12.04.2002

Die Pflicht des Stärkeren

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Die Pflicht des Stärkeren

Von AXEL KAHN *

ES war ein Sommerabend am Ölberg, 1974, bei meinem ersten Israelbesuch. Ein Fest für das Auge, wohin man den Blick auch wenden mochte. Zu den gewaltigen Schatten der Mauern, zur goldenen Kuppel des Felsendoms, hinüber zu den Hängen des Tales, das den Ölberg von Jerusalem trennt. Hier liegen zwei jahrtausendealte Friedhöfe, der eine jüdisch, der andere muslimisch. Ihr friedliches Gegenüber bezeugt die gemeinsame Geschichte des Ortes.

Gibt es für Juden und Araber, Israelis und Palästinenser, für die Gläubigen der drei großen monotheistischen Religionen, die hier ihren Ursprung haben, wirklich nur den Frieden der Toten? Die Geschichte sagt Nein. Von der römischen Herrschaft über die Zeit der Kreuzzüge bis ins 20. Jahrhundert war es der Westen, der Unheil in die Region brachte. Der Aufschwung des Zionismus wurde durch den wachsenden Antisemitismus und die Pogrome in Mitteleuropa und Russland gefördert und erst recht durch die unvorstellbaren Schrecken der Schoah. So versammelten sich auf dem winzigen Landstrich Palästina die Gemeinschaften der Überzähligen, der Opfer und Verlierer, verachtet, verstoßen, unterworfen und in ihrer Existenz bedroht: Juden aus aller Herren Länder und mittendrin die dort ansässigen Araber. Die hatten unter türkischer Herrschaft gelebt, danach unter der Mandatshoheit der Briten, die das Versprechen Lawrence von Arabiens verraten hatten. Von den arabischen Herrschern und Diktatoren wurden sie behandelt wie der letzte Dreck: bestenfalls verachtet, schlimmstenfalls benutzt als Kanonenfutter.

Seit es schriftliche Zeugnisse gibt, lehrt uns die Geschichte, wie einfach es ist, die Unglücklichen gegeneinander aufzuhetzen. So war es auch in Palästina: zwei Völker, oder zumindest zwei soziale Gemeinschaften, für ein Land – und zwar für ein besonderes Land, das beiden als heilig gilt. Folglich blieb es nicht beim Kampf um Territorien, um Anerkennung, Würde und die Tilgung der Schmach, sondern das Halluzinogen des Fanatismus entfaltete seine Wirkung. Alle Zutaten waren vorhanden, um im nahöstlichen Hexenkessel das bittere Gebräu aus Furcht, Enttäuschung und Hass, Plünderungen, Morden und Racheakten zum Kochen zu bringen.

Auf der einen Seite stehen die Überlebenden der Pogrome und der Vernichtungslager, legitimiert durch ihre Leiden, getrieben von der offenkundigen Tatsache, dass sie sich keine Niederlage gestatten können – bis sie selbst zu Unterdrückern geworden sind. Wenn es darum geht, zu siegen, ist es egal, wie und mit wem. Ob wie früher mit dem südafrikanischen Apartheidregime oder in der Allianz mit den britischen und französischen Kolonialtruppen beim Suez-Abenteuer 1956, später als Vorposten US-amerikanischer Interessen im Nahen Osten. Auf der anderen Seite steht ein Volk von Verzweifelten, das am Ende als Sündenbock für die Verbrechen des Westens an den Juden herhalten muss.

Genau betrachtet läuft alles nach einem festen Schema: Die Enttäuschung der Palästinenser über den blockierten Oslo-Prozess; die fortgesetzte Demütigung durch den Ausbau und Neubau der jüdischen Siedlungen auf palästinensischem Gebiet, der provokative Auftritt Scharons auf dem Tempelberg. Dann folgt die Intifada, die Repression, die Abriegelung der Autonomiegebiete mit Arbeitslosigkeit, Verelendung und unermesslicher Verzweiflung – ein fruchtbarer Boden für Fanatismus und Todeskult. Zwanzigjährige Palästinenser ohne Hoffnung auf eine irdische Zukunft, denen man den Heldentod und die Herrlichkeiten des Paradieses preist – wie sollten sie nicht empfänglich sein für den Ausweg, durch das eigene Opfer den Feind treffen zu können? Menschenbomben in Cafés und Diskotheken, junge Leute in Stücke gerissen, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Panzer, Bulldozer, Heckenschützen – ein kollektiver Wahnsinn.

