Vom Dnjepr ins Gelobte Land
LIBERAL, kultiviert und tolerant – so stellt man sich die politische Kultur Israels vor. Doch spätestens beim Wahlsieg Scharons ist deutlich geworden, dass im Land der Verheißung inzwischen andere politische Strömungen dominieren. Das hat auch mit bestimmten Einwanderergruppen zu tun, wie den orthodoxen Juden aus den USA, die den Kern der Siedler in den besetzten Gebieten bilden. Als politischer Faktor vielleicht noch entscheidender sind die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie machen ein Sechstel der jüdischen Bevölkerung aus und sind für die Scharon-Regierung zu einer unentbehrlichen Stütze geworden.
Von JOHN KAMPFER *
Die Idylle ging mir auf den Nerv. Ich wohnte im Gästehaus Mishkenot Sha‘ananim, wo die von der Jerusalem Foundation eingeladenen Künstler und Musiker residieren. In diesem Haus, das auf dem Grundstück eines ehemaligen Armenhauses errichtet wurde, soll Saul Bellow seinen Roman „Nach Jerusalem und zurück“ begonnen haben. Jeden Abend kehrte ich in diese Oase weltoffener Kultur, im Herzen der geteiltesten Hauptstadt der Welt gelegen, zurück – nach Interviews mit Generälen der israelischen Armee oder nach einer brütend heißen Fahrt durch das Westjordanland, wo ich mit meinem Fernsehteam mutmaßliche palästinensische Selbstmordattentäter gefilmt hatte.
Mishkenot Sha‘ananim ist ganz so, wie man sich das Land Israel immer gern vorgestellt hat: liberal, kultiviert und tolerant gegenüber anderen Glaubensrichtungen. Eben so, wie Juden in der großstädtischen Diaspora, sagen wir in Hampstead oder auf der Upper West Side von Manhattan, ihr homeland gern schildern. Die jungen Männer und Frauen an der Rezeption waren kein gewöhnliches Empfangspersonal, sondern eher Musik- und Kunststudenten, die sich ein bisschen Geld dazuverdienten. Sie wollen, wie so viele ihrer Altersgenossen, weg aus Israel. In den letzten 18 Monaten sind diese jungen Leute nicht einem einzigen Palästinenser begegnet (außer denen, die sie während ihres Militärdienstes durchs Zielfernrohr gesehen haben).
Sie sind weder die Kinder des Holocaust noch die Generation der Staatsgründer, und ihre Wertvorstellungen unterscheiden sich nicht von denen irgendwelcher Zwanzigjährigen in London oder New York. Sie sind Juden, die auf ihr Volk und ihre Religion stolz sind, die aber für den Staat, der in ihrem Namen geschaffen wurde, keine große Hoffnung mehr sehen.
Israel blutet aus den Wunden des Idealismus. Die zweite Intifada – bei der schließlich täglich bis zu 40 Israelis und Palästinenser bei bewaffneten Auseinandersetzungen ihr Leben ließen – hat die Psyche des Landes verändert. Nur die Mutigsten oder Tollkühnsten besuchen noch eines der früher so belebten Restaurants oder Cafés. Jeder ist jedem verdächtig. Doch die Krise Israels ist älter als der Ausbruch der Feindseligkeiten mit den Al-Aksa-Brigaden, dem Islamischen Dschihad und der Hamas. Tatsächlich sind die Angst und die Feindschaft, die den Palästinensern entgegengebracht wird, der wahrscheinlich einzige Klebstoff, der das Land zusammenhält.
Israel befindet sich demografisch auf einer Straße ohne Wiederkehr. Aus Angst, von den Arabern innerhalb und den Palästinensern außerhalb ihrer Grenzen überwältigt zu werden, haben die Israelis ihre großzügige Einwanderungspolitik so weit auf die logische Spitze getrieben, dass alle hereindürfen, die sich als Juden bezeichnen. Inzwischen ist so ziemlich jeder willkommen, und je größer die Gefahr für das Land, desto weniger Fragen werden gestellt. Tagtäglich kann man auf dem Ben-Gurion-Flughafen eine Aeroflot- oder eine Transaero-Maschine sehen, die eine Ladung Immigranten aus den untersten Schichten der ehemaligen Sowjetunion abliefern. Zwar ist die Zahl der Einwanderer in den letzten Monaten nicht mehr so hoch wie in den ersten Jahren nach 1990, aber erstaunlich – angesichts der herrschenden Gewalt – ist, dass sie überhaupt noch kommen wollen.
