Die Glocken der Gerechtigkeit
Vierhundert Jahre liegen zwischen der Aktion eines Bauern aus der Umgebung von Florenz, der die Glocken läuten ließ, um den Tod der Gerechtigkeit zu verkünden, und dem Erstarken der Bewegung für eine andere Art der Globalisierung. Dennoch geht für José Saramago der Vorstoß in die gleiche Richtung: Das sagte der portugiesische Schriftsteller und Nobelpreisträger am 19. Januar 2002 anlässlich einer Versammlung von sechstausend Globalisierungsgegnern in Paris. Der Text dieser Rede wurde auch auf der Abschlussveranstaltung des Weltsozialforums in Porto Alegre am 5. Februar verlesen.
Von JOSÉ SARAMAGO *
ICH möchte Ihnen zunächst in wenigen Worten eine bedeutsame Episode aus dem ländlichen Leben erzählen, die sich vor vierhundert Jahren in einem Dorf nahe Florenz zugetragen hat. Ich bitte Sie um volle Aufmerksamkeit für dieses wichtige historische Ereignis; denn anders als sonst müssen Sie auf die Moral von der Geschichte nicht bis zum Schluss warten; sie wird Ihnen bald augenfällig werden.
Die Dorfbewohner waren zu Hause oder arbeiteten auf den Feldern, und jeder ging seinem Tagewerk nach, als plötzlich die Kirchenglocke zu läuten begann. In jenen frommen Zeiten (wir sprechen von einem Ereignis, das sich im 16. Jahrhundert zutrug) läuteten die Glocken mehrmals am Tage; es gab also keinen Grund, sich zu wundern. Doch die Glocke schlug ein trauriges Totenläuten an, und das war schon überraschend, denn niemand im Dorf hatte etwas von einem Todesfall gehört. So traten denn die Frauen auf die Straße, liefen die Kinder zusammen, verließen die Männer ihre Felder und Werkstätten, und nicht lange, da waren alle auf dem Kirchplatz versammelt und warteten darauf, zu erfahren, wen sie betrauern sollten. Die Glocke läutete noch einige Minuten und verstummte dann.
Wenig später öffnete sich die Kirchentür und auf der Schwelle erschien ein Bauer. Weil er nicht derjenige war, der sonst immer die Glocken läutete, fragten ihn die Dorfbewohner natürlich, wo der Glöckner stecke und wer denn gestorben sei: „Der Glöckner ist nicht da und ich habe die Glocke geläutet“, entgegnete der Bauer. „Dann ist also niemand gestorben?“, beharrten die Einwohner. „Niemand, der einen Namen und das Aussehen eines Menschen besitzt“, erwiderte der Bauer, „ich habe die Totenglocke für die Gerechtigkeit geläutet, denn die Gerechtigkeit ist tot.“
Was war geschehen? Der habgierige Landesherr –irgendein skrupelloser Graf oder Marquis – arbeitete seit langem daran, die Grenzmarkierungen seiner Ländereien zu seinen Gunsten zu verschieben, und dehnte sie dabei auch auf die Parzelle des Bauern aus, die bei jeder Verschiebung ein wenig kleiner wurde. Das Opfer hatte sich zunächst beschwert und gegen die Ungerechtigkeit protestiert, später um Erbarmen gefleht und zu guter Letzt beschlossen, bei der Obrigkeit Klage zu erheben und den Schutz der Gerechtigkeit zu fordern. All das blieb ohne Erfolg und die Einteignung dauerte fort.
In seiner Verzweiflung beschloss er endlich, urbi et orbi (das Dorf besitzt für den, der immer dort gelebt hat, die Ausmaße der Welt) den Tod der Gerechtigkeit zu verkünden.
