15.03.2002

Drogen-Transitmarkt Iran

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Drogen-Transitmarkt Iran

DER Abend senkt sich über die zahllosen Lehmhütten des Ghettos Shir-Abad hinter den Landebahnen des Flughafens von Sahedan. Einige afghanische Flüchtlinge, zwischen 15 und 20 Jahre alt, haben sich am Hang eines Hügels um ein Kohlebecken versammelt. Auf der Feuerstelle kocht die Asche des Heroinjoints, den sie gerade geraucht haben. So finden noch die Überreste Verwertung – gespritzt. Aids hin oder her, die gebrauchten Spritzen wandern von einem mit Wunden übersäten Arm zum nächsten. Einer der Drogenabhängigen ist noch so klar, dass er die Kinder aus der Nachbarschaft verscheucht, die neugierig das merkwürdige Ritual der Erwachsenen beobachten. Offiziell existiert Shir-Abad nicht, es ist auf keinem Stadtplan verzeichnet.

Der Iran gehört zu den Ländern mit den weltweit meisten Heroin- und Opiumabhängigen. Nach UN-Angaben waren im Jahr 2000 2,8 Prozent der iranischen Bevölkerung heroin- oder opiumabhängig, in Laos waren es 2,1 Prozent, in Tadschikistan 2 Prozent und in Pakistan 1,7 Prozent. (Quelle: http://undep.org/). Nach amtlichen Angaben hat die Islamische Republik mit ihren 73 Millionen Einwohnern 1,2 Millionen Süchtige und 800 000 Gelegenheitskonsumenten. „Diese Zahlen aus dem Jahr 1999 unterschätzen das wahre Ausmaß bei weitem“, meint ein iranischer Journalist. „Das Thema Drogenabhängigkeit ist bei uns noch immer ein Tabu.“

Ein Beispiel: Mitte Januar verhaftete die Polizei im Teheraner Haft-e-Tir-Park ein Dutzend „Sittenstrolche, die Frauen belästigten“, so die offizielle Version des konservativen Staatsfernsehens; tatsächlich waren es Drogenabhängige und Dealer. Ein Gramm Opium kostet 20 000 Rial (3 Euro), eine Dosis Heroin 10 000 Rial. Damit hat sich der Straßenpreis seit letztem Sommer verdreifacht. Zu über 90 Prozent mit anderen Stoffen verschnitten, fordert Heroin immer wieder zahlreiche Todesopfer. Allein im Großraum Teheran starben vergangenen Herbst innerhalb von drei Monaten rund 90 Menschen an Vergiftung mit verunreinigtem Heroin.

In Persien wird seit Jahrhunderten Opium konsumiert – in Maßen, zur Entspannung oder in Verbindung mit Dichtung und Mystik. Bei den Luren in Kerman und Isfahan, bei den Kaschgai-Nomaden in Schiras und unter den Kurden und Aseris der Westprovinzen gehört die Opiumpfeife nach wie vor zum Alltag vor allem der älteren Menschen. Dass sich der Opiatkonsum nun aus einem kulturellen Phänomen zu einem sozialen Problem ausgewachsen hat, erklärt sich teils aus dem üppigen Angebot, teils aus der starken Nachfrage, die durch die wirtschaftliche und soziale Misere bedingt ist. 20 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos, 53 Prozent der Iraner leben unterhalb der Armutsgrenze. In den Städten findet sich ein besonders hoher Anteil von Drogenabhängigen unter den Mohajirs (Flüchtlinge) – Afghanen oder Iranern, die im Zuge des iranisch-irakischen Kriegs oder der Landflucht ihren Wohnort verlassen mussten. Sie leben am unteren Rand der Gesellschaft und sind aufgrund ihrer schwachen sozialen Einbindung besonders drogenanfällig. In den Provinzen Chorasan und Sistan-Balutschistan sowie in Kerman – den Regionen mit dem höchsten Rauschgiftkonsum –, ist in 70 Prozent aller Scheidungsfälle die Drogensucht des Ehepartners ausschlaggebend.

Ein weiterer Grund für den grassierenden Drogenmissbrauch ist nach Auskunft von Experten bei den Jugendlichen vor allem Langeweile. Die jüngeren Generationen – 70 Prozent der Iraner sind unter 35 Jahre alt – identifizieren sich eher mit westlichen und nationalen Werten als mit dem Islam. Da die religiösen Autoritäten die westliche Kultur aus dem iranischen Alltag verbannt haben, bleibt der Mehrheit nur die illegale Freizeitgestaltung. Popmusik wird aus den Nachbarländern hereingeschmuggelt oder aus dem Internet heruntergeladen, Videofilme kursieren unter der Hand, Konzerte und Feste werden heimlich organisiert, und Alkohol kommt auf Schleichwegen ins Land. Ein auch nur partieller Abbau des kulturellen Zwangsregimes, das die konservativen Kräfte, obwohl sie bei allen Wahlen seit 1997 an Stimmen verlieren, der iranischen Zivilgesellschaft verordnet haben, würde der Jugend etwas Luft zum Atmen geben.

Das erscheint vorerst jedoch als völlig illusorisch: Demnächst sollen auch die Internetcafés verboten werden, deren Erfolg in gewissen Kreisen für Beunruhigung sorgt. „Wer sich an die Gesellschaft nicht anpassen kann, nimmt Drogen, um Energie zu tanken und auf andere Gedanken zu kommen.“ Hossein Dezhakam weiß, wovon er spricht. Der Sozialarbeiter hat zwanzig Jahre lang „alle möglichen Drogen“ genommen. Heute ist er Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation Aftab („Sonne“) in Teheran und versucht, Drogenabhängigen bei der Entwöhnung zu helfen.

Jeden Tag kommen rund 50 Frauen und Männer im Alter zwischen 14 und 70 Jahren zur Gruppentherapie, um nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker ihre Erfahrungen auszutauschen. Obwohl im Januar 2002 in ganz Teheran nur drei Anti-Drogen-Plakate zu sehen waren, macht die Informationspolitik Fortschritte. Vor wenigen Jahren hieß es offiziell noch, das Drogenproblem sei mit dem Sturz des Schah-Regimes verschwunden.

Inzwischen haben die verantwortlichen Stellen den Bürokratenjargon aufgegeben und sprechen die Sprache der Straße. TV-Informationssendungen wenden sich an Jugendliche und Eltern und streichen die verheerenden gesundheitlichen Folgen des Heroin- und Opiumkonsums heraus. Mitte Januar genehmigte die Regierung die Ausgabe von sterilen Spritzen durch Apotheken, um die Übertragung ansteckender Krankheiten einzudämmen – eine Entscheidung, die bis vor kurzem undenkbar schien. Die Wiederwahl von Mohammed Chatami zum Staatspräsidenten im vorigen Jahr war ein Zeichen, dass die Bevölkerung eine Überprüfung der Schwächen der iranischen Gesellschaftsordnung wünscht. Dazu gehört auch, dass das bisher tabuisierte Drogenproblem langsam zur Kenntnis genommen wird.

C. G.

Le Monde diplomatique vom 15.03.2002, von C. G.