Einige dieser Menschen bringen berufliche Fähigkeiten mit, sie sind Computerspezialisten, Ingenieure, Ärzte oder Videoproduzenten. Die meisten aber nicht. Sie sind – in Worten alteingesessener Israelis, mit denen ich gesprochen habe –„weißes Gesindel“. In Moskau, wo ich mehrere Jahre gelebt habe, machte man immer einen Unterschied zwischen Russen (oder Ukrainern, Armeniern, Georgiern usw.) und Sows. „Sows“ waren Leute, die am sowjetischen Lebensstil hingen und deren Versorgungsanspruch nur noch von ihrer provinziellen Ignoranz übertroffen wurde.
Viele der talentierteren Russen, die aus ihrem Land herauskommen wollten, fanden ihren Weg in die Vereinigten Staaten oder nach Westeuropa. Der Rest endete in Israel. Zu diesem Zweck mussten sie gemäß dem israelischen Rückkehrgesetz belegen, dass sie einen jüdischen Großelternteil haben. Entsprechende Papiere kann man sich in den meisten exsowjetischen Städten jederzeit gegen Geld beschaffen.
Eine Million Russen – die meisten von ihnen „Sows“ –, entschieden sich für die aliyah, die „Heimkehr“ nach Israel. Heute stellen sie ein Sechstel der Gesamtbevölkerung. Über Generationen geprägt durch die sowjetische Diktatur und entsprechend mental konditioniert, wissen diese Sows über Israel nur wenig und über die Araber überhaupt nichts. Während sie früher die „Schwarzen“ aus den mittelasiatischen oder transkaukasischen südlichen Sowjetrepubliken hassten, richten sie ihren Hass nunmehr auf die Palästinenser und auf die muslimischen Länder, die Israel umgeben. Mitgebracht haben sie auch jenes Prinzip, auf das sich die Nachkriegs-UdSSR gestützt hat: Macht geht vor Recht.
Die einzigen Sows, die regelmäßig Kontakt mit den Palästinensern pflegen, sind die organisierten Kriminellen, die so lukrativen Tätigkeiten nachgehen wie der Hehlerei mit gestohlenen Autos oder Waffenschmuggel ins Westjordanland und in den Gaza-Streifen. Die Waffen bekommen sie von israelischen Soldaten, die damit ihren Drogenkonsum finanzieren.
Die meisten der Neuankömmlinge sind alles andere als Idealisten, und sie geben zu, dass ihr Umzug nach Israel eine ökonomische Notwendigkeit war. Ein Mann, der aus der Stadt Dnjepropetrowsk in der östlichen Ukraine stammte, sagte mir einmal, er finde die Verhältnisse in seiner neuen Heimat deprimierend. Ich fragte ihn, ob er seine Emigration denn bereue. „Waren sie jemals am Dnjepr?“, fragte er zurück. Ich antwortete mit Ja und dass ich es selbst für sowjetische Verhältnisse schrecklich gefunden habe. Am Ende waren wir uns einig, dass er, wie schlimm auch immer die in Israel herrschende Gewalt sein mag, wohl doch die richtige Entscheidung getroffen hat.
Für die Sows ist Israel eine Heimat fern der Heimat. Sie haben ihre eigenen Fernsehprogramme – lokale wie aus Moskau gesendete – und ihre eigenen Zeitungen. Sie wohnen in den Betonkästen der gesichtslosen Schlafstädte, die die Landstraße zwischen Jerusalem und Tel Aviv säumen; in vielen Regionen Israels hört man Russisch weit häufiger als Hebräisch oder Englisch. Sie haben sich auch ein starkes soziales Netz geschaffen. Wie in der alten Heimat betreiben sie verschiedene Nebenjobs und wissen dabei, dass ihnen stets ein Minimaleinkommen sicher ist.
Es ist nicht die Religion, die sie antreibt. Die meisten Sows haben keine. Sie bilden mit anderen Gruppen der israelischen Gesellschaft eine zufällige und unheilige Allianz, die die politische Landschaft stark verändert hat.