Vielleicht hatte er erwartet, dass er mit seiner Geste exaltierter Verärgerung sämtliche Glocken des Universums, unabhängig von Volkszugehörigkeit, Sitte und Religion, in mitfühlende Schwingungen versetzen würde, so dass sie ohne Ausnahme an seinem Totenläuten für die Gerechtigkeit teilnähmen und nicht eher verstummten, als bis diese wieder auferstanden wäre: Ein Getöse, das sich von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt fortsetzen, das Grenzen überspringen und klingende Brücken über Flüsse und Meere schlagen würde, müsste die Welt doch aus ihrem Schlummer reißen …
Ich weiß nicht, was danach geschah, ich weiß nicht, ob der starke Arm des Volkes dem Bauern half, die Grenzsteine wieder an ihren Platz zu rücken, oder ob die Bewohner, nachdem sie die Nachricht vom Tod der Gerechtigkeit erreicht hatte, mit hängendem Kopf und der Seele auf halbmast zu ihrem tristen Alltag zurückkehrten. Bekanntlich verrät uns die Geschichte nicht immer alles …
Ich vermute, es war das erste und einzige Mal, dass irgendwo auf der Welt eine Glocke, ein träges Stück Bronze, das so oft für den Tod von Menschen geläutet hat, den Tod der Gerechtigkeit betrauerte. Die Totenglocke des Dorfs bei Florenz hörte man nie wieder, doch die Gerechtigkeit starb und stirbt weiter alle Tage. Selbst heute, in diesem Moment, da ich zu Ihnen spreche, geschieht es, dass jemand die Gerechtigkeit tötet, nah oder fern von hier, vor der Tür unseres Hauses. Jedes Mal wenn sie stirbt, ist es, als hätte sie für die, die auf sie vertrauten, nie existiert: als sei sie nie da gewesen für die, die erwartet haben, was wir alle billigerweise von der Rechtsprechung erwarten dürfen: Gerechtigkeit, einfach Gerechtigkeit.
Nicht die Gerechtigkeit, die sich in theatralische Roben hüllt und uns mit den Zierblüten hohler Gerichtsrhetorik umgarnt. Auch die nicht, die zugelassen hat, dass man ihr die Augen verbindet und die Gewichte an der Waage vertauscht; auch die nicht, deren Schwert mehr an dem einen Ende als an dem anderen abschneidet, sondern eine bescheidene Gerechtigkeit, eine Begleiterin des Menschen im Alltag, eine Gerechtigkeit, bei der „gerecht“ das genaue, das strikte Synonym von „ethisch“ wäre; eine Gerechtigkeit, die genauso unverzichtbar für das Glück des Geistes zu sein vermag, wie es die Nahrung für den Körper ist. Eine Gerechtigkeit, deren Ausübung in allen gesetzlichen Belangen natürlich den Gerichten obliegt, doch vor allem eine Gerechtigkeit, die der unmittelbare Ausdruck der handelnden Gesellschaft selbst wäre; eine Gerechtigkeit, in der sich, als unverzichtbarer moralischer Imperativ, die Achtung vor dem Recht auf Leben aller Menschen zeigt.
Glücklicherweise aber haben die Glocken nicht nur gläutet, um Tote zu betrauern. Sie läuteten auch, um die Stunden des Tages und der Nacht zu verkünden, um die Gläubigen zu einem Feiertag oder zur Andacht zu rufen; und in gar nicht so ferner Vergangenheit läuteten die Glocken Sturm, wenn vor Katastrophen, Überschwemmungen, Bränden, Unglücksfällen und anderen die Gemeinde bedrohenden Gefahren gewarnt werden sollte. Heute bleibt die soziale Funktion von Kirchenglocken auf rituelle Aufgaben beschränkt. Die erleuchtete Tat des Bauern aus dem Florentinischen hielte man heutzutage für das unsinnige Werk eines Verrückten oder, schlimmer noch, sie wäre ein Fall für die Polizei. Es sind jetzt andere, völlig andere Glocken, die darauf dringen, dass in dieser Welt eine Gerechtigkeit Platz findet, die dem Menschen Gefährtin ist, die die Voraussetzung ist für das Glück des Geistes und sogar, so verwunderlich uns das vorkommen mag, Nahrung für den Körper.
