive Verbündete gibt.

Diese Vereinfachungen sind moralisch falsch, weil sie uns davon abhalten, die Auswirkung unserer Aktionen auf die unschuldige Zivilbevölkerung zur Kenntnis zu nehmen und die wichtigste aller Aufgaben zu erfüllen: die Aufgabe, humanitäre Hilfe zu leisten.

Simplifizierendes Denken ist zudem kontraproduktiv. Heute können wir – oder sollten wir zumindest – verstehen, was wir etwa in Pakistan versäumt haben: Hätten wir uns mehr Gedanken gemacht, wie man in diesem Land die Bildungseinrichtungen und die humanitäre Infrastruktur unterstützen kann (etwa durch die Finanzierung guter lokaler Nichtregierungsorganisationen), dann wären die jungen Menschen in diesem Land womöglich in einer besseren Umgebung aufgewachsen: in einem Klima der Achtung der religiösen Vielfalt, der Gleichberechtigung der Frauen und anderer Werte, die wir zu Recht hochhalten. Und sie wären nicht mangels anderer Bildungseinrichtungen auf Madrassen angewiesen. Unsere Politik in Südasien krankt seit vielen Jahren an einem enormen Defizit an Fantasie und Sympathie. Im Grunde haben wir die ganze Zeit nur in den Wertekategorien des Kalten Krieges gedacht und dabei das reale Leben der Menschen ignoriert, für die wir mit konkreten Projekten sehr viel hätten bewirken können. Ein Denken in derart primitiven Kategorien zeugt von moralischer Abstumpfung und ist in keinster Weise geeignet, das voranzubringen, was uns am Herzen liegt – in einer Welt, in der alle Menschen immer mehr voneinander abhängig sind.

Mitgefühl beginnt im lokalen Umfeld. Aber wenn wir unsere moralischen und unsere emotionalen Strukturen irgendwie stimmig machen wollen, müssen wir unsere starken Emotionen und die Fähigkeit, die Lage anderer Menschen nachzufühlen, in einer größeren Umgebung wirksam werden lassen. Wir müssen also Mittel und Wege finden, dieses Mitgefühl auf die Gesamtheit des menschlichen Lebens auszudehnen. Weil Mitgefühl auch mit Denken zu tun hat, kann es gelernt werden.

Wir stehen also vor zwei Möglichkeiten. Wir können die Katastrophe vom 11. September zum Anlass nehmen, unseren Horizont zu verkleinern, dem Rest der Welt zu misstrauen und Solidarität allein mit US-Amerikanern zu empfinden. Wir können den 11. September aber auch zum Anlass nehmen, unseren ethischen Horizont zu erweitern. Indem wir erkennen, wie verwundbar unser riesiges Land ist, können wir etwas über die Verwundbarkeit lernen, die allen Menschen gemeinsam ist. Wir können erfahren, was es für Menschen in fernen Regionen bedeutet, geliebte Angehörige durch eine Katastrophe zu verlieren, die sie nicht selbst verursacht haben – sei es durch eine Hungersnot, eine Überschwemmung oder durch „ethnische Säuberungen“.

Weil Menschen den Sinn des Lebens in räumlich begrenzten Bindungen finden, sollten wir von niemandem verlangen, seinen Patriotismus aufzugeben – so wie wir von niemandem erwarten können, seine Liebe zu den Eltern oder den Kindern aufzugeben. Aber wir fordern Eltern immer auf, Kinder anderer Menschen nicht zu erniedrigen und zu bedrohen, und wir setzen uns – jedenfalls manchmal – dafür ein, Schulen zu errichten, in denen sich die Fähigkeiten aller Kinder entfalten können, in denen alle lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und eine befriedigende Arbeit zu finden. Dasselbe sollte auch für unser Verhältnis zur Welt gelten: Auch wenn wir das eigene Land am meisten lieben, sollten wir eine Welt anstreben, in der niemand durch Hunger, Frauenfeindlichkeit oder fehlende Ausbildungschancen seiner Möglichkeiten beraubt wird – geschweige denn durch Krieg. Deshalb sollten wir uns stark machen für eine Erziehung, die unseren Kindern die Fähigkeit vermittelt, sich in die Lage anderer Menschen hineinzudenken. Unsere Kinder sollen lernen, dass diese Fähigkeit stets in die Fallstricke der Selbstbezogenheit zu geraten droht. In jüngster Zeit gibt es da Anlass zur Hoffnung, vor allem was die Unterrichtung der amerikanischen Öffentlichkeit über den Islam, die Geschichte Afghanistans und Pakistans sowie über die gesellschaftliche Lage und die Einstellungen von US-Amerikanern arabischer Abstammung betrifft. Aber diese pädagogischen Bemühungen müssen konsistent und systematisch werden, sie müssen mehr sein als eine lediglich von Angst motivierte Reaktion auf die unmittelbar bestehende Krise.

Unsere Medien und unser Erziehungswesen haben uns lange Zeit viel zu wenig Informationen über das Leben jenseits unserer Grenzen vermittelt. Damit haben sie unsere moralische Vorstellungskraft in ihrer Entwicklung behindert. Während die Lage der Frauen und der rassischen, ethnischen und sexuellen Minderheiten der USA in die Lehrpläne aufgenommen wurde, steht es um Informationen über ferne Regionen der Welt sehr viel schlechter. Das ist nicht überraschend, denn auf diesem Gebiet bedarf es erheblicher Investitionen in neue Curricula, und entsprechende Fernsehprogramme sind nur möglich, wenn man die Konkurrenz um die Einschaltquoten endlich einmal außer Acht lässt. Aber wir wissen heute zumindest, dass wir unwissend sind. Und das ist, wie schon Sokrates sagte, ein allererster Fortschritt.

aus dem Engl. von Niels Kadritzke

* Lehrt Philosophie an der University of Law School. Wichtige Veröffentlichungen: Gerechtigkeit oder das gute Leben, Suhrkamp-Taschenbuch (1999).

Le Monde diplomatique vom 15.03.2002, von MARTHA NUSSBAUM