Sabotierter Friede
Von IGNACIO RAMONET
VOLLSTÄNDIGER Friede und Rückgabe aller besetzten Territorien: diesen Plan mit dem Vorteil großer Einfachheit unterbreitete im Februar dieses Jahres Prinz Abdallah von Saudi-Arabien und stellte ihn auf dem arabischen Gipfel von Beirut zur Diskussion: Israel zieht sich auf die Grenzen vom 4. Juni 1967 zurück, die Golanhöhen gehen wieder an Syrien, und im Gaza-Streifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem entsteht ein palästinensischer Staat. Als Gegenleistung nehmen die 22 Mitglieder der Arabischen Liga volle diplomatische Beziehungen zu Israel auf, normalisieren die Handelsbeziehungen und verpflichten sich, die Sicherheit der israelischen Grenzen zu garantieren. (Von den arabischen Staaten haben lediglich Ägypten und Jordanien einen Friedensvertrag mit Israel abgeschlossen.)
Vollständiger Rückzug gegen vollständigen Frieden: diese schlichte Gleichung stieß bei allen Regierungen auf lebhaftes Interesse. Dabei ist der Vorschlag so neu nicht: Das Prinzip „Land gegen Frieden“ ist bereits in den Resolutionen 242 und 338 des UN-Sicherheitsrats von 1967 und 1973 enthalten. Auf dieser Grundlage beruhte bereits die Konferenz von Madrid 1991 und das – inzwischen obsolet gewordene – Osloer Abkommen zwischen Israelis und Palästinensern. Die Verhandlungen von Camp David im Juli 2000, kurz vor Ausbruch der zweiten Intifada, gingen ebenso von diesem Prinzip aus wie die als „letzte Chance“ bezeichneten Gespräche in Taba vom Januar 2001.
Da die saudi-arabische Initiative also nichts wirklich Neues zu bieten hat, fragt man sich, weshalb sie solch große Hoffnungen geweckt hat. Weil sie zu einem Zeitpunkt vorgebracht wurde, als drei Dynamiken zum Stillstand gekommen zu sein schienen.
Die erste dieser Dynamiken ist die von General Scharon gewählte Gewaltstrategie, um die Palästinenser in die Knie zu zwingen und sie dazu zu bringen, im Namen eines religiös hergeleiteten Anspruchs auf ein „Großisrael“ die Endgültigkeit der Besiedlung eines Teils der besetzten Gebiete zu akzeptieren, die international als palästinensisches Territorium anerkannt sind. (Seit Februar 2001 sind im Zuge dieser Politik 34 neue Siedlungen gegründet worden.) Der unverhältnismäßige Einsatz von Kriegsschiffen, F-16-Jagdbombern, Kampfhubschraubern und Panzern gegen eine weitgehend waffenlose Bevölkerung hat nicht die von Scharon und seinem Generalstab gewünschte Wirkung gezeitigt.
Ganz im Gegenteil: Nie zuvor hatten die Israelis so hohe Verluste an Menschenleben zu beklagen, nie zuvor war die Unsicherheit im Land selbst so groß. Überdies haben die Verbrechen der Armee bei der Besetzung der Städte des Westjordanlandes dem internationalen Ansehen Israels sehr geschadet und sogar bei der israelischen Bevölkerung Widerwillen hervorgerufen. Die Menschenrechtsorganisation B‘Tselem erklärte schon am 12. März: „In allen Städten und Flüchtlingslagern, in die die Armee einmarschiert ist, haben die israelischen Soldaten hemmungslos geschossen und unschuldige Zivilisten getötet, sie haben absichtlich die Wasser-, Strom- und Telefonleitungen zerstört, sie haben Privathäuser gestürmt und zerstört, sie haben auf Krankenwagen geschossen und die medizinische Versorgung von Verletzten verhindert.“ In den Reihen der Armee finden immer mehr israelische Offiziere den Mut, Nein zu sagen zu diesem Vorgehen, Nein zu sagen zur Besetzung Palästinas. Laut der Jerusalemer Tageszeitung Ma‘ariv vom 15. März sprechen sich 60 Prozent der Israelis für einen Rückzug aus bestimmten besetzten Gebieten aus, 63 Prozent sind für die Schaffung eines palästinensischen Staats und 67 Prozent sind mit General Scharon nicht einverstanden.
DIE zweite Dynamik, die sich langsam zu erschöpfen schien, war der Widerstand der Palästinenser. Die Bevölkerung ist am Ende, auch wenn sie es nicht eingestehen mag. Sie hat schwere Schläge aushalten müssen, viele Führer bewaffneter Organisationen fielen den „gezielten Hinrichtungen“ der Israelis zum Opfer, und die Infrastruktur des entstehenden palästinensischen Staats liegt in Trümmern. Die Saat der Verzweiflung ging auf und brachte die verbrecherische Strategie der Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten hervor – zum Entsetzen der internationalen Gemeinschaft. Dem Unternehmen Scharons bringt sie Unterstützung unter den israelischen Bürgern. Die palästinensischen Führer, die immer noch auf die Karte des Terrorismus setzen, verkennen den demokratischen Charakter der israelischen Gesellschaft, die ihre Regierung frei wählen kann.
Je grausamer der Terror, desto stärker die Tendenz, Hardliner an die Staatsspitze zu wählen. Es ist daher an der Zeit, dass sich in der palästinensischen Gesellschaft eine starke gewaltfreie Bewegung entwickelt, die mit der Friedensbewegung Israels an einem Strang zieht. Alle Meinungsumfragen bestätigen es: Es gibt in beiden Völkern eine Mehrheit von Bürgern, die Frieden und Versöhnung wünschen.
Die dritte Dynamik, die am Ende zu sein schien, war die einseitige Parteinahme der USA für Israel. Vizepräsident Richard Cheney konnte sich auf seiner kürzlichen Rundreise durch die arabischen Staaten ein Bild davon machen, wie sehr die Haltung Washingtons auf radikale Kritik stößt und den Volkszorn in den arabischen Ländern erregt. Und dass das nötige Bündnis für einen Großangriff auf den Irak auf diese Weise wohl nicht zustande kommen kann.
Einmal mehr scheinen alle Voraussetzungen für ein Ende des Konflikts gegeben. Mit angehaltenem Atem hoffen die Völker in der Region auf ein Wunder. Doch im Dunkeln lauern die Saboteure des Friedens. Mit der groß angelegten Offensive gegen die palästinensische Autonomiebehörde und all ihre Institutionen als Antwort auf ein durch die Hamas verübtes Selbstmordattentat – wobei kein israelischer Angriff gegen die Hamas stattgefunden hatte – hat die Regierung Scharon mit Billigung der US-Amerikaner ihre Wahl getroffen: alle Friedenshoffnungen zu begraben, sein Land und Palästina in ein mörderisches Mahlwerk zu stürzen und die ganze Region an den Rand des Krieges zu bringen.