Gäbe es diese Gerechtigkeit, würde kein einziger Mensch an Hunger oder an einer der vielen Krankheiten sterben, die für die einen heilbar sind, für die anderen nicht. Gäbe es diese Gerechtigkeit, wäre für mehr als die Hälfte der Menschheit ihre Existenz nicht die furchtbare Strafe, wie sie es bisher war. Jene neuen Glocken, deren Widerhall sich immer lauter und immer weiter in der ganzen Welt verbreitet, sind die vielfältigen Bewegungen des Widerstands und der sozialen Mobilisierung, die sich stark machen für eine neue Gerechtigkeit der Umverteilung und der Veränderung, die alle Menschen als ihre wahre Gerechtigkeit erfahren können; eine Gerechtigkeit, die Recht und Freiheit schützt, nicht aber das, was ihr nach dem Leben trachtet.
Ich wiederhole mich, wenn ich sage, dass wir für diese Gerechtigkeit bereits ein leicht verständliches Regelwerk zur praktischen Anwendung besitzen, ein Regelwerk, das seit über fünfzig Jahren als Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vorliegt, als jene dreißig essenziellen Grundrechte, von denen nur noch vage die Rede ist, wenn sie nicht gleich systematisch totgeschwiegen werden. Sie werden in unseren Tagen häufiger missachtet und verletzt als vor vierhundert Jahren das Eigentum und die Freiheit des florentinischen Bauern. Ich habe auch gesagt, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in ihrer heutigen Form, ohne dass man an ihr auch nur ein Komma ändern müsste, in puncto Richtigkeit der Grundsätze und Transparenz der Ziele einen vorteilhaften Ersatz für die Programme sämtlicher politischer Parteien der Erde anzubieten hätte.
Ich denke insbesondere an Programme, wie man sie bei der so genannten Linken findet: erstarrt in überholten Formeln, untauglich oder unfähig, brutalen Realitäten der heutigen Welt etwas entgegenzusetzen, blind für die furchtbaren, nicht zu übersehenden Bedrohungen, die die Zukunft für jene geistige und körperliche Würde bereithält, die unserer Ansicht nach das höchste Ziel menschlichen Strebens ist. Und ich füge hinzu: Was für die politischen Parteien gilt, betrifft auch die Gewerkschaften aller Länder und, logischerweise, die internationale Gewerkschaftsbewegung insgesamt. Der gezähmte und bürokratisierte Syndikalismus oder was davon noch übrig ist, trägt, ob bewusst oder unbewusst, die Verantwortung für den sozialen Dämmerzustand, der den derzeitigen Prozess wirtschaftlicher Globalisierung begleitet. Ich sage das nicht gern, kann es aber auch nicht verschweigen. Wenn ich mich einmal des Fabelstils eines La Fontaine bedienen darf, würde ich sagen: Falls wir nicht rechtzeitig, das heißt sofort etwas unternehmen, wird die Katze der Globalisierung mit der Maus der Menschenrechte kurzen Prozess machen.
Und die Demokratie, diese jahrtausendealte Erfindung argloser Athener, für die dieses Wort im sozialen und politischen Kontext ihrer Zeit und gemäß der damals üblichen Ausdrucksweise eine Regierung des Volkes, für das Volk und durch das Volk bedeutete? Ich bekomme oft von Menschen, deren Überzeugungen über jeden Zweifel erhaben sind, sowie von anderen, die versuchen, so zu tun, als besäßen sie solche Überzeugungen, Folgendes zu hören: Zwar befinde sich der Großteil des Planeten zweifellos in einem katastrophalen Zustand, doch in einem allgemein demokratisch verfassten System stünden die Chancen, den Menschenrechten voll und ganz – oder wenigstens in ausreichendem Maße – Geltung zu verschaffen, immer noch am besten.