So geht das seit mehr als fünfzig Jahren. Vielleicht werden wir so in weiteren fünfzig Jahren noch derselben Konfrontation von Gewissheiten und gegenseitigen Beschuldigungen ausgesetzt sein, demselben Teufelskreis aus Terror, Repressalien, Gegenschlägen und Racheakten.

Es sei denn, die einen und die anderen, die Tötenden und die Leidenden – oft sind es dieselben –, und die sie unterstützen und manipulieren – es sei denn, sie alle wären bereit, das Offensichtliche zuzugeben: Alle haben gelitten, alle haben Gründe, zu kämpfen, aber keiner kann siegen.

Was immer sich die extremsten islamistischen Gruppen vorstellen – die Juden werden nicht ins Meer getrieben und der Staat Israel wird nicht vernichtet werden. Einfach weil dies die westlichen Nationen aus den bekannten historischen und psychologischen Gründen niemals zulassen würden. Und sowenig es denen gefällt, die noch immer von „Großisrael“ träumen – es wird auf Dauer keinen jüdischen Staat vom Jordan bis zur Sinai-Halbinsel geben. Dagegen stehen demografische und juristische Faktoren und wiederum das schlechte Gewissen der westlichen Nationen – als das Gegenstück ihres proisraelischen Engagements.

Eines Tages, in zwei, zwanzig oder hundert Jahren, werden die in Palästina lebenden Völker beide ihren eigenen Staat haben. Nach zweitausend, zwanzigtausend oder hunderttausend Toten werden Juden und Araber, deren Verstorbene sich schon längst das kleine Tal zwischen Jerusalem und dem Ölberg teilen, auch Jerusalem zur Doppelhauptstadt machen müssen.

Der Westen – Europa wie die Vereinigten Staaten – hat an der Entstehung der israelisch-arabischen Gewaltspirale so viel Anteil, dass er sich nicht auf wohlmeinende Ratschläge beschränken darf. Solidarität und Verantwortung bestehen nicht allein darin, die Protagonisten vor dem Verschwinden zu schützen; es geht vielmehr um Wiedergutmachung, um Neuaufbau und auch darum, bei aller Überzeugungsarbeit, Lösungen wenn nötig aufzuzwingen.

Natürlich werden Misstrauen und Hass so rasch nicht verschwinden, aber für eine friedliche Koexistenz muss man sich nicht lieben. Es genügt die Einsicht, dass es keine andere Lösung gibt und dass man nie weiß, wie schlimm es noch kommen kann. Die Feindschaft zwischen den beiden Völkern ist so alt nicht. Einst konnten sie einander achten und zusammenleben. Der Frieden muss also jetzt geschlossen werden, denn mit jedem Tag steigt sein Preis, und alle, die dagegen mobilmachen, begehen Verrat an ihrem Volk. Damit ein Kind, das heute in dieser Region geboren wird, in eine Zukunft blicken kann, die mehr verheißt als Terror und Vergeltung, Opferkult und Tod, müssen die jüdischen Siedlungen geräumt werden, müssen dem Staat Israel sichere Grenzen garantiert sein. Aber ebenso ist klar, dass es einen lebensfähigen, anerkannten und geachteten ungeteilten palästinensischen Staat geben muss.

Wen wird die Nachwelt als große Gestalten in der Geschichte Israels und Palästinas würdigen: Rabin und Sadat oder Scharon und Scheich Jassin? Was wiegt mehr: die ungewisse Hoffnung oder das sichere Unglück? Kann das noch eine Frage sein?

dt. Edgar Peinelt

* Genforscher, Direktor des Institut Cochin, Mitglied der französischen Ethikkommision. Zuletzt veröffentlichte er „Et l‘homme dans tout ça?“, Paris (Nil éditions) 2000.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2002, von AXEL KAHN