Die Likud-Regierung von Ariel Scharon stützt sich auf sowjetische Einwanderer, sephardische Juden und Ultraorthodoxe (die einzige Bevölkerungsgruppe mit einer ebenso hohen Geburtenrate wie die der Palästinenser). Diese disparaten Gruppen haben nur eines gemeinsam: Sie sind Gegner jeder annehmbaren Lösung für die Palästinenser. Die Sows verachten die Sephardim (vor allem die aus Marokko, Äthiopien, dem Irak und dem Jemen); die orthodoxen Juden verachten alle anderen; und alle zusammen verachten die arabischen Israelis und die Palästinenser.
Diese Koalition hat Ariel Scharon seine Wahl zum Ministerpräsidenten gesichert – und er ist bei weitem nicht das extremste Mitglied seiner Regierung. Wirklichen Druck auf Scharon gibt es nur von Seiten derer, die einen noch härteren Kurs vertreten als er selbst. Wenn sie ihn stürzen können, werden sie mit ziemlicher Sicherheit Benjamin Netanjahu an seine Stelle setzen. Furchtbare Aussicht.
In der israelischen Arbeitspartei geht es derweil drunter und drüber. Zu allem Übel haben sich viele ihrer einst liberalen Anhänger dem politischen Lager der Haudegen angeschlossen – nach dem Motto „Erst schießen – dann fragen“. Die demografische Entwicklung ist gegen die Arbeitspartei. Die aschkenasischen Juden, die vor oder nach dem Holocaust aus Europa geflohen sind, stellen einen rapide kleiner werdenden Anteil der Wähler. Manche kehren Israel aus Verzweiflung oder Abscheu den Rücken; und bei denen, die bleiben, geht die Geburtenrate weiter zurück. Scharons Vorgänger Barak musste sich auf die arabische Minderheit stützen, um bei den Wahlen von 1999 den kaum wahrscheinlichen Sieg zu sichern. Diese Tatsache wird von der Arbeitspartei nicht gerade an die große Glocke gehängt.
Heute ist es kaum vorstellbar, wie die Arbeitspartei je wieder an die Macht kommen soll. Das Porträt Baraks hängt immer noch an der Wand des Tel Aviver Hauptquartiers der Armee, schließlich war er einmal Generalstabschef der israelischen Verteidigungsarmee Zahal. Aber für viele Generäle ist er heute nur noch Zielscheibe des Spotts.
Ein Vertreter der Armee machte mir gegenüber in einen Gespräch eine erstaunliche Bemerkung über den Mord an Jitzhak Rabin, dem einzigen israelischen Regierungschef, der den Mut hatte, sich gegen die Siedlerlobby zu stellen, die systematisch und über viele Jahre die Hoffnungen auf eine friedliche Konfliktlösung untergraben hat. Meinte dieser Offizier über Rabin: „Ihn umzubringen war eine schreckliche Sache. Aber man kann die Frustration verstehen, die einen dazu treiben konnte.“ Dieser Riss, der mitten durch das Herz der israelischen Gesellschaft geht, ist auch nachdenklicheren palästinensischen Politikern nicht verborgen geblieben. Marwan Barghouti, der Kopf der Fatah im Westjordanland, sagte mir einmal: „Wir hatten auch die Option, uns einfach ganz ruhig zu verhalten, gar nichts zu tun, nicht zu kämpfen und Israel sich einfach selbst zerstören zu lassen.“ Diese Bemerkung ist wohl eher ein Beispiel für Hybris denn für Strategie, aber sie verweist auf eine der Nebenwirkungen der Intifada: Sie gestattet es den Israelis, ihre internen Widersprüche zu übertünchen.
Sicherheit und Identität bilden seit je die Säulen der israelischen Psyche. Die Sicherheit Israels war nie garantiert, und jetzt ist die Identität ebenso gefährdet.
Die steile, gewundene Straße, auf der man in den Westen Jerusalems gelangt, führt am Andrej-Sacharow-Friedensgarten vorbei, einer schlichten, aber ergreifenden Gedenkstätte. Sacharow war ein ganz anderer Typ von Dissident, er war der Überzeugung, dass die Raison d‘être einer Nation nicht in ihrer Bevölkerungszahl oder in ihrer Macht liegt, sondern in ihren Idealen. Was würde er von dem Staat halten, der Israel heute ist – und von der Rolle, die seine ehemaligen Landsleute darin spielen?
aus dem Engl. von Niels Kadritzke
* Freier Journalist, Dokumentarfilmer bei der BBC.
Dieser Artikel wurde zuerst im New Statesman, London, veröffentlicht.