Nichts richtiger als das, vorausgesetzt, das Gesellschaftssystem, das wir gegenwärtig Demokratie nennen, wäre wirklich demokratisch. Was es nicht ist. Es stimmt, dass wir zur Wahl gehen können, dass wir als Wahlberechtigte unsere Souveränität – in der Regel über politische Parteien – delegieren und so über unsere Repräsentanten im Parlament entscheiden können. Und es stimmt auch, dass aus dem zahlenmäßigen Gewicht solcher Repräsentationen und aus den politischen Koalitionen, die für die erforderliche Mehrheit unerlässlich sind, immer eine Regierung hervorgeht. Das alles stimmt, aber es stimmt auch, dass die Möglichkeit demokratischen Handelns damit zugleich beginnt und endet.
Der Wähler mag eine ihm unliebsame Regierung abwählen und durch eine andere ersetzen können, aber niemals – das war so, das ist so und das wird immer so sein – hat seine Stimme irgendwelche sichtbaren Auswirkungen auf die einzige wirkliche Macht, die diese Welt, also auch sein Land und ihn selbst, beherrscht: Ich spreche natürlich von der Macht der Wirtschaft, insbesondere von jenem Bereich der Wirtschaft, deren ständiges Wachstum multinationale Konzerne durch Machtstrategien sichern, die sich nicht im Entferntesten mit jenem Gemeinwohl vertragen, dem die Demokratie nach eigener Definition zu dienen hat. Wir alle wissen, dass es so ist, und trotzdem reden wir weiter von Demokratie, als würde irgendein verbaler oder mentaler Automatismus uns daran hindern, die Dinge bei ihrem wirklichen Namen zu nennen. Reden von ihr wie von etwas, was existiert und funktioniert, obwohl uns von ihr nichts geblieben ist als ein Arsenal ritualisierter Prozeduren, harmlose Wortgefechte und Gesten wie in einer Art weltlichem Gottesdienst.
Und als hätten wir keine Augen im Kopf, bemerken wir nicht, dass unsere Regierungen, jene, die wir letzten Endes zum Besseren oder Schlechteren gewählt haben, für die also in erster Linie wir verantwortlich sind, Tag für Tag mehr zu den „Politkommissaren“ der Wirtschaft werden, deren eigentliche Aufgabe darin besteht, der Wirtschaft genehme Gesetze auszuarbeiten. Diese Gesetze werden dann, in öffentlichen oder privaten Werbekampagnen mundgerecht aufbereitet, auf dem sozialen Markt eingeführt, ohne dass sie allzu viel Protest ernten, außer bei gewissen ewig unzufriedenen Randgruppen …
Was tun? Von der Literatur bis zur Ökologie, von der Ausdehnung des Universums über den Treibhauseffekt und die Abfallbeseitigung bis hin zum Verkehrskollaps wird auf dieser Welt alles diskutiert. Nur das demokratische System steht nicht zur Debatte – als handle es sich dabei um etwas ein für alle Mal Feststehendes, etwas naturgemäß und bis ans Ende der Zeiten Unantastbares. Aber wenn ich mich nicht sehr irre, wenn ich noch eins und eins zusammenzählen kann, dann ist es allerhöchste Zeit, dass neben etlichen anderen notwendigen Diskussionen eine weltweite Debatte über die Demokratie und die Gründe für ihren Niedergang in Gang kommt; eine Debatte über die Beteiligung der Bürger am politischen und sozialen Leben; über das Verhältnis zwischen den Staaten einerseits und Wirtschaft und Finanzwelt andererseits; über das, was die Demokratie stärkt, und das, was sie tödlich bedroht; über das Recht auf ein Leben in Glück und Würde; über Elend und Hoffnung der Menschheit oder, um es weniger rhetorisch zu sagen: der Menschen, die die Menschheit ausmachen – einzeln oder in ihrer Gesamtheit. Den schlimmsten Fehler begeht, wer sich selbst betrügt. Und doch leben wir so.
Mehr habe ich nicht zu sagen. Oder doch, ein Wort noch, mit dem ich Sie um einen Augenblick der Stille bitten möchte. Der Bauer von Florenz ist gerade wieder auf den Glockenturm gestiegen. Gleich wird die Glocke läuten. Schenken wir ihr Gehör.
nach der frz. Übersetzung von René Gouédicübersetzt von Christian